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10 Jahre Kanzlerin Angela Merkel
Lange unangreifbar, jetzt unter Druck

Vor zehn Jahren trat Angela Merkel als erste Frau das Amt der Kanzlerin an. Unter ihr wurde die Wehrpflicht abgeschafft, der Atomausstieg beschlossen, der Grexit vermieden. Ihr Regierungsstil wurde kontrovers diskutiert. Die einen reden von "Wegentscheiden", die anderen bewundern, dass sie ihr Ego im Griff hat. Und die Flüchtlingskrise könnte ein Wegmarker in ihrer Karriere sein.

    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird am 22.11.2005 im Deutschen Bundestag in Berlin durch Bundestagspräsident Norbert Lammert vereidigt
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird am 22.11.2005 im Deutschen Bundestag in Berlin durch Bundestagspräsident Norbert Lammert vereidigt (picture-alliance / dpa/Guido Bergmann)
    Glocke im Bundestag:
    Norbert Lammert, Bundestagspräsident:
    "Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 2: Eidesleistung der Bundeskanzlerin ..."
    Am 22. November 2005 wendet Bundestagspräsident Norbert Lammert das verfassungsmäßige Ritual ins Femininum. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wird nicht ein Bundeskanzler als Regierungschef vereidigt. Zum ersten Mal tritt eine Frau an die Spitze der Exekutive. Eine Ostdeutsche. Eine neu und spät in die Politik Gekommene.
    Lammert:
    "... Frau Bundeskanzlerin, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir zu kommen. Frau Bundeskanzlerin, ich möchte Sie bitten, den Eid zu leisten."
    Angela Merkel:
    "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden..."
    Heute, am zehnten Jahrestag ihres Amtsantritts, steht Merkel in der schwersten Bewährungsprobe ihre Kanzlerschaft. Noch im Sommer schien sie auf dem Zenit ihrer Macht und weltweiten Anerkennung zu stehen. Die Verlängerung ihrer Amtszeit nach der Bundestagswahl 2017 schien allein vor ihrer als sicher geltenden Entscheidung abzuhängen, noch einmal - zum vierten Mal - anzutreten und sich damit anzuschicken, so lange wie vor ihr allein Helmut Kohl zu regieren. In der SPD wurde bereits offen gefragt, ob es überhaupt lohne, in zwei Jahren einen Gegenkandidaten gegen Merkel aufzubieten. Innerhalb weniger Wochen aber verfiel der Nimbus der Unangreifbarkeit.
    Angela Merkel:
    "Wir schaffen, das. Da bin ich ganz davon überzeugt."
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht am Mittwoch (30.11.2005) in Berlin vor dem Deutschen Bundestag. Merkel hält ihre erste Regierungserklärung nach der Wahl zur Bundeskanzlerin. 
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hält ihre erste Regierungserklärung nach der Wahl zur Bundeskanzlerin am 30.11.2005. (picture-alliance / dpa/Peer Grimm )
    Aktuell spaltet Merkel die Union
    Mit ihrem optimistischen Kurs in der Flüchtlingskrise hat Merkel die Unionsparteien gespalten, tiefe Skepsis und offenes Misstrauen in den eigenen Reihen ausgelöst. Nie zuvor in ihrer Kanzlerschaft war so deutlich wie in diesen Tagen, wie groß die innere Distanz zwischen der Vorsitzenden und weiten Teilen der eigenen Partei von beiden Seiten aus nach wie vor ist. Allein der Erfolg und die Abhängigkeit der Union von der Popularität der Kanzlerin hatten diese Kluft bislang überdeckt. Jetzt bricht sie auf.
    Gerüchte, der Innen- und der Finanzminister hätten sich gegen die Kanzlerin verschworen, haben in Berlin die Runde gemacht. Während nahezu zeitgleich in Paris die Dschihadisten des IS zur mörderischen Tat schreiten, die noch einmal zu einer völligen Veränderung der Weltlage führt, muss sich Merkel im Fernsehen gegen den Verdacht wehren, die Zügel der Regierung seien ihr aus der Hand geglitten.
    Peter Frey:
    "Was nun, Frau Merkel? Hat eine Bundeskanzlerin, die zuerst die Grenzen öffnet und zwei Monate später nicht mehr weiß, wie viele Flüchtlinge eigentlich ins Land gekommen sind, die Lage noch im Griff? Oder hat sie schon die Kontrolle verloren?"
