"Der Tod hat mich seit meiner frühesten Kindheit beschäftigt. Der Tod ist wirklich meine Obsession: Nicht nur als Betroffener, sondern auch als Mensch, der die Trennung von anderen ertragen muss – eine schrecklich quälende Vorstellung."
Der Tod, die Kindheit, die Natur: Das sind Miguel Delibes‘ große Themen. Als er dem spanischen Fernsehen 1976 dieses Interview gibt, gehört der hagere Mann mit dem nachdenklichen Blick bereits zu den renommiertesten Schriftstellern des Landes. Seine Aufmerksamkeit gilt den Außenseitern und Menschen, die gegen widrige Umstände kämpfen müssen. Im Spanien nach Francos Tod macht ihn das zur moralischen Instanz.
Geboren am 17. Oktober 1920 in Valladolid als drittes von acht Kindern, wächst Miguel Delibes in den Wirren des Bürgerkriegs auf. Als junger Mann meldet er sich freiwillig bei der franquistischen Marine. Der ideologische Eifer, mit dem im Bürgerkrieg beide Seiten ihre Positionen verfechten, verstört ihn tief. Er studiert Handelsrecht, heiratet seine Jugendliebe Ángeles de Castro und arbeitet als Karikaturist bei der Regionalzeitung El Norte de Castilla. Als dort mehrere Mitarbeiter vor die Tür gesetzt werden, beginnt er zu schreiben. Er verfasst Filmkritiken, Nachrufe - und nebenbei seinen ersten Roman. "Der Schatten der Zypresse verlängert sich" erhält 1948 den renommierten Nadal-Preis.
Der Roman als Vehikel politischer Kritik
Als "selbstgefällig" bezeichnet Delibes seinen Erstling. Seinen eigenen Ton findet er zwei Jahre später mit "El Camino", auf Deutsch "Und zur Erinnerung Sommersprossen". Der Roman ist nicht nur eine Hommage an eine Kindheit auf dem Land, sondern zugleich Kritik an den sozialen Verhältnissen, an religiöser Bigotterie und blindem Fortschrittsglauben. Themen, die er auch als Journalist aufgreift – und die ihm immer wieder Ärger mit der Zensur einbringen.
1963 tritt er von seinem Posten als Chefredakteur zurück und widmet sich ganz der Schriftstellerei. "Die Presse", erinnerte sich Delibes, hatte kaum noch Bedeutung. "In den Zeitungen konnte man nur sehr wenige Dinge offen sagen. An ihre Stelle trat der Roman. Er übernahm die Aufgabe, die Probleme und Ungerechtigkeiten dieses Landes zu benennen." Das gelingt Delibes auch unter den Argusaugen der Zensoren. Die Witwe, die in "Fünf Stunden mit Mario" am Totenbett ihres Mannes mit ihrer Ehe abrechnet, legt in ihrem Monolog die kleinbürgerliche Doppelmoral der Diktatur offen.
Das Spanien jenseits der Metropolen
Sein großes Thema aber bleibt das ländliche Spanien. "Die heiligen Narren", ein Roman über die alltäglichen Demütigungen einer Landarbeiterfamilie, wird zu einem seiner größten Publikumserfolge.
"Ich habe immer für die Schwachen Partei ergriffen. Ich glaube nicht, dass die Welt sich durch ein paar Romane verändern lässt, so Delibes. "Aber die Literatur kann, über kurz oder lang, dazu beitragen, dass sich bestimmte Einstellungen ändern, vor allem, wenn sie viele Leser erreicht."
Der unermüdliche Schreiber wird zum Mitglied der Königlichen Akademie in Madrid ernannt. Doch Hauptstadttrubel liegt ihm nicht. Lieber spaziert er durch die weiten Felder Nordkastiliens, geht jagen oder verbringt die Zeit mit seiner Frau Ángeles und den sieben gemeinsamen Kindern. Ihr Tod 1974 stürzt ihn in eine schwere Depression, von der er sich nie wieder ganz erholen wird.
Abstecher in den historischen Roman mit "Der Ketzer"
Als ihm 1994 für sein Lebenswerk der renommierte Cervantes-Preis verliehen wird, zieht er ein melancholisches Resümee: "Ich habe mich mein ganzes Leben lang verkleidet und naiverweise geglaubt, dass durch dieses Maskenspiel meine eigene Existenz vielfältiger würde. Aber während ich diese fremden Leben lebte, blieb die Zeit nicht stehen. Meine Figuren entwickelten sich und wuchsen, aber derjenige, der älter wurde, war ich. Und eines Tages, als ich vom Blatt aufschaute und in den Spiegel blickte, sah ich, dass ich ein alter Mann geworden war."
Einmal noch greift Miguel Delibes, der alle Manuskripte handschriftlich verfasste, zum Stift. Für den historischen Roman "Der Ketzer" recherchiert er akribisch in den Archiven seiner Geburts- und Heimatstadt Valladolid. Das Sittengemälde des 16. Jahrhunderts wird auch von der internationalen Kritik wegen der beklemmend genauen Darstellung von Schmerz und Tod hochgelobt.
Am 12. März 2010 stirbt Miguel Delibes. Als Chronist des Lebens in der Provinz gehört er noch heute zu den meistgelesenen Schriftstellern Spaniens.