unser vater / der du bist die mutter
die du bist der sohn / der kommt
um anzuzetteln / den himmel auf erden
dein name werde geheiligt
dein name möge kein hauptwort bleiben
dein name werde bewegung
dein name werde in jeder zeit konjugierbar
dein name werde tätigkeitswort
bis wir loslassen lernen / bis wir erlöst werden können
damit im verwehen des wahns komme dein reich
in der liebe zum nächsten / in der liebe zum feind
geschehe dein wille -
durch uns.
die du bist der sohn / der kommt
um anzuzetteln / den himmel auf erden
dein name werde geheiligt
dein name möge kein hauptwort bleiben
dein name werde bewegung
dein name werde in jeder zeit konjugierbar
dein name werde tätigkeitswort
bis wir loslassen lernen / bis wir erlöst werden können
damit im verwehen des wahns komme dein reich
in der liebe zum nächsten / in der liebe zum feind
geschehe dein wille -
durch uns.
Mit seiner unorthodoxen Variation des "Vater Unser" und der provokanten Losung "Den Himmel anzetteln auf Erden" zeigt sich Kurt Marti als das, was er sein Leben lang gewesen ist: ein sanfter Aufrührer. Der "Dichter, Zeitzeuge und Gottesmann", wie ihn die Neue Zürcher Zeitung einmal nannte, gehört neben und nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den Großen der Schweizer Literatur. Kurt Marti wird am 31. Januar 1921 in Bern geboren.
"Ich wuchs in kleinbürgerlicher Geborgenheit auf. Weder war mein Elternhaus besonders musisch noch christlich. Vater praktizierte als freiberuflicher Notar, betätigte sich nebenberuflich als liberaler Politiker und brachte es bis zum Präsident des Berner Stadtparlaments. Mit Liebe und Ängstlichkeit umsorgte mich die Mutter. Die Schule durchlief ich ohne Probleme, auf der Gymnasialstufe begann ich gegen alle Engstirnigkeit zu opponieren, was der Rektor auf eine besonders heftige Pubertät zurückführte. Als 12-Jähriger erlebte ich Hitlers Machtergreifung am Radioapparat, wurde allmählich politisiert und begann, die Ereignisse der Schweizer Innenpolitik zu verfolgen."
Mit 20 Jahren dient Kurt Marti als Gebirgsjäger im Berner Oberland: "Der Dienst mit der Waffe war damals kein Problem für mich. Wir hielten es für selbstverständlich, die Waffe zu gebrauchen, falls Hitler die Schweiz überfallen würde."
"Spielerisch, humorvoll"
Nach dem Abitur beginnt Marti ein Jura-Studium. 1942 wechselt er zur evangelischen Theologie. Vor allem Karl Barths politisch-prophetische Theologie weckt sein Interesse, weniger die Aussicht, als Pfarrer zu arbeiten.
"Mir scheint, dass Kurt Marti ein spielerischer, auch ein humorvoller Zeitgenosse gewesen ist." Der Theologe Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und kennt sich mit moderner Lyrik bestens aus. "Als Pastor hat man ja selber ein hohes Interesse daran, dass die Arbeit und der Umgang mit dem Wort nicht zu bierernst und zu professionell wird. Das ist die Gefahr dieses Berufes. Und da sind natürlich solche Formen von Lyrik, wie Kurt Marti sie ausprobiert hat, ein wunderbares Instrument, um auch in die Distanz zu kommen."
1947 geht Marti für ein Jahr nach Paris – und zwar als Seelsorger für Kriegsgefangene, im Auftrag des Ökumenischen Rates der Kirchen. 1950 heiratet er Hanni Morgenthaler. Fast 60 Jahre lang verbindet ihn bis zu ihrem Tod eine sein Leben prägende Liebe mit der "elfenhaft leichten Langenthalerin". Erst spät, nach der Geburt von vier Kindern, beginnt der Pfarrer, Ende der 50er Jahre regelmäßig Gedichte zu schreiben. Mehr als 20 Jahre wirkt er an der Berner Nydeggkirche. Bis zu seiner Pensionierung. Danach widmet er sich ausschließlich der Literatur und arbeitet als freier Schriftsteller. "Zuerst zeugte ich leibliche, dann literarische Kinder. Anstatt eine midlife-crisis zu haben, begann ich zu schreiben."
