"Ich habe einmal nach dem Zweiten Weltkrieg gesagt, dass diese sechs Jahre meine glücklichste Zeit waren. Und sie waren es. Es sind zwar alle meine Angehörigen umgebracht worden, also die liebsten, die Bomben sind geflogen – zufällig nicht auf uns, aber in die Häuser, in denen wir gewohnt haben –, aber ich dachte damals: Jetzt ist es ganz genauso, wie ich’s mir immer vorgestellt hab. Jetzt machen sie einem nichts mehr vor."
Ein fundamentales "Welt-Misstrauen"
Der Holocaust, der Krieg und der lange Zeit notorischen Antisemitismus' in ihrer Geburtsstadt Wien – das waren die prägenden Erfahrungen in der Biografie Ilse Aichingers. Sie haben der Schriftstellerin so etwas wie ein fundamentales "Welt-Misstrauen" eingepflanzt. Zwischen 1938 und 1945, als Mädchen und als junge Frau, schwebte Aichinger, Tochter einer jüdischen Ärztin und eines Lehrers, wie ihre Mutter in permanenter Lebensgefahr.
Später hat die sprachsensible Autorin in ihren Gedichten und berührenden Prosatexten, vor allem aber auch in ihrem berühmten Roman "Die größere Hoffnung", erschienen 1948, von den Qualen und Bedrängungen der Nazizeit berichtet. Zu ihrem Geburtsland Österreich hatte Ilse Aichinger zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis:
"Mir fällt es immer schwerer, überhaupt einen Ort zu finden, von dem ich mir vorstellen kann, dass es meine Heimat ist. Mir kommt jeder Ort wie ein Ausgangspunkt vor, wie etwas, das man eigentlich schließlich doch verlässt."
"Orte: Punkte, von denen man weggeht. Ausgeht? Weggeht oder ausgeht?" – "Ein Ort, von dem man weggeht." – "Ich kann mir eigentlich keinen Ort auf der Welt vorstellen, wo ich sagen würde: Da bin ich wirklich zuhaus."
Aichinger / Eich – das Traumpaar der "Gruppe 47"
Ilse Aichinger, am 1. November 1921 in Wien geboren, trat Anfang der 1950er-Jahre in der "Gruppe 47" auf. Ein Erfolg. Mit ihrer "Spiegelgeschichte" gewinnt sie den Preis der Gruppe. Sie freundet sich mit Heinrich Böll und anderen Heroen der bundesdeutschen Nachkriegs-Moderne an. In der "Gruppe 47" lernt sie auch ihren späteren Mann kennen, den Schriftsteller Günter Eich. Die Ehe sei bis zu Eichs Tod 1972 harmonisch verlaufen, erinnerte sich die Autorin später.
"Es war für mich und für ihn doch eine Freude, dass der, mit dem man sich zu leben entschlossen hat, weiß, was schreiben heißt. – Dass er die Sprache sucht. Er hat mir oft von Büchern gesagt: Lies das nicht weiter, das hat keine Sprache. Damit hat er gemeint: Es hat kein Schweigen in sich."
Wider den Wortmüll der Alltagswelt
Das Schweigen spielt auch im Werk Ilse Aichingers eine bedeutende Rolle. Sie hat eine eigene "Poetik des Schweigens" entwickelt. Jeder Satz, so formulierte sie, müsse durch ungeheuer viele ungeschriebene Sätze gedeckt sein. Man müsse dem Wortschwall der Alltagswelt, dem achtlos dahingeschluderten Wortmüll, eine Besinnung auf das Ungesagte und Wahrhaftige entgegenstellen. In der Dichtung, so Ilse Aichinger, gelte es, das Schweigen zugleich zu brechen und zu bewahren.
"Kohlenwagen oder Totenwagen? Eingeladen oder ausgeladen? Und dazwischen über den verschneiten Weg getragen werden, über dem die Zweige stillstehen und auf dem die Eichhörnchen springen. Und niemanden merken lassen, dass man lebt, dass man lebt. Wo schlafen die Vögel?"
"Die Worte, so Aichinger, seien das Einzige, wodurch sie sich eine Realität erschaffe: "Wodurch ich spür, dass eine Realität gegeben wird. Eine, die nicht mehr vom Haben und vom Halten abhängig ist, sondern die auf einem ganz bestimmten Grat zwischen Stehen und Schweben ein Grat ist."
Aichingers Präzision der Vieldeutigkeit
Der schmale Grat von Stehen und Schweben: Es gibt im Werk Ilse Aichingers keine fahrlässigen Sätze. Genauigkeit war – bei aller poetischen Vieldeutigkeit – eine der Tugenden dieser Autorin.
Die Schriftstellerin Ilse Aichinger – zeitlebens Pazifistin – hat gewusst, dass das Wort, erst recht das dichterische, gegen Marschtritte und gebellte Deportationsbefehle nichts auszurichten vermag. Ihr Werk kündet von der Ohnmacht des Worts. Paradoxerweise aber eben auch: von seiner Macht.