Stefan Koldehoff: Ja, das ist er, und das ist er von sich aus, ohne dass man ihn darauf ansprechen musste, denn er ist sich natürlich der prekären Situation, in der er diese Ausstellung hier in St. Petersburg verantwortet, durchaus bewusst. Er hat gesagt, dass man durchaus vor einem Jahr überlegt hat, ob es eigentlich sinnvoll ist, in St. Petersburg eine freie Kunstausstellung zu kuratieren, und er hat die Frage für sich und damit auch für die Veranstaltung beantwortet, indem er gesagt hat, ja schon, da darf sich die Kunst nicht aus der Pflicht nehmen lassen. Er hat ganz offen davon gesprochen, dass hier Zustände herrschen, die er keinem Künstler wünscht. Er hat von Diskriminierung, er hat von Zensur gesprochen. Er hat aber auch gesagt, dass es Antworten von Künstlern auf diese Themen gibt und dass das die Gelegenheit ist, einem vor allen Dingen russischen Publikum – denn man rechnet nicht damit, dass viele Menschen von außerhalb Russlands tatsächlich extra nur für diese Ausstellung anreisen -, diesem Publikum also dann auch andere Inhalte zu präsentieren beziehungsweise Reaktionen darauf.
Schmitz: Politische Kunst, die die russische Politik kommentiert, ist ja auch auf der Manifesta zu sehen, etwa Porträts berühmter Künstler, die homosexuell waren, wie Oscar Wilde, Tschaikowski oder Jean Genet, eine Fotosammlung der Südafrikanerin Marlene Dumas. Gibt es auf dieser Manifesta deutliche politische Akzente?
Koldehoff: Ja, die gibt es in jedem Fall, und zwar sowohl direkt als auch indirekt. Wenn Sie zum Beispiel sehen, dass Erik van Lieshout eine Art Tunnel gebaut hat und in diesem Tunnel sich beschäftigt mit den Katzen, die früher mal in der Eremitage eingesetzt wurden, um die Ratten zu vertreiben, bis sie dann im Krieg als Nahrung für die Menschen auch dienen mussten, sowohl die Katzen als auch die Ratten, dann taucht da plötzlich eines dieser Katzenbilder auf mit dem kleinen Wort "Riot" unten drunter, und das setzt sich dann natürlich zusammen in "Pussy Riot". Wenn Sie sehen, dass Wolfgang Tillmans, der Fotograf, natürlich auch homosexuelle Themen – er ist selbst homosexuell – auf seinen Bildern zum Ausdruck bringt. Wenn Sie sehen, dass Boris Mikhailov seine Fotos vom Maidan-Platz in Kiew zeigt und da unter anderem eine bedrückende Fotoserie einer Frau zeigt, die am Fernseher verfolgen muss, wie 40 ihrer engen Freunde und Bekannten das Opfer von Scharfschützen werden, dann ist das ganz deutlich politische Kunst.
Kaspar Königs Hausgötter
Es gibt auch die andere. Es gibt auch die Hausgötter, die auf fast jeder Ausstellung von Kaspar König stattfinden: Bruce Norman, Maria Lasnig und Reneke Dykstra und Gerhard Richter und und und. Aber ich würde schon sagen, dass fast, ich würde fast sagen, zwei Drittel der Werke hier A auf den Ort – denn das ist ja immer das Bestreben der Manifesta, auf die jeweilige Stadt, in der sie stattfindet, zu reagieren – reagieren, aber eben auch auf die politische und auf die soziale Möglichkeit, die Kunst hat, bestimmte Themen zu benennen.
Schmitz: Wie sieht das Ganze denn in der Eremitage – reden wir von diesem Ausstellungsraum – aus, die ja ein barockes Kunstwerk für sich ist und vor allem alte Meister im Bestand hat?
Koldehoff: Ich muss sagen, dass mir der Teil, der in der Eremitage stattfindet, gar nicht so gut gefallen hat wie der im Hauptgebäude, in der ehemaligen Generalstabskaserne, die umgebaut worden ist zu einem wirklich ganz modernen Kunstzentrum. Hier gibt es Möglichkeiten, die bei den Ausstellungen, die Sie gerade angesprochen haben, der Biennale von Venedig oder der Documenta, in der Eremitage, da sind die Werke sozusagen in den Kanon eingeordnet. Da hängt plötzlich Gerhard Richters Akt, die Treppe hinuntersteigend, eine nackte Frau – auch das sicherlich eine Anspielung auf die Gesetzgebung hier in Russland -, zwischen zwei geschnitzten Barockaltären. Das wirkt ein bisschen beliebig und wie der Versuch, das Publikum, das für die herkömmliche Kunst, die alten Meister, die Impressionisten zu haben ist, das dann auch ein bisschen für die moderne Kunst zu begeistern. Michail Pjotrowskij, der Direktor, hat auf der Pressekonferenz gesagt, die Eremitage sei immer schon auch das Museum für die Gegenwartskunst gewesen. 1919 hätte dort beispielsweise Malevich ausstellen können, der damals ein unmittelbarer Gegenwartskünstler war. Für mich klingt das aber so ein bisschen danach, dass er seinen Zuständigkeitsbereich ausweiten möchte. Es gibt einen Masterplan Eremitage: Dieses Generalstabsgebäude, von dem ich sprach, soll nach der Manifesta der Eremitage zugeschlagen werden und für die zeitgenössische Kunst zuständig sein. Da ist, glaube ich, schon auch ein bisschen Kalkül mit im Spiel.
Schmitz: Ein Schlusswort noch, Herr Koldehoff. Welchen ersten Gesamteindruck haben Sie von dieser zehnten Manifesta?
"Nicht mit erhobenem Zeigefinger, aber doch mit klaren Aussagen"
Koldehoff: Ich bin sehr positiv überrascht. Nicht nur ich, auch viele Kollegen hatten einen merkwürdigen Eiertanz erwartet: Wie kann man mit den politischen Gegebenheiten umgehen, über die wir gesprochen haben, ohne den Kopf in den Sand zu stecken? Wie kann man Zensur, Diskriminierung bestimmter Gruppen, Nationalismus, sicherlich auch den Krieg in der Ukraine ansprechen? Das ist gelungen und das ist gelungen im Rahmen der Möglichkeiten, die die Kunst hat: nicht mit erhobenem Zeigefinger, auch nicht mit Forderungen verbunden, aber doch mit klaren Aussagen, hier finden Dinge statt, die man eigentlich den allgemeinen Menschenrechten folgend nicht gut finden kann.
Schmitz: Stefan Koldehoff von der zehnten Manifesta in St. Petersburg. Bis Ende Oktober ist sie noch zu sehen.
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