Jazz - seine "lebendige Kraftquelle"
Seine frühen Inspirationsquellen sind Hölderlin, Jean Paul, Stefan George, Georg Trakl, Hans Arp und Arno Schmidt. Auch die Musik prägt Kurt Martis künstlerischen Ausdruck. In seinen Erinnerungen nennt er den Jazz eine "lebendige Kraftquelle", die ihn zeitlebens begleitet hat: "Als während des letzten Weltkrieges die Radiostationen Europas auch die Schweiz mit zackiger Marschmusik und ablenkenden Schnulzen belagerten, schnappten wir jeden Fetzen Jazz aus angelsächsischen Ländern auf wie Sphärenmusik aus einer anderen Welt. Melancholie und Aufsässigkeit gehen im Jazz eine vitale Mischung ein, die sowohl Ventil wie Sprengstoff sein kann."
Im Laufe seines Lebens hat Marti zwanzig Gedichtbände veröffentlicht sowie etliche Essays und Kolumnen. Zuletzt, im Jahr 2010, die gesammelten Erinnerungen und Essays in dem 1.400 Seiten starken Band "Notizen und Details".
Wo kämen wir hin, wenn alle sagten,
wo kämen wir hin, und keiner ginge,
um zu sehen, wohin wir kämen,
wenn wir gingen.
wo kämen wir hin, und keiner ginge,
um zu sehen, wohin wir kämen,
wenn wir gingen.
sie örtern / wir örtern
gott vergeblich mit wörtern
doch er ist / der geist und lässt sich nicht örtern
er ist das wort / und lässt sich nicht
wörtern
gott vergeblich mit wörtern
doch er ist / der geist und lässt sich nicht örtern
er ist das wort / und lässt sich nicht
wörtern
zimmerer / zimmern / die balken
und dann / den zimmerer / an den balken
und dann / den gebälkten / zimmerer steil in den wind
richtbaum / aus flatterndem atem
richtbaum / aus zuckendem fleisch
richtbaum / schreiend über / den firsten der welt.
und dann / den zimmerer / an den balken
und dann / den gebälkten / zimmerer steil in den wind
richtbaum / aus flatterndem atem
richtbaum / aus zuckendem fleisch
richtbaum / schreiend über / den firsten der welt.
Bereits in den 1950er-Jahren wendet sich Kurt Marti im Stil eines Erich Kästner gegen alles "unechte und unglaubwürdige" im religiösen Vollzug. "Kurt Marti gehört zu den Schweizer Nestbeschmutzern wie Dürrenmatt ja auch, also Autoren, die aus der Enge des Schweizerischen weit hinaus gedacht haben. Das war natürlich in diesen polararisierten, zementierten 50er, 60er, 70er Jahren etwas ganz außergewöhnliches, mutiges, nicht-konformes."
Engagierte Lyrik
1959 erscheinen zuerst in der Schweiz, später auch in Deutschland die "Republikanischen Gedichte", in denen Kurt Marti die politische Situation der Schweiz kritisiert.
kleiner mann gibt acht / was man mir dir macht
sei nicht dümmer / als man gerade muss
zahlen muss man immer
meist zahlst du zum schluss
sei nicht dümmer / als man gerade muss
zahlen muss man immer
meist zahlst du zum schluss
"Was wir heute gar nicht mehr kennen, ist dieses Erfolgsgenre "Engagierte Lyrik". In den 1970er Jahren waren das Bestseller. Erich Fried und Dorothee Sölle fallen einem da ein und andere auch. Da gehört natürlich Kurt Marti mit hinzu, als Theologe noch mit einer eigenen Prägung und Färbung. Da gehört natürlich Kurt Marti mit hinzu, als Theologe noch mit einer eigenen Prägung und Färbung. Und das gehört natürlich zu diesem ganzen Kulturumbruch der 1960er und 1970er Jahre, der immer auch eine literarische Seite hatte. Ich finde als Angehöriger einer nächsten, beziehungsweise übernächsten Generation: Mich sprechen diese Gedichte selten an, auch wenn ich mit vielen politischen Anliegen konform gehe, aber die Benutzung von Lyrik zur Steigerung von einem bestimmten kritischen Engagement, das ist mir literarisch unergiebig, oft genug zu platt und zu einfach. Da werden Verse zu Slogans."
Auch wenn der Theologe Johann Hinrich Claussen die politischen Werkphasen Kurt Martis kritisch sieht: Außer Frage steht, dass es dem Pfarrer und Poeten gelungen ist, religiöse Lyrik aus dem gesellschaftlichen Abseits zu holen: "Bei seiner religiösen Lyrik bewundere ich den Versuch, jenseits von damals üblicher Kirchen- und Dogmensprache Wesentliches des christlichen Glaubens auszudrücken – und zwar so, dass es auch immer piekst und stört, dass es auch was anstrengendes hat, dass es nicht lieblich ist, dass es immer auch verbunden ist mit einem Engagement für diese Welt. Zugleich stört mich auch an den religiösen Gedichten bisweilen eine Übermacht der Botschaft, sodass Verse dann viel zu selten ins Schweben kommen, weil immer schon klar ist, was sie am Ende ausdrücken wollen.
