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Vor 100 Jahren geboren
Iring Fetscher - ein öffentlicher Intellektueller

Ob als kühner Herausgeber der „Marxismus-Studien“ oder Politik-Erklärer in den Medien - Iring Fetscher, Politologe der ersten Stunde, prägte als engagierter Intellektueller die Debattenkultur im Nachkriegsdeutschland mit. Vor hundert Jahren wurde er geboren.

Von Norbert Seitz |
Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher, aufgenommen am  (19.06.2012) in seinem Haus in Frankfurt/Main
Iring Fetscher 2012 in seinem Haus in Frankfurt/Main (picture alliance / dpa)
„Solange es den Menschen einigermaßen gut geht, (…) akzeptieren die Menschen den Status Quo. Aber wenn es einmal Massenelend geben sollte, das nicht mehr durch den Sozialstaat aufgefangen wird, dann weiß man nicht, wohin (…) diese orientierungslos gewordenen Massen hinströmen.“  

Der Frankfurter Politologe Iring Fetscher hat sich als Marx-Forscher von Stimmungen im Volk nie blenden lassen. Die Unberechenbarkeit aufgebrachter Massen kannte er nur zu gut.

In Marbach am Neckar kommt er am 4. März 1922 zur Welt. Noch in seinem Geburtsjahr übersiedelt die Familie nach Dresden, wo sein Vater, der Mediziner Rainer Fetscher, als Professor für Sozialhygiene lehrt. Obwohl dieser sich in seinen Forschungen rassehygienischen NS-Positionen angenähert hat, gilt er den Machthabern als politisch unzuverlässig, sodass ihm die Lehr-Erlaubnis entzogen wird.
Sohn Iring dagegen arrangiert sich mit den Nationalsozialisten, im Zweiten Weltkrieg will er als 18-Jähriger unbedingt NSDAP-Mitglied und Wehrmachtsoffizier werden. In den 1990er-Jahren, als die braunen Flecken in den Biografien linksliberaler Meinungsführer aufgespürt werden, legt auch Fetscher Rechenschaft über diese dunkle Zeit ab - in seiner Autobiografie „Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen“
Ich hatte das Glück, dass ich in eine Division kam, die eigentlich aus lauter Anti-Nazis bestand. Wir haben trotzdem weitergekämpft, weil es einfach keine Alternative für uns zu geben schien, jedenfalls nicht an der Ostfront.“

In seinen Tagebüchern stößt Fetscher auf Irrtümer und Widersprüche.

"Das Nebeneinanderstehen von außerordentlich offenen, kritischen Äußerungen beim Kommentar ‚Was sind wir doch für ein barbarisches Volk.‘ Punkt. Zwei Seiten später ‚Eindrucksvolle Rede von Goebbels über den totalen Krieg‘: War das nur eine Bewunderung für die perfekte demagogische Technik von Goebbels?“

Fetschers Standardwerk "Marx und die Sowjetideologie“

Als Philosophiestudent landet Fetscher nach dem Krieg an der Universität Tübingen, promoviert über Hegel, entwickelt sich zum Rousseau-Experten, ehe er sich seit Anfang der Sechzigerjahre als Herausgeber der ‚Marxismus-Studien‘ einen Namen macht. Doch er ist kein Dogmatiker, der den Zusammenbruch des Kapitalismus und ein sozialistisches Endziel heraufziehen sieht. Einen Grund liefert er im 100. Todesjahr von Karl Marx 1983:"Weil wir an diesen naiven Fortschrittsglauben in dieser Form heute aus vielen Gründen nicht mehr glauben können.“
Von 1963 lehrt Iring Fetscher bis zu seiner Emeritierung 1987 Sozialphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Schrift „Marx und die Sowjetideologie“ gilt als Standardwerk. Als das kommunistische Weltreich Ende der 80er-Jahre kollabiert, korrigiert er all jene, die mit dem Epochenbruch auch vorschnell das Ende aller sozialistischen Träume heraufziehen sehen:
"Was eigentlich von Marx bleibt, ist eine Kritik der Produktionsweise in einer kapitalistischen Gesellschaft, wie er sie damals vorfand, wie sie sicher heute in der Form nicht mehr vorhanden ist, wie sie aber immer noch die Grundstruktur auch der Länder bildet, in denen inzwischen wohlfahrtstaatliche Institutionen entwickelt worden sind, die diesen reinen Kapitalismus, den Marx kritisiert hat, jedenfalls korrigiert haben.

Zwischen Theorie, Märchen und Tagespolitik

Fetscher ist kein Bewohner des Elfenbeinturmes. Mit seinem Märchen-Verwirrbuch „Wer hat Dornröschen wachgeküsst?“ begibt er sich sogar unter die populären Autoren. Neben seinen Verdiensten als versierter politischer Theoretiker prägt er die Rolle des öffentlichen Intellektuellen. Häufig mischt er sich in die aktuelle Politik ein:
"Die Vorstellung, dass man den Standort Deutschland retten könnte, dass man die Löhne so runterfährt, dass man mit den Billiglohnländern konkurrieren kann, ist natürlich absolut absurd.“

Iring Fetscher scheut kein Reizthema – von den Terrorismus-Debatten in den 1970er-Jahren bis zu den Zerreißproben um den erstmaligen Bundeswehreinsatz im Kosovo-Krieg 1999.

Ein vorsichtiger Mahner

 "Die Vergewaltigung einer ethnischen oder religiösen Minderheit im eigenen Lande wird nicht mehr ohne weiteres als innere Angelegenheit eines souveränen Staates angesehen, die die Völkergemeinschaft nichts angeht. Nachdem aber einmal die Drohung ausgesprochen war, und die vergewaltigten Albaner im Kosovo ihre Hoffnungen nur noch auf die NATO setzen konnten, musste militärisch eingegriffen werden.“

Bis zu seinem Tode 2014 bleibt Iring Fetscher ein wacher Zeitdiagnostiker und vorsichtiger Mahner, der auf sein zerfleddertes SPD-Parteibuch aus dem Jahre 1946 immer sehr stolz war.