    Angela Merkel: "Die Bundeskanzlerin hat die Lage im Griff, auch die ganze Bundesregierung."
    Beteuert Merkel in der ZDF Sendung "Was nun?" und schlägt einen Ton an, den man lange nicht von ihr gehört hat.
    Angela Merkel: "Es geht darum, dass ich in der Tat kämpfe. Kämpfe, für den Weg, den ich mir vorstelle, für meinen Plan, den ich habe – und dafür mit aller Kraft einzustehen, ja! Und ich bin nicht die erste Bundeskanzlerin, die um etwas kämpfen musste."
    Das Bild des kämpfenden Kanzlers war mehr als 60 Jahre lang zutiefst männlich geprägt gewesen. Und gerade ihr Vorgänger hat es bis zur letzten Minute seiner Amtszeit mit einer Wucht belebt, die bis heute als Gegenentwurf zum politischen Stil und zur Persönlichkeit Angela Merkels nachwirkt. In einem furiosen Wahlkampffinale hatte Gerhard Schröder der Unionskandidatin Merkel im Herbst 2005 um ein Haar den sicher geglaubten Wahlsieg geraubt:
    Nikolaus Brender: "Frau Merkel kam als Letzte in das Studio. Sie hatte ein sehr zerknittertes Gesicht und war offensichtlich oder stand offensichtlich unter Schock."
    Erinnert sich der damalige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender an den Wahlabend am 18. September 2005. Statt des erwarteten Triumphes hatte Merkel mit 35,2 Prozent eines der drei schlechtesten Ergebnisse in der Geschichte ihrer Partei eingefahren. Gerade einmal ein Prozent trennten sie von der durch Schröders Agenda-Politik zerrissenen SPD. Als Merkel zur sogenannten Elefantenrunde ins Fernsehstudio ging, wurde in der CDU- Parteizentrale darüber spekuliert, ob und wie lange sie sich nach diesem desaströsen Ergebnis noch an der Spitze der Partei halten könne.
    Nikolaus Brender: "Sie ging an ihren Sessel, das war rechts neben mir, und nahm aus den Augenwinkeln heraus die anderen Debattenteilnehmer, also Schröder, Fischer, wahr, stolperte über den Absatz wieder runter, begrüßte die anderen und ging zurück. Und man hatte den Eindruck, dass sie völlig aus der Fassung war, dass sie nicht Herr, Frau ihrer Sinne wahr."
    ZDF Chefredakteur Brender und sein Co-Moderator Hartmann von der Tann sprechen als erstes den soeben abgewählten Kanzler an. Vor einem ungläubig staunenden Millionenpublikum wendet sich das Blatt an diesem Abend noch einmal.
    Schröders Hochmut rettet Merkel die Kanzlerschaft
    Gerhard Schröder: "Glauben sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage einginge, indem sie sagt, sie möchte Bundeskanzlerin werden? Ich meine, wir müssen die Kirche auch mal im Dorf lassen! Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen! Das ist eindeutig. Machen sie sich da gar nichts vor."
    V.l.n.r.: Bundesaußenminister Joschka Fischer (GER/Bündnis 90/Die Grünen), Bundeskanzler Gerhard Schröder (GER/SPD), Angela Merkel (GER/CDU-Parteivorsitzende) und Edmund Stoiber (GER/CSU/Ministerpräsident Bayern) während des ARD-Streitgesprächs
    Bundeskanzler Schröder (SPD) wird oft nachgesagt, dass er Merkel die Macht bei der "Elefantenrunde" gerettet hat. (imago/momentphoto/Robert Michael)

    Schröders Hochmut und ungebremster Machismus hätten Merkel an diesem Abend den Kopf gerettet, wird seitdem immer wieder behauptet. Im Adenauer-Haus hätten die schadenfrohen Bundesbrüder des Anden-Pakts – Roland Koch, Christian Wulff, Peter Müller und Friedrich Merz - die bereits gezückten Dolche wieder einpacken müssen, um sich öffentlich hinter ihrer rüpelhaft attackierten Vorsitzende zu scharen. Zumindest eines ist nach diesem denkwürdigen Auftritt klar: Es wird zu einem Stilwechsel in der Politik kommen. Ob aber die so ganz andere Art Angela Merkels zur regieren, zu kommunizieren und ihre Politik zu gestalten dem Land, der Demokratie und Europa gutgetan hat, ist auch nach zehn Jahren noch Stoff für Diskussionen, die zuweilen kontroverser sind, als der Streit über die politischen Entscheidungen ihrer mittlerweile drei Regierungen.
