"Verehrte Hörer! Es war ergreifend, wenn man mit Menschen aus Ost-Berlin sprach, die um direkte Hilfe fast flehentlich baten. Es war tragisch, helfen zu wollen und nicht unmittelbar helfen zu dürfen.“
Als die sowjetische Besatzungsmacht am 17. Juni 1953 den Aufstand in der DDR niederschlug, fühlte sich Egon Bahr, der Kommentator des Senders RIAS Berlin, so machtlos wie alle Deutschen im Westen. Doch Bahr wollte sich mit der Spaltung Deutschlands und Berlins nicht abfinden. Weil er das Ziel der Wiedervereinigung der Nation bei der Opposition in besseren Händen sah als bei der regierenden CDU unter Konrad Adenauer, trat der am 18. März 1922 geborene Sohn eines Studienrates in die SPD ein.
Wie Egon Bahr in Willy Brandts Küchenkabinett kam
1959 bekam Bahr überraschend eine Chance zur politischen Mitwirkung: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, bot ihm die Stelle des Pressesprechers des Berliner Senats an. Egon Bahr wurde so Mitglied von Brandts Küchenkabinett und bald zum unentbehrlichen Vertrauten des späteren Bundeskanzlers.
Gemeinsam entwickelten Brandt und Bahr in Berlin die "Politik der kleinen Schritte", um Bewegung in die erstarrte Deutschlandpolitik zu bringen. Entscheidender Impuls war die Ohnmacht des Westens beim Bau der Berliner Mauer 1961:
"Das war der Anfang des Nachdenkens. Sollen wir protestieren, erbittert sein, resignieren, nichts tun, auf Wunder warten? Oder sollten wir anfangen, uns unsere Interessen zu überlegen und selbst anfangen, uns zu bewegen? Damit, wenn man dieses Scheißding ‚Mauer‘ schon nicht wegbringen kann, es wenigstens durchlässig machen kann, für Stunden"
Mehr zu Egon Bahr:
- Vor 50 Jahren - Viermächte-Abkommen über Berlin - Meilenstein der Neuen Ostpolitik
- Vor 50 Jahren - Als beide deutsche Staaten ein Transitabkommen schlossen
- Bundestagsdebatte vor 50 Jahren - Das 22-Stunden-Ringen um die Ostverträge
- Mauer-Baubeginn vor 60 Jahren: „So dient der 13. August wahrer Menschlichkeit“
Bahrs Credo: "Wandel durch Annäherung"
1963 verletzte Bahr ein Tabu und plädierte öffentlich für direkte Gespräche mit den kommunistischen Machthabern in Ostberlin. Dafür prägte er den Begriff "Wandel durch Annäherung". Die CDU sah den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik bedroht und auch die SPD ging auf Distanz: Ihr deutschlandpolitischer Sprecher Herbert Wehner nannte das Konzept "bahren Unsinn".
Doch Willy Brandt hielt an seinem Vertrauten fest und nahm Bahr mit nach Bonn, wo er nach 1969 als Staatssekretär im Bundeskanzleramt die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition entwarf. Im Kern ging es dabei darum, den Verlust der früheren deutschen Ostgebiete zu akzeptieren und dafür Gegenleistungen zu erhalten, die die deutsche Teilung erträglicher machten
Bahrs Coup: das Viermächteabkommen
Es war ein Glücksfall für Brandt, dass der ungelernte Diplomat Bahr nicht nur ein brillanter Analytiker und gewiefter Stratege war, sondern sich auch am Verhandlungstisch als Naturtalent erwies. Bahr münzte seine Begabung, persönliches Vertrauen aufzubauen, in enge Kontakte nach Washington und Moskau um. Die Geheimdiplomatie Bahrs, dem Willy Brandt scherzhaft den Spitznamen Metternich" verpasste, erreichte 1971 ihren Höhepunkt. Wie Bahr später befand, war die "die allerspannendste Zeit" das Viermächteabkommen über Berlin:
"Da haben wir direkt, zwischen einem Amerikaner, einem Sowjetmenschen und mir verhandelt, hinter dem Rücken der Auswärtigen Ämter, hinter dem Rücken der Franzosen, hinter dem Rücken der Engländer und natürlich auch dem der DDR, und haben Vertrauen geschaffen und das Abkommen konstruiert und durchverhandelt – das war das Aufregendste.“
"Tricky Egon" - nüchterner Ausgleich von Interessen
Das Viermächteabkommen über Berlin war Bahrs Meisterstück. Mit ihm akzeptierte die Sowjetunion den besonderen Status West-Berlins, der Transitverkehr nach Berlin war nun gesichert. Der Clou war, dass dieses Abkommen erst in Kraft trat, wenn die Bundesrepublik die Verträge mit Moskau und Warschau ratifizierte. Diese Klausel machte es der Opposition in Bonn unmöglich, die Ostverträge scheitern zu lassen – das Abkommen machte einem anderen Spitznamen Bahrs alle Ehre: „Tricky Egon“.
Mit dem Rücktritt Willy Brandts endete 1974 Egon Bahrs große Zeit, auch wenn er noch manches Amt bekleidete. Bis an sein Lebensende 2015 berief sich Bahr auf die erfolgreiche Entspannungspolitik, wenn er gegen eine „werteorientierte“ Außenpolitik argumentierte.
Das Wesen erfolgreicher Diplomatie sah er im nüchternen Ausgleich von Interessen. In diesem Sinne hat Egon Bahr bis zuletzt dafür plädiert, selbst das zunehmend autoritäre Russland in eine europäische Sicherheitsordnung einzubinden.