15. Mai 1920 – In der Aula der Berliner Universität haben sich eine Reihe hochkarätiger Politiker und Vertreter von Sport- und Turnverbänden versammelt. Unter ihnen Reichspräsident Friedrich Ebert. Sie sind gekommen, um die Deutsche Hochschule für Leibesübungen, kurz DHfL, zu gründen. Die Hochschule soll im Deutschen Stadion in Berlin, dem Vorgänger des Olympiastadions, eröffnet werden. 25 junge Menschen gehören dem 1. Jahrgang an – sie ertüchtigen sich nicht nur körperlich, sondern wollen den Sport auch wissenschaftlich durchdringen.
Ein bis dahin in Deutschland einzigartiges Konzept. Obwohl es schon länger die Idee gegeben hatte, die Sportwissenschaft als Disziplin zu etablieren, erklärt Sporthistoriker Ansgar Molzberger von der Deutschen Sporthochschule Köln. "Das war ein Bestreben des damaligen Dachverbandes, des bürgerlichen Sportes sagt man immer, damals der Deutsche Reichsausschuss für Leibesübungen DRA, der hatte das Bestreben. Federführend war ganz stark der damalige Generalsekretär Carl Diem, dass man doch endlich Sport auch verwissenschaftlichen solle, das man Sport studieren können solle."
Die meisten Absolventinnen und Absolventen arbeiteten nach dem Studium an Schulen. Aber auch in Vereine und Verbände zu gehen, ist für Alumni möglich gewesen. Und auch wenn sich manche Inhalte in 100 Jahren verändert haben, die Grundlagen sind seit jeher für das Sportstudium gleich.
"Wir haben einen großen Block Sportpraxis, da haben wir natürlich die Klassiker Leichtathletik, Turnen und Schwimmen, Ballspiele etc. Dann haben wir einen Block Vorlesungen, theoretische Auseinandersetzung mit dem Subjet und das ist ähnlich wie heute. Anatomie, Physiologie, Psychologie, Didaktik, Geschichte auch. Also all das, was dazu zählt um sich mit dem Kulturphänomen Sport auseinander zu setzten. Das war seit 1920 an der DHfL da", so Molzberger.
Nazis entlassen gesamten Lehrkörper
Doch die erste sportwissenschaftliche Institution Deutschlands verändert sich bald grundlegend. Nach der Machtergreifung entlassen die Nazis ab 1933 den gesamten Lehrkörper und es entsteht eine NS-Akademie. Die heutigen Sporthochschule sieht diese Akademie nicht als Vorgängerhochschule an, was außenstehende Historiker wie Ralf Schäfer kritisieren.
Kritisch sieht Schäfer auch die Rolle des ersten Prorektors der DHfL, Carl Diem. Über dessen sportpolitisches Wirken im Kaiserreich hat Schäfer eine Monografie verfasst. Diem wird 1947 erster Rektor der neu eröffneten Deutschen Sporthochschule Köln. Schäfer berichtet, was auch schon damals Kritik hervorgerufen hat: "Kritikwürdig, nicht nur im Nachhinein, das wurde auch schon von Zeitgenossen jeweils kritisiert, sind Diems allgemeinpolitische Grundüberzeugungen, die sich in der Sportpolitik auch widerspiegeln. Also er sieht den Sport als eine Zuarbeit für die Armee an, der gute Sportler ist auch ein guter Soldat."
In der NS-Zeit hatte Diem nicht nur als Generalsekretär des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936 mitgewirkt, sondern war auch in die Inlands- und Auslandpolitik des Regimes verwickelt.
"1945, als man den Kanonendonner von der Oder her schon hören konnte, da hat Carl Diem eine Rede vor einer Formation von Kindersoldaten des NS-Regimes - ein HJ Bataillon das im Volkssturm-Einsatz war - gehalten. Und dort hat er diese jungen Menschen eigentlich noch in den Krieg gepredigt, denn ihnen stand der Einsatz bevor und das wusste der Mann." Trotz dieser Taten wird Diem Rektor in Köln und bleibt es bis zu seinem Tot 1962.
"Es hat Protest gegeben"
"Er konnte sein eigenes Wirken im Nationalsozialismus verharmlosen und er profitierte auch von der Ahnungslosigkeit des britischen Besatzungsoffiziers, der für die Gründung der Hochschule auch zuständig war. Protest hat es allerdings gegeben, denn es gab auch Zeitgenossen, die ihm genau sein Engagement in der NS Politik verargten", so Schäfer.
Viele Menschen, die ihn persönlich erlebt haben, sind trotz Diems Vorgeschichte große Fans des Sportfunktionärs. Bärbel Schöttler, eine von Diems Studentinnen ab 1953, wünscht sich "das irgendwie die Menschen erkennen, dass die Dinge die über ihn verbreitet worden, sicherlich einen Teil der Wahrheit entsprechen, aber wenn man den Menschen Carl Diem gekannt hat und weiß, was er alles bewirkt hat, dann irren sich viele, die einfach das nachsagen was einige vielleicht vorgesagt haben."
Sie habe ihn als freundlichen und imposanten Mann erlebt. Eigentlich hätte Schöttler wegen einer Krankheit nicht in Köln studieren dürfen. Diem hat sie aber trotzdem zum Studium zugelassen, unter besonderer ärztlicher Beobachtung. Deshalb hat das Bild von Diem in der Öffentlichkeit für Schöttler eine größere Bedeutung. "Das ist eigentlich so einer meiner Lebenswünsche, ich bin 86 und da hat man ja nicht mehr viel zu wünschen, aber das es irgendwie möglich wird, dass all die Umbenennungen der Straßen, des Carl Diem Weges an dem die Sporthochschule liegt, dass er zurückbenannt wird oder umbenannt wird."
Viele Straßen wurden umbenannt
Denn viele Straßen mit Carl Diem als Namensgeber, sind in den letzten Jahren umbenannt worden. Besonders an der Sporthochschule hat es um 2008 heftige Diskussionen zwischen Dozierenden und Studierenden gegeben, ob der Name Diems auf dem Straßenschild vertretbar ist. Letztlich haben sich die Studierenden durchgesetzt und die Sporthochschule liegt heute "Am Sportpark Müngersdorf".
Obwohl Diem 1962 verstorben ist, hat er noch immer viele Anhänger an der Hochschule. Für Historiker Schäfer ist die Sicht der Hochschule und der Sportwissenschaft auf Diem noch immer verklärt. "Wenn man jetzt diese 100 Jahre Sporthochschule in einen weiteren historischen Kontext stellt, dann ist es sehr verwunderlich, dass die Sportwissenschaft bis heute offenbar Manschetten davor hat, historische Forschungsergebnisse zu übernehmen. Da würde ich doch auch mehr Mut wünschen."
Zwar beschäftigen sich Studierende der Deutschen Sporthochschule in Geschichtsvorlesungen mit Diem, allerdings nur sehr oberflächlich. Die vielen Diskussionen und die Kritik werden kaum thematisiert.
*Anm. d. Red.: In einer erster Version des Beitrags hatte es geheißen, Ralf Schäfer sei vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Er hat allerdings dort zwar promoviert, arbeitet dort aber nicht mehr.