    Nikolaus Brender zieht bereits am Wahlabend aus seiner Beobachtung Merkels eine Konsequenz, die heute von neuer Aktualität ist:
    Brender: "Am Abend der Elefantenrunde habe ich für mich gesagt: Ich hoffe, dass diese Frau als Bundeskanzlerin keine Krise zu bewältigen hat, für die sie alleine verantwortlich sein musste, wo sie keine Helfer hatte."
    Eine Migrantin im Westen
    Angela Merkel hat zu diesem Zeitpunkt eine steile Karriere hinter sich. Nicht einmal ein Jahr nach dem Eintritt in die Sphäre des Politischen am Ende der friedlichen Revolution von 1989/1990 ist sie Bundesministerin im Kabinett Helmut Kohls, zehn Jahre später seine Nach-Nachfolgerin im Parteivorsitz.
    Karl Rudolf Korte:
    "Bei ihr kamen Besonderheiten des Lernens hinzu, weil sie eigentlich wie eine Migrantin im Westen auftauchte."
    Erinnert sich der Politikwissenschaftler Karl Rudolf Korte:
    Karl Rudolf Korte:
    "Und das, was sie dann mit eingebracht hat, kann man ja eben als freiheitspatriotisch bezeichnen. Dass, was sie am eigenen Körper erfahren hatte, was eine Zäsur im Leben bedeuten, kann viele Vorteile mit sich bringen, kann eben durchaus auch politische Karrieren fördern. Das war durchaus so nicht absehbar. Freiheit an sich ist eben ein Gewinn für sie, auch ganz persönlich."
    Angela Merkel:
    "Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen!"
    Sagt Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung am 30. November 2005.
    Merkel: Mein Prinzip ist nachdenken
    Doch nachdem sie sechs von den zehn Jahren ihrer Kanzlerschaft in Großen Koalitionen regiert hat, ist das Freiheitsmotiv überlagert. Stärker wirkt das Bild einer Politikerin, die vor allem die eigene Partei sozialdemokratisiert hat. Deutlicher als eine programmatische Orientierung zieht sich die Methode des Regierens als Kontinuität durch die Ära Merkel:
    Angela Merkel:
    "Mein Prinzip ist nicht basta, sondern mein Prinzip ist nachdenken, beraten und dann entscheiden. Ich glaube, da ist es auch an der Zeit, dass sich manch einer noch an den Führungsstil einer Frau, einer ostdeutschen Frau, gewöhnen muss. Das ist anders. Aber ich bin ganz fest überzeugt, dass wir zu Ergebnissen kommen werden."
    Bereits in ihren ersten Interviews und Ansprachen als Bundeskanzlerin distanziert sich Merkel von einer Politik der großen Visionen, kraftvollen Versprechen und raumgreifenden Reformen.
    Angela Merkel:
    "Unerreichbare Ziele setzen – das ist nicht unsere Art. Viele kleine Schritte gehen!"
    Angela Merkel hatte ursprünglich darauf gesetzt, mit einer ambitionierten und programmatisch begründeten Reformagenda ins Kanzleramt einziehen zu können. Doch der enttäuschende Wahlausgang 2005 wurde zu einer prägenden Erfahrung, glaubt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer:
    "Die Erkenntnis, dass diese scharfe Konturierung des Wahlkampfes ihr nicht die erhoffte und auch in den Umfragen schon vorausgesagte Mehrheit gebracht hat, hat sie dazu veranlasst, vorsichtiger zu werden. Sie hat den Leuten nicht mehr gesagt, was sie machen will, sondern sie hat gesagt, was sie von ihnen erwartet: Vertrauen in ihre Politik, in sie als Person, in ihre Leistungsfähigkeit und dann würden die Probleme auch schon gelöst werden. Wie sie die Probleme lösen wollte, das hat sie den Leuten nicht mehr erzählt."
