Der Strom der Passanten bewegt sich vom Bahnhof Central geradeaus in die Innenstadt. Ich biege, dem Stadtplan zum Jubiläum der Amsterdamer Schule folgend, nach der ersten Brücke links ab und gehe die Prins Hendrikkade am Oosterdok entlang. An der Ecke zur Waals Eilandsgracht sehe ich den Bug eines fünfstöckigen Hochseedampfers aus rotem Backstein in den Himmel ragen: das Schifffahrtshaus. In seiner reliefartig mit vertikalen Mauervorsprüngen und hohen Fenstern strukturierten Fassade verfängt sich das Licht. Zinnenartige Fensterkoben krönen das Dach, Skulpturen der Götter Poseidon und Fortuna thronen auf dem Bug. Diskret wirkt dagegen der Eingang vorne über ein paar Treppenstufen. Der junge Architekt Johan van der Meij hat das Gebäude im Auftrag von sechs Schifffahrtsgesellschaften entworfen.
"Sie konkurrierten mit Rotterdam und brauchten ein Bauwerk, das allen klar machte, dass sie die besten sind. Der Haupteingang an der Bugspitze zeigt Richtung Wasser und Hafen. Im Bug befinden sich auch in den fünf Etagen übereinander die Sitzungssäle. Das Gebäude sollte die Geschichte der Schifffahrt und des Handels in Amsterdam seit dem 17. Jahrhundert reflektieren. Auf den großen, in Blei gefassten Dachfenstern im Treppenhaus sehen Sie zwei Weltkarten mit den Orten, die die Schiffe der Gesellschaften anliefen. Der Sternenhimmel darüber ist natürlich auch symbolisch zu verstehen."
Die Designexpertin Louise de Blécourt führt sonntags Besucher durch das Schifffahrtshaus. Um diesen Riesenauftrag zu bewältigen, holte der junge Architekt Johan van der Meij 1912 seine Freunde und Kollegen Michel de Klerk und Piet Kramer mit ins Boot, sowie Bildhauer, Schmiede, Holzschnitzer und Glasgestalter. Das Ziel war, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Im Mai 1916 eröffnete das Schifffahrtshaus. Es wurde zum Flaggschiff der drei Architekten. Ihre roten Backsteinbauten mit bewegten, skulpturalen Fassaden tragen seither das Label Amsterdamer Schule.
"Die Konstruktion des Baus besteht aus einem Betonskelett, das unter der expressiven Klinkerfassade nicht mehr zu sehen ist."
Weiße Marmorstufen ins verwinkelte Treppenhaus
Weiße Marmorstufen führen das verwinkelte Treppenhaus im Bug hinauf. Durch schmale, mit Schmiedeornamenten gerahmte Fenster fällt Tageslicht. In der ersten und zweiten Etage existieren noch die Schalteröffnungen mit farbigen Fenstergläsern.
"Hier kaufte man seine Tickets. Die Büroräume dahinter waren zur Decke hin offen. Heute wurden hinter den Schalterfenstern Wände eingezogen."
Ein historischer Dokumentarfilm zeigt das geschäftige Leben im Schifffahrtshaus. 1979 zogen die Schiffskompanien aus. Danach nutzten die Amsterdamer Verkehrsbetriebe das unter Denkmalschutz stehende Gebäude, bis die Stadt 1998 einen privaten Käufer fand, der das emblematische Bauwerk aufwendig renovierte und in ein Hotel verwandelte, das 2007 eröffnete. In den ehemaligen, original mit dunklem Holz vertäfelten Konferenzsälen kann man heute Dinieren. Kleinere Säle wurden in Suiten verwandelt mit originalen Möbeln, aus edlen Hölzern geschnitzten Sekretären und mit samtigen Stoffen gepolsterten Sofas, auf die sich die Besucher auch setzen dürfen. Absolut faszinierend: ein violetter Sessel mit trötenförmigen Armlehnen.
"Die meisten Möbel in diesem Raum hat Michel de Klerk entworfen. Eine Inspirationsquelle für ihn und auch die anderen, die am Schifffahrtshaus bauten, war das Buch "Kunstformen der Natur" von Ernst Haeckel. Es zeigt die Schönheit der Naturformen. Mir gefällt in diesem Raum besonders die Lampe: Sie sieht aus wie eine Tiefseequalle. Im Schlafzimmer sehen Sie in der Holzvertäfelung eine Wasserschlange eingraviert."
In Johan van der Meijs Dekoren sind häufig Seepferdchen zu sehen. Auch die Brücke, die er 1914 über die breite Waals Eilandsgracht neben dem Schifffahrtshaus baute, ist davon inspiriert. Im Zickzack taucht das massive Backsteinwerk ins Wasser ein. Mit etwas Fantasie erkennt man das Seepferdchen.
Die Architekten der Amsterdamer Schule bauten viele Brücken. Vor allem Piet Kramer, mit schmiedeeisernen Geländern. Er war Mitglied im Brückenbauamt und ästhetischer Berater der Stadt wie auch Johan van der Meij.
