"Was hat sich die Weimarer Gesellschaft das Maul zerrissen, als Goethe, der große Goethe, ein Techtelmechtel mit der Vulpius, einem Blumenmädchen, begann: „Da hieß es, ich wäre ein Geschöpf aus der Gosse, eine Hure. Ich käme aus einer Pöbel-Familie!“
Diese Christiane Vulpius, längst Frau Geheimrat Goethe, holt jetzt aus, zu einem Monolog voller spitzer Pfeile und Wahrheiten, die von den verlogenen Weimarer Bürgern keiner je sich auszusprechen getraute. Jetzt redet sie – allein, im Vorzimmer der verwitweten Oberstallmeisterin Charlotte von Stein, Goethes einstiger Seelenfreundin.
„Er hat mir vorgelesen, was er geschrieben hat. Nicht nur Ihnen, Madame! Ich habe zugehört und genickt und gelacht und geheult, wenn’s traurig war. Und wenn’s langweilig war, bin ich eingeschlafen. Ich war wie's Publikum, und Sie – waren seine Kritikerin. Aber zu Haus‘ will einer nicht kritisiert werden. Da will er gelobt und bewundert sein. Und geendet hat’s meistens mit unserem Schlampamp-Stündchen. Sie wissen nicht, was das ist? Hat‘s das mit dem Herrn Oberstallmeister nicht gegeben?“
Warum der Feminismus mit Brückner fremdelte
Christiane hat diese Worte – leider – nie gesprochen. Sie stammen aus dem Jahr 1983 – und der Feder Christine Brückners. „Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen“ nannte die Schriftstellerin ihre fiktiven Monologe von Frauen aus Mythologie, Literatur und Geschichte, von Klytämnestra über Fontanes Effi Briest bis zu RAF-Mitglied Gudrun Ensslin. Ein breites Echo in der Emanzipationsbewegung fand die Autorin allerdings nie. Denn, so der Germanist Friedrich Block:
„Der politisch linksorientierte Feminismus konnte sich mit den Frauenbildern, die Christine Brückner literarisch gestaltet hat, nicht identifizieren.“ - „Das betrifft weniger die Frauen der ‚Ungehaltenen Reden‘, als mehr noch ihre Romanfiguren, etwa die der Maximiliane von Quandts in den Poenichen-Romanen.“
Millionen-Leserschaft mit der "Poenichen-Trilogie"
"Jauche und Levkojen heißt der erste Band einer Trilogie um die 1945 aus Poenichen in Hinterpommern vertriebene Gutsherrin, die Brückner mit ihrer Familie durch die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ziehen lässt. Die Bücher fanden ein Millionenpublikum, heute wirken sie vielleicht etwas verstaubt. Friedrich Block allerdings widerspricht.
„Die Maximiliane hat natürlich ein ganz bestimmtes weibliches Profil, sie ist sehr bodenständig, sie ist unpolitisch. Das kann man kritisieren, aber es gibt ja andere Figuren in dem Roman, die sehr politisch sind. Diese zentrale Figur steht eben mitten im Leben und meistert das Leben, das ja für sie auch alles andere als leicht ist, und das ist etwas, was Christine Brückner anbieten wollte.“
"Sie tun alle zu wenig, dass das Leben gelingt“
Christine Brückner sagte, sie habe "die ganze Welt ein bisschen lebendiger machen" wollen. "Weil ich immer denke, sie schlafen ja alle ein. Meine Mutter hat mich so gut erzogen, sonst würde ich sagen, sie sitzen auf Ihrem Hintern und erwarten, dass ihnen alles geboten wird. Per Bildschirm oder per Zeitung oder per Selbstbedienung. Sie tun alle zu wenig. Dass das Leben gelingt.“
Sie stammte nicht aus Pommern. Geboren wurde die Pfarrerstochter Christine Brückner, die dem christlichen Glauben ihr Leben lang verbunden blieb, am 10. Dezember 1921 bei Bad Arolsen, heute Hessen. Aber, so Friedrich Block:
"Es gibt schon so etwas wie eine Vertreibungsgeschichte, durchaus, denn der Vater trat der Bekennenden Kirche bei und stellte sich damit also gegen den braunen Mainstream, und die Familie wurde aus dem Dorf vertrieben oder geekelt und ist dann nach kurzer Zeit von dort nach Kassel gezogen.“
Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“
Das kulturelle Leben der Stadt Kassel hat Christine Brückner, die 1996 starb, nachhaltig geprägt. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Dichter und Maler Otto Heinrich Kühner, gründete sie eine Stiftung, die seit 1985, im Verbund mit der Stadt jährlich den "Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor" vergibt. In diesem Jahr hat die Stiftung einen Aufruf gestartet. Die Resonanz war enorm, sagt Stiftungskurator Friedrich Block: "Wir haben von 119 Frauen Reden eingesandt bekommen. Zwischen 14 und 80. Zwischen Wien und Hamburg.“ Zum 100. Geburtstag Christine Brückners werden die besten Texte veröffentlicht, neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen.
Projekt "Ungehalten" - Was bringt Frauen dazu, ihre Stimme zu erheben?