Bulat Okudschawa singt von jungen russischen Adligen, die einberufen werden in den Krieg gegen die Deutschen. Gerade noch spazierten sie stolz mit ihren Bräuten durch das damalige Petrograd, nun müssen sie mit Hurra an die Front. Das Lied aus dem Jahr 1969 sei das einzige Lied aus sowjetischer Zeit, das sich dem Ersten Weltkrieg widme, sagt die Historikerin Jelena Sinjawskaja von der Russischen Akademie der Wissenschaften. Sie erklärt das so:
"Der Erste Weltkrieg hat revolutionäre Erschütterungen innerhalb Russlands ausgelöst und führte zum Zerfall des Russischen Imperiums und zum Bürgerkrieg. Er trägt bei uns bis heute das Makel eines unverständlichen, erfolglosen, ja verlorenen Krieges - obwohl Russland zur Koalition der Siegermächte gehörte. Für erfolglose Kriege ist im öffentlichen Gedenken kein Platz. Deshalb erinnern wir uns auch fast an keine Helden des Ersten Weltkriegs."
Das soll sich ändern. Rechtzeitig zum 100. Jahrestag hat Russland den Ersten Weltkrieg neu entdeckt. Bereits Ende 2012 erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin den 1. August zum Gedenktag der russischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Seitdem diskutieren Historiker, mit welchem Image dieser Krieg in Russland behaftet werden soll. Tonangebend dabei: Die Russische Militärhistorische Gesellschaft, eine patriotische Organisation. Ihr Direktor, Andrej Nazarow, sieht drei Lehren, die Russland heute aus dem Ersten Weltkrieg ziehen müsse.
"Erstens: Russische Soldaten schützen immer ein und dasselbe Vaterland – unabhängig vom politischen System, das gerade herrscht. Eine zweite, sehr wichtige Lehre dieses Krieges ist: Wenn das russische Volk geeint ist, ist es praktisch unbesiegbar. Und drittens: In einer Zeit der Katastrophen hat Russland immer eine starke und einige Führung gerettet. Sobald Unstimmigkeiten an der Staatsspitze begannen, geriet Russland an den Abgrund. Dafür gibt es kein besseres Beispiel als den Ersten Weltkrieg."
Präsident Putin verweist schon seit einiger Zeit bei öffentlichen Auftritten auf das zaristische Imperium, und zwar positiv. Das Zarenreich, die Sowjetunion, das heutige Russland müssten als Glieder einer logischen Kette in der Geschichte eines großen Landes gesehen werden, so die Botschaft. Kulturschaffende sind nun dabei, Helden des Ersten Weltkriegs zu identifizieren, und arbeiten an entsprechenden Kunstwerken.
Erster russischer Film über den Ersten Weltkrieg entsteht
Der Filmproduzent Igor Ugolnikow zum Beispiel dreht derzeit, finanziert zum Teil mit Staatsgeldern, den ersten russischen Film über den Ersten Weltkrieg. Ugolnikow sympathisiert mit der Kremlpartei "Einiges Russland". 2010 drehte er ein patriotisches Epos über die Verteidigung der Festung von Brest im Zweiten Weltkrieg. Dafür erhielt er einen Filmpreis des Russischen Geheimdienstes, FSB.
Der neue Film wird von einem Frauenbataillon erzählen, das 1917 in Petrograd gebildet wurde. Ugolnikow:
"Wir haben diese Geschichte gewählt, weil es um Frauen geht, die bereit waren, das Vaterland zu verteidigen. Sie waren außerordentlich mutig. Sie hatten außerdem die Aufgabe, den Kampfgeist zu heben."
Produzent Ugolnikow muss ein Paradox bewältigen. Die Offiziere der Zarenarmee galten über 70 Jahre als Feinde. Denn viele von ihnen kämpften anschließend im russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken. In tausenden Filmen, Romanen, Schulbüchern, Liedern gelten die Roten als gut, die Weißen als schlecht. Wenn nun auf einmal die Weißen zu Helden werden, könnte das die Bolschewiken diskreditieren. Kein Problem, sagt Produzent Ugolnikow. Es gehe heute darum, Gräben in der Gesellschaft zu schließen. Er befindet sich damit ganz auf der Linie des Kreml.
"Wir müssen verstehen, was damals passiert ist, und darüber eine Aussöhnung erreichen. Die russische Gesellschaft ist nach wie vor gespalten in dieser Frage. Aber die Generation, in der sich die Leute unversöhnlich gegenüberstanden, in der sie meinten, dass die Weißen schlecht waren, die Roten gut, und anders herum, diese Generation stirbt. Jetzt ist die Zeit, die Nation zu einen."