"Gott iebt das Monopol nicht!"
Sein Verhältnis zur Kirche selbst ist ein spannungsvolles. So gehört es sich für einen guten Protestanten. Er ist natürlich als Pastor und Theologe immer ein Teil dieser Kirche gewesen, und doch stört er sich am Amtlichen, am Institutionellen und stört sich an der ständigen Verbündetheit mit den Mächten des eigenen Landes; und da ist es in der Schweiz nicht viel anders gewesen als in der Bundesrepublik dieser Zeit."
Kurt Marti: "Gott liebt das Monopol nicht! Es hätte ihm nicht gefallen, wenn alle Menschen Christen geworden wären." Johann Hinrich Claussen: "Das klingt ganz wunderbar, wenn Kurt Marti sagt, Gott liebt das Monopol nicht, sondern die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit. Das ist gut protestantisch, gut reformatorisch. Dagegen gibt es gar nichts auszusetzen, im Gegenteil."
Marti kultiviert die Aufmerksamkeit für das Wunder des Alltags, für "das Unten", wie er es nennt. Das findet seine Ergänzung in der "Wachheit nach oben." Ich bin ein "nach oben Offener" hat er einmal über sich gesagt und diese Offenheit literarisch in so manche provokante Paradoxie gegossen. Zum Beispiel, wenn er einen Psalm umdichtet:
aus untiefen
rufe ich
gott
nach mir
rufe ich
gott
nach mir
Das Reden von Gott in Kurt Martis Dichtung ist geprägt von seinen Erfahrungen in der Berner Stadtpfarrei. Er spürt die Grenzen der liturgischen Sprache mit ihrer Formelhaftigkeit und ihren Klischees, die oft als Worthülsen empfunden werden. Um mit diesem Dilemma umzugehen, erfindet Marti im Jahr 1969 die sogenannten "Leichenreden". Bei besonders bewegenden Todesfällen verarbeitet er die dabei gemachten Erfahrungen in einem neuen Sprachgewand.
Marti protestiert nicht nur gegen den Tod. Auch von einer unorthodoxen Variante der Auferstehung ist bei ihm die Rede: Kurt Marti: "Ein Glaube, der auf das eigene Weiterleben nach dem Tod fokussiert ist, bleibt heillos egozentriert. Ist der Wunsch, ewig zu leben, nicht ohnehin der menschliche Urfrevel, so sein zu wollen wie Gott, der allein Ewige?"
Gottesverstecke
Ein zentraler Fokus in Martis religiöser Lyrik ist das literarische Umkreisen der Chiffre Gott.
großer gott:
uns näher
als haut
oder halsschlagader
kleiner als herzmuskel
zwerchfell oft:
zu nahe
zu klein – wozu
dich suchen?
wir: deine verstecke
uns näher
als haut
oder halsschlagader
kleiner als herzmuskel
zwerchfell oft:
zu nahe
zu klein – wozu
dich suchen?
wir: deine verstecke
Claussen: "'Wir Gottesverstecke‘: Ich finde, das ist eine wunderbare lyrische Wünschelrute, mit der man sich auf die Suche nach Gott machen kann."
Wenige Jahre vor seinem Tod, klagt Kurt Marti in einem Interview mit Matthias Hui: "Ich habe das Gefühl, ich wäre überfällig mit meinen mehr als 92 Jahren. Es wäre längst Zeit, dass ich hätte sterben dürfen. So habe ich das Gefühl, dass der liebe Gott mich vergessen hat. Das Leben wird Leerlauf. Ich spüre das sehr stark. Deshalb hoffe ich jeden Abend beim Einschlafen, – es ist mein Nachtgebet – ich würde am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen. Leider funktioniert mein Herz noch so gut, dass diese Hoffnung ein wenig irreal ist."
Vier Jahre später erfüllt sich seine Hoffnung. Am 11. Februar 2017 stirbt Kurt Marti im Alter von 96 Jahren in Bern. Johann Hinrich Claussen:
"Was bleiben wird von ihm, ist zweierlei zu tun, was heute oft als Gegensatz empfunden wird: nämlich nach einer zeitgemäßen Frömmigkeit zu suchen und zugleich nach einem politischen Engagement, das sich was traut, das mutig ist und das sich trotzdem aus tieferen, alten Wurzeln speist."
Erstmals wurde eine Langfassung dieses Porträts am 05.06.2017 gesendet - im Deutschlandfunk in der Sendung "Tag für Tag. Aus Religion und Gesellschaft".