Realisierung einer Gartenstadt
Unter alten Ulmen spaziere ich entlang der Grachten Richtung Museumsplein. Touristenschiffe ziehen auf dem Wasser vorbei, in den Blumenkästen von Hausbooten blühen Tulpen. Vor dem Stedelijk Museum, das derzeit das exquisite Wohndesign der Amsterdamer Schule zeigt, startet die Führung ins südliche Amsterdam. Dort wurde der urbane Plan einer Gartenstadt realisiert.
Den Plan hatte Henrik Petrus Berlage entworfen, die Häuser bauten jedoch Architekten der Amsterdamer Schule, die Berlage kritisch gegenüberstanden, sagt der Historiker Barend Blom.
"In einem Architekturheft schrieb Michel de Klerk zum 60. Geburtstag von Berlage: Sie wissen viel über Konstruktion, aber nichts über die Kunst der Architektur. De Klerk war Mitte 20 und Berlage 60. Das war schon frech, aber er sagte bereits wegweisend, worum es ihm und seinen Kollegen ging: nicht um Rationalität, sondern um die Kunst."
Wir gelangen in ein ruhiges Viertel mit alten Bäumen und Kinderspielplatz.
"Das ist eine pikfeine Wohngegend. Wir stehen hier vor einem Haus mit typischen Etagenwohnungen, runden Ecken, langen Fensterbändern und Fenstern über die Ecke. Für die damalige Zeit war das luxuriös, mitsamt Etagenheizung. Im Innenhof gibt es auch einen Tennisplatz."
Muster und Wellenformen im traditionellen roten Backsteingemäuer, runde, geschwungene Balkone, lange Fensterbänder - all das war neu. Die Architekten der Amsterdamer Schule gestalteten den Baukörper wie eine Skulptur bis ins Detail der Nummernschilder an den Haustüren. Grüne Wiesen und Trauerweiden säumen den Amstelkanal. Wir überqueren eine Allee, ehe wir in den Hinterhof eines fast ländlich anmutenden zweistöckigen Wohnblocks eintreten.
"Nur wenige hundert Meter von der zentralen Allee entfernt, stehen wir hier in einem stillen Innenhof mit Garten. Das entsprach dem Ideal der Zeit: geschlossene Häuserblöcke mit grünen Gärten im Inneren, um sich zu erholen. Wohnungsgesellschaften bauten damals diese Häuser und diese hier waren für Lehrer."
Projekt des sozialen Wohnungsbaus
Zur selben Zeit wie im Süden entstand damals im Westen Amsterdams zwischen Eisenbahntrasse und Nordhafen ein neues Wohnviertel, jedoch für Arbeiter. Michel de Klerk baute hier mehrere Blöcke nacheinander für die soziale Wohnungsgesellschaft Eigen Haard. Sein berühmtester Wohnblock wurde 1920 bezugsfertig. Ein Palast für Arbeiter.
"Michel de Klerk hatte eigene Vorstellungen, wie Arbeiter leben sollten, da er selber in einer Arbeiterfamilie im jüdischen Viertel der Stadt aufgewachsen war, als 25. Kind eines Diamantschleifers. Sein Vater war zweimal verheiratet und über 70 Jahre alt. Die Mutter arbeitete als Wäscherin. Er war künstlerisch begabt, bekam als 14-Jähriger die Chance, im Büro des Architekten Eduard Cuypers als Zeichner zu arbeiten, und ergriff sie."
Ein langes, dreieckiges Grundstück gab den Grundriss vor für das Gebäude mit grünem Innenhof. An der Spitze vorne befindet sich ein liebevoll gestaltetes Postamt. Der Turm darüber erinnert an einen Schiffskamin, lange Fensterbänder suggerieren verschiedene Decks, die Wellen in der Klinkerfassade das Meer. Schon bald hieß der Wohnblock im Volksmund Het Ship, das Schiff. Michel de Klerk war ein Künstler, sagt die Soziologin Alice Roegholt:
"Viele Bauelemente beziehen sich auf die Schifffahrt und das Meer. Aber neben Muscheln sieht man auch noch Vögel in den Ziegelstein geschlagen und kleine Windmühlen. De Klerk hat neben dem Ort zwischen Eisenbahnschienen und Hafenkanal auch die Herkunft der Menschen bedacht, die hier einzogen. Für sie gehörten Windmühlen zum Alltag. Sie kamen aus Dörfern vom Land."
Als das Postamt 1999 schloss, initiierte Alice Roegholt ein Museumsprojekt. Heute ist sie Direktorin des Museums Het Ship, das Schiff. Auch eine Musterwohnung ist zu besichtigen, in die jeder gerne einziehen würde.
"Das Besondere an diesem denkmalgeschützten Bauwerk ist nicht nur der Entwurf und die Klinker-Ästhetik. Der Wohnblock gehörte einst der Wohnungsgesellschaft Eigen Haard. Die wurde 1909 gegründet, kurz nachdem die Stadtregierung das soziale Wohnungsbauprogramm beschlossen hatte. Das Museum Het Ship erzählt diese Geschichte. Die Wohnungen werden gerade alle renoviert, aber sie bleiben auch danach sozialer Wohnungsbau."