    Neugebauers Kollege Karl Rudolf Korte beobachtet:
    "Sie beschreibt geradezu weltmeisterlich Wirklichkeiten auch in ihren Reden. Aber sie ist eine Debütantin geradezu, wenn es darum geht, Möglichkeiten zu beschreiben."
    Vom Atomausstieg bis zum Ende der Wehrpflicht
    In kleinen Schritten, immer dicht an der gerade gegebenen Realität, bewegen sich die Regierungen Angela Merkels durch ihre Zeit – und hinterlassen dann doch markante Spuren. Abschied von der Wehrpflicht, Atomausstieg, Liberalisierung der Familienpolitik, die Verteidigung der Euro-Stabilität. Schon vor der Flüchtlingsdebatte hat Merkel immer wieder auch jene Teile der eigenen Partei gegen sich aufgebracht, die mit Schrecken verfolgten, wie sich unter dem Vorsitz der Frau aus Ostdeutschland der angeblich konservative Wesenskern ihrer Partei auflöste.
    Hat sie sich in diesen Auseinandersetzungen und mit ihren Entscheidungen als führungsstarke Staatslenkerin erwiesen? Nikolaus Brender gehört zu denen, die in Merkel vor allem eine raffinierte Taktikerin des Machterhalts sehen. Der Bankencrash in New York, die unabweislichen Zwänge des demografischen Wandels, das Erdbeben in Japan und jetzt die Flüchtlingskrise – es seien immer die sich wandelnden Opportunitäten ihrer Zeit, an denen Merkel ihre Agenda geschickt ausrichtet habe:
    "Das heißt, sie hat Gelegenheiten genutzt. Sie hat sich nie in den Wind gestellt, um etwas durchzusetzen. Sie hat Gelegenheiten benutzt wie bei der Tour de France im Windschatten eines anderen herzufahren und in dem Augenblick, in dem es eines Antritts bedarf, hatte sie das dann geschafft."
    Bender: Merkel hat keine eindeutige Position
    Sagt der ehemalige ZDF Chefredakteur und wirft der Kanzler vor, mit ihrer Politik der behaupteten Alternativlosigkeiten den politischen Diskurs im Lande eingeschläfert zu haben.
    "Das ist für mich geschickteste Taktik. Hohen Respekt dafür! Aber es ist kein politisches Verhalten, das ich von einem Politiker erwarte. Von dem erwarte ich eine eindeutige Position, zumindest den Versuch, die eigene Position zu erklären; oder sie auch im öffentlichen Diskurs mit anderen zu finden."
    Korte: Wegentscheiden ist ihr Führungsstil
    Für den Wissenschaftler Korte ist Merkel indes zu einer politisch stilprägenden Figur in Zeiten der Krisen, dramatischer Veränderungsprozesse und verunsichernder Herausforderungen geworden:
    "Daher kommt auch ihre Art, erklärungsarm, pragmatisch vorzugehen. Und dieses auf Sicht fahren ist praktisch die landläufige Übersetzung dieses erklärungsarmen Pragmatismus. Sie weiß morgens nicht, was nachmittags zu entscheiden ist, gibt aber den Wählerinnen und Wählern das Gefühl, dass sie sich der Sache annimmt: Einarbeitet, lernt, sachkundig macht und dann versucht, etwas wegzuentscheiden. Aber das ist Risikomoderne pur. Und das hat sie idealtypisch zu ihrem Führungsstil gemacht."
    Aus einer ganz anderen Perspektive als der Journalist Brender und der Wissenschaftler Korte blickt Julia Schramm auf Angela Merkel. Als Publizistin feuerte die 30-jährige Berlinerin netzpolitische und urheberechtliche Debatten an. Jetzt schreibt sie ein Buch über Angela Merkel:
    "Und dann war ich auch selber in der Politik und war bei der Piratenpartei halt und bin da ziemlich grandios an gewissen politischen Mechanismen gescheitert. Und dann habe ich mich gefragt: Was macht sie eigentlich richtig?"
    Schramm: Merkel scheint to-do-Listen-Mädchen zu sein
    "50 Shades of Merkel" wird Schramms Buch heißen, das im nächsten Frühjahr erscheint. Es soll anekdotische Beobachtungen, feuilletonistische Reflexionen und historische Recherchen der jungen Autorin zusammenführen:
    "Ja, sie scheint so ein To-Do-Listen-Mädchen auch gewesen zu sein, auch während der Schulzeit. Also die, die dann das alles in die Hand nimmt und sagt ‚ok, wir machen jetzt ne Party und dann brauchen wir jetzt Gläser und dann brauchen wir Getränke und dann mache ich das jetzt' ".
    Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD)
    Der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD), Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) während der Finanzkrise 2008 (picture-alliance / dpa/ Wolfgang Kumm )
    Schramm findet das interessant, faszinierend – nicht immer nur sympathisch:
    "Im Endeffekt ist sie auch einfach nur 'ne Streberin, um es mal profan auszudrücken (lacht). Die Erfolg haben will, die gut sein will, die an der Spitze sein will, die Entscheidungen treffen will und das hat sie ja auch geschafft."
    Schramm: Merkel hat das eigene Ego im Griff
    Was für andere Beobachter mit einem klassischen Politikverständnis zum demokratietheoretischen Problem wird, wendet sich in Schramms Blick auf Merkel zu einem feministischen Role-Model:
    Merkel in der Flüchtlingskrise eine wertbezogene Ethikerin
    "Ja, also dieses sich-nicht-verstricken in irgendwelche Männerklüngel, was Merkel ja auch zur Vorsitzenden gemacht hat, Stichwort Spendenaffäre. Dieses ein bisschen vornehme zurückhalten. Und sehr konsensorientiert, sehr irgendwie auf Menschen auch zugehen. Sehr herzlich. Und auch das eigene Ego im Griff haben. Das würde ich schon als bei Merkel sehr perfektionierte Machtinstrumente bezeichnen, die eben auch einen weiblichen Ursprung haben oder die aus einer Auseinandersetzung mit sexistischen Strukturen entstehen. Und natürlich ist sie auch ein Gegenentwurf zum Beispiel für Schröder."
    Wer auch immer im zehnten Jahr von Merkels Kanzlerschaft an Biografien und Bilanzen ihrer Amtszeit arbeitet, muss sie jetzt noch einmal ergänzen, vielleicht sogar umschreiben. In der Flüchtlingskrise wird Angela Merkel noch einmal auf neue Weise sichtbar: Klar wie nie zuvor agiert sie als wertbezogene Ethikerin
    Angela Merkel:
    "Und ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen – dann ist das nicht mein Land."
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt sich am 10.09.2015 nach dem Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Berlin-Spandau für ein Selfie zusammen mit einem Flüchtling fotografieren.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch einer Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber (picture alliance / dpa / Bernd Von Jutrczenka)
    Gero Neugebauer:
    "Vielleicht hat sie geglaubt, sie könne mit dieser Flüchtlingspolitik dazu beitragen, dass die Rolle Deutschlands in Europa als ökonomische Großmacht nun ergänzt wird, durch ein Deutschland mit menschlichem Antlitz, was das dann kompensieren könnte."
    Mutmaßt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer. Ebenso gespannt wie die Öffentlichkeit beobachtet sein Kollege Korte die Konfrontation, auf die sich Merkel durch ihre Flüchtlingspolitik mit der eigenen Partei sowie der bayerischen Unionsschwester einlässt. In historischen Situationen gebe es typische Paradoxien, meint Korte: Gerade die Partei, die sich stets gegen bestimmte Entwicklungen gestemmt habe, könne zum erfolgreichen Akteur werden, wenn sie die Chance erhält, Bewegung in das Thema zu bringen und auch sich selbst damit an neue Realitäten anzupassen:
    Karl Rudolf Korte:
    "Insofern wäre das auch ein Parteiparadox, die Union zu versöhnen mit einer Einwanderungspolitik.- Auch eine unerwartete Wendung. Es könnte aber auch sein, dass genau dieser letzte Punkt überzogen ist, dass er ein Stück zu viel ist, dass die Partei ihr in diesem Punkt nicht mehr folgt."
    Und dann? Merkel stehe an einer Weggabelung ihrer Kanzlerschaft:
    Guérot: Parallelen zu Helmut Schmidts Kanzlerschaft
    Ulrike Guérot:
    "Wir können das identisch setzen mit Helmut Schmidt zum Beispiel, der über die Pershings den Staat gewonnen, aber die eigene Partei verloren hat. Dafür konstruktives Misstrauensvotum – er wurde abgewählt."
