Vera Lourié: "Die Februarrevolution wurde empfangen mit Begeisterung von der ganzen Intelligenzja. Alle rannten auf die Plätze, wo Kerenskij gesprochen hat. Man nannte ihn aber später ‚der kleine russische Napoleon‘, weil er sehr schön gesprochen hat, aber eigentlich das war alles. Er war gar nicht genug stark, um die Regierung und das Volk und die Soldaten und jemanden halten zu können."
So erinnerte sich die russische Dichterin Vera Lourié an die Februarrevolution 1917, die so genannt wird, weil im alten Russland der Julianische Kalender galt.
Vera Louie: "Ich bin natürlich auch gerannt, alles lief mit roten kleinen Fahnen, man war überhaupt ganz glücklich und zufrieden."
Das rückständige, dringend reformbedürftige Zarenreich stand zu Beginn des Jahres 1917 vor dem Kollaps. Schon seit Sommer 1915 zeigte sich deutlich, dass der Erste Weltkrieg für Russland nicht zu gewinnen war. Die russische Front musste vor den deutschen Angriffen nach Osten zurückweichen. Bis 1917 zählte man acht Millionen Tote, Verwundete und Gefangene.
Hungerrevolten im ganzen Land
Die Not im ganzen Land war groß. Zar Nikolaj II. und seiner intriganten Hofkamarilla schlugen Hass und Verachtung entgegen. Die Zarin Alexandra Fjodorowna, die aus hessischem Adel stammte, wurde unverhohlen als deutsche Spionin verdächtigt.
Schon seit Januar 1917 kam es in Petrograd, wie die russische Hauptstadt St. Petersburg seit Beginn des Ersten Weltkrieges hieß, zu Hungerrevolten.
"Ich melde, dass infolge des Brotmangels am 8. und 9. März 1917 in vielen Fabriken ein Streik ausgebrochen ist. [Es] streikten etwa 200.000 Arbeiter, die gewaltsam die Arbeitenden vertrieben."
Telegramm des Kommandanten des Petrograder Militärbezirks, General Chabalow:
"Der Straßenbahnverkehr wurde von den Arbeitenden unterbrochen. Am 8. und 9. März mittags brach ein Teil der Arbeiter zum Newskij Prospekt durch, von wo er vertrieben wurde. Gewalttätigkeiten äußerten sich in dem Einschlagen der Fenster an Geschäften, vier Polizeibeamte erlitten ... Verletzungen."
Der Zar kabelte aus dem russischen Hauptquartier in Mogilew zurück:
"Wir befehlen, ... die Unruhen in der Hauptstadt zu liquidieren, da sie in der schweren Zeit des Krieges mit Deutschland und Österreich nicht geduldet werden können."
Soldaten schließen sich den Aufständischen an
Doch die Truppen verweigerten den Gehorsam, beschossen sich gegenseitig und brachten Offiziere um. Sogar die traditionsreichen Garderegimenter gingen bald zu den Aufständischen über. Die blutigen Zusammenstöße wuchsen zu Brandstiftungen und Straßenschlachten an.
Auch in Moskau und anderen Städte brachen Revolten aus. Die Regierung war völlig machtlos, die eilige Umbesetzung von Ministerposten half nicht mehr. Symbolisch war das Schicksal des dreihundert Jahre regierenden Hauses Romanow besiegelt, als die Aufständischen das Winterpalais, die Hauptresidenz des Zaren, stürmten.
Am 12. März gründete sich in Petrograd ein Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Drei Tage später war Nikolaj II. gezwungen, abzudanken:
"Wir haben im Einvernehmen mit der Reichsduma für gut befunden, der Krone des Russischen Reiches zu entsagen und die oberste Gewalt niederzulegen."
In den folgenden Monaten versuchte eine provisorische Doppelregierung, die aus den Arbeiter- und Soldatenräten bestand, und der Duma - dem Parlament - der explosiven Lage Herr zu werden.
Ministerpräsident war zunächst Fürst Georgij Lwow, dann der Rechtsanwalt und Sozialrevolutionär Alexander Kerenskij. Im Herbst 1917 sollte eine Verfassunggebende Versammlung gewählt werden, die über die künftige Staatsform Russlands entscheiden sollte.
Bolschewiki übernehmen die Macht
Vera Louie: "Aber dann kam Lenin, und als Lenin kam, und Kerenskij ist geflohen aus Petrograd, war man weniger natürlich glücklich, weil sein Programm war ziemlich grausam sofort. Die Oktoberrevolution war sehr grausam."
Der revolutionäre Prozess, der im Frühjahr 1917 den zaristischen Despotismus hinweggefegt hatte, mündete im Herbst in eine Entfesselung staatlicher Gewalt ungeahnten Ausmaßes. Die Machtübernahme der Bolschewiki durch die Oktoberrevolution 1917 läutete ein neues Zeitalter ein: das des Sozialismus und Kommunismus.