    Sagt Ulrike Guérot, Gründerin des Think Tanks European Democracy Lab, eine der profiliertesten Kennerinnen europapolitischer Entwicklungen in Deutschland. Die Gefahr des Scheiterns und die Möglichkeit des Aufstiegs in die Reihe der historischen Staatenlenker Europas liegen aus Sicht Guérots für Merkel jetzt ganz dicht beieinander:
    "Bei Angela Merkel, der in Eurokrise noch ganz viel vorgeworfen wurde, dass sie deutsche Interessen über Europa stellt – das war der ganze Tenor 'too little, too late' ‚die Deutschen führen Europa nicht' - kriegt jetzt in dieser Zeit 'the indispensable' vom "Economist" zugeschrieben. Sie ist die Einzige, die hier ist. Das finde ich schon sehr bemerkenswert, was da passiert."
    "The Economist" nennt Merkel die Unverzichtbare
    Die britische Wochenzeitschrift "Economist", bis vor Kurzem ebenfalls eine scharfe Kritikerin Merkels, bezeichnete die deutsche Kanzlerin in eine der letzten Ausgabe als "The indispensable" – die Unverzichtbare. Einer der Autoren der Eloge auf Merkel war der Berliner Bürochef des "Economist", Andreas Kluth:
    Andreas Kluth:
    "Wir fanden das auch nicht irrational, sondern einfach richtig. Und für uns ist da ein Kontrast zwischen eben Frau Merkels Werten und zum Beispiel Viktor Orban im Osten, aber auch im Westen und zum Teil auch David Cameron in unserem Großbritannien. Er ist übrigens ein gutes Beispiel, warum wir Frau Merkel für unverzichtbar halten."
    Gerade jetzt, wo sie in der Heimat so angefochten ist, wie nie, erklärt der "Economist" auch Merkels Mechanik des Regierens zum Vorbild für das krisengeschüttelte Europa:
    "Das heißt, in einer anderen Zeit, wo es vielleicht jetzt keine akute Krise gibt, sondern wo es darum geht, grundlegende Reformen und Visionen durchzusetzen, weiß ich nicht, ob sie genau so effektiv wäre. Aber, da es im Moment wirklich große Krisen gibt, ist ihre unprovozierende Art mit anderen und vor allem schwierigen Männern umzugehen, sehr hilfreich."
    Bundeskanzlerin Angela Merkel während der Rede von CSU-Chef Horst Seehofer auf dem Parteitag in München.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel befindet sich seit der Flüchtlingskrise innerhalb der Union in einer schwierigen Position. (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
    Guérot: Metamorphose von Parteipolitik zu Staatsmännin
    Ulrike Guérot spitzt den Blick auf Merkel aus europäischer Perspektive noch einmal weiter zu:
    "Am Ende ihrer 10-jährigen Kanzlerschaft steht sie jetzt da als die potenzielle Retterin Europas, als diejenige, die in der Griechenlandkrise den Grexit gegen Schäuble verhindert hat, als diejenige, die in der Flüchtlingskrise Mut beweist. Das heißt, im Grunde erleben wird doch gerade, die Mutation oder die Metamorphose von der Parteipolitik zu Staatsmännin."
    Beginnt gerade erst in diesen Tagen das Kapitel von Merkels Kanzlerschaft, das in den Geschichtsbüchern einmal Bestand haben wird? Oder markiert gerade das ungebrochene Ansehen auf der weltpolitischen Bühne jenen gefährlichen Punkt einer politischen Karriere, an dem die notwendige Bodenhaftung an der eigenen Machtbasis sich in eine fatale Abstoßungskraft verwandelt? Eines ist im Zeichen Flüchtlingskrise und des Anschlages von Paris deutlich geworden: Das Schicksalhafte, dass diesen Tagen und Wochen des Jahres 2015 anhaftet, verdichtet sich in der Person der deutschen Bundeskanzlerin. Zehn Jahre nach ihrem Amtsantritt ist Angela Merkel zu einer Symbolfigur an einer Wegescheide der europäischen Geschichte geworden.
    Bundeskanzlerin Merkel bei ihren 10 Neujahrsansprachen bisher
    Bundeskanzlerin Merkel bei ihren 10 Neujahrsansprachen bisher (picture-alliance / dpa)