"Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, Meine Damen und Herren! Vor fast sechs Monaten, am 24.September 2017, wurde ein neuer Bundestag gewählt. Vor einer Woche wurde endlich die neue Regierung der großen Koalition von CDU/CSU und SPD vereidigt…"
31. März 2018. Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt vor das Parlament, um zu Beginn ihrer vierten Amtszeit ihre Regierungserklärung abzugeben. Die beiden Koalitionäre CDU/CSU und SPD mussten bei der Wahl herbe Stimmverluste hinnehmen.
Nicht mehr dabei: Claudia Lücking-Michel. "Wir haben so ein Quorum, das sagt, jeder dritte Platz soll mindestens von einer Frau besetzt werden", sagte die ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete mit Blick auf die Listenplätze kurz nach der Wahl der Deutschen Welle.
"Naja, jeder dritte Platz ist schon mal nicht die Hälfte, und das Dumme ist, das bei uns aus dem "mindestens" für die, die die Listen zusammenstellen, so etwas geworden ist wie "höchstens". Man sagt also: eins, zwei, DREI, vier, fünf, SECHS ist der nächste Frauenplatz, sieben, acht, NEUN ist der übernächste. Ja, wo kommen wir denn dahin?"
"Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Einführung des Frauenwahlrechtes liegen in Deutschland sehr eng beieinander."
Doktor Kerstin Wolff, Historikerin am Archiv der Deutschen Frauenbewegung in Kassel: "Das war am 12. November 1918, als der Rat der Volksbeauftragten das Frauenwahlrecht einführte beziehungsweise eine große demokratische Wahlrechtsreform auf den Weg brachte, in dessen Hintergrund auch das Frauenwahlrecht eingeführt wurde."
Belohnung für die Mithilfe der Frauen im Krieg?
Vorausgegangen war eine einjährige Propaganda-Aktion von bürgerlichen und SPD-Frauen. Zudem hatte sich die gesellschaftliche Situation der Frauen geändert, sie arbeiteten und mussten die Männer in den Fabriken ersetzen.
So gab es in der Bevölkerung die weitverbreitete Meinung, dass "die Vergabe des Frauenwahlrechts ja eigentlich ein Geschenk war für die Frauen, deren Männer aus dem Krieg zurückkamen und nun an ihre alte Stelle wieder wollten", so Adeline Ritter-Rintelin, geboren 1905. "Und da entspannte sich natürlich ein Konflikt zwischen Frauen und Männern."
Zudem hatten sich die Frauen während des Krieges in der Heimat engagiert. "Sie haben vor Ort Essen verteilt oder sie haben Windeln gesammelt oder sie haben für die Soldaten Strümpfe gestrickt und solche Sachen."
Doch der These, dass das Frauenwahlrecht gewissermaßen die Belohnung für die Mithilfe der Frauen im Krieg war, widerspricht Ute Planert, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Köln:
"Die Frauen haben das auch so thematisiert. Die haben dann tatsächlich – das kann man lesen - die sagen, naja gut, die Männer haben ihren Blutzoll, aber wir tun ja auch was für den Krieg, und dann müssen wir das Wahlrecht bekommen. Faktisch glaube ich aber, dass die Bestrebungen hin zum Frauenwahlrecht sehr viel älter waren."
Die Anfänge der Frauenbewegung
"Die Forderungen nach gleichen Rechten für Männer und Frauen, die sind relativ alt, also es gibt immer mal Überlegungen sogar schon in der frühen Neuzeit. Dann haben wir parallel zu der Verfassungsverabschiedung in der französischen Revolution die "Déclaration des Droits de la femme et de la citoyenne" von Olympe de Gauches, die quasi den ganzen Forderungen, die für die Männer gemacht worden sind parallel und bis ins Wort gleich einen Frauenforderungskatalog gegenüberstellt."
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - so die Forderung der Revolutionäre. Das mit der Brüderlichkeit meinten sie allerdings wörtlich. Frauen bekamen kein Wahlrecht.
"Wir befinden uns jetzt in der ersten Galerie der Ausstellung. Dabei geht es um das Alltagsleben von Frauen zur Zeit des Kaiserreichs."
Jenny Jung ist Mit-Kuratorin der Ausstellung "Damenwahl – 100 Jahre Frauenwahlrecht" in Frankfurt am Main. Die Ausstellung beginnt mit einem Korsett:
"Die Taille ist auf wenige Zentimeter zusammengeschnürt worden, das heißt, alle Organe, die sich im Bauch einer Frau befinden, wurden zusammengeschnürt, mussten sich zusammen drängen, und das hatte natürlich schwere körperliche und gesundheitliche Konsequenzen."
Ein Sinnbild für die gesellschaftliche Situation der Frauen der Mittel- und Oberschicht: "Im Kaiserreich lebten Frauen unter sehr schwierigen rechtlichen Verhältnissen. Sie hatten vor allem als verheiratete Frauen sehr wenige Rechte, das heißt, bürgerliche Frauen, die auch Vermögen in die Ehe gebracht haben, verloren dies in dem Augenblick, indem sie den Ehevertrag unterzeichnet hatten."
So ist es nicht verwunderlich, dass die Forderungen der Frauen sich zunächst auf ein Thema fokussierten: "Wir haben im frühen 19.Jahrhundert vor allem die Forderung nach selbstbestimmter Ehe", sagt Ute Planert.
Neue Welle der Politisierung
"Danach beginnen wir so um 1830 herum mit einer neuen Welle der Politisierung, also beispielsweise mit einer Revolution in Frankreich und auch in anderen Ländern, und als Reaktion drauf oder in dem Zusammenhang, gibt es dann das so genannte Hambacher Fest, ein Fest für Demokratie, könnte man modern gesprochen sagen, 1832, und wenn man da mal schaut, wer da gewesen ist: Geredet haben die Männer, aber die Frauen waren mit dabei."
Louise Otto-Peters gehört zu den bürgerlichen Frauen, die sich schon in den 1830er Jahren politisch äußern. Sie kommt aus Sachsen und übt in ihrem Buch "Schloss und Fabrik" schon sehr früh Sozialkritik, hat sich aber auch in demokratisch liberalen Blättern politisch geäußert, auch in den 30er Jahren schon und gründet dann 1848 die erste Frauenzeitung in Deutschland, von der wir wissen, das Motto war: "Dem Reich der Freiheit werb‘ ich Bürgerinnen", also ein dezidiert feministischer Ansatz, den sie gewählt hat, und sie ist auch diejenige, die dann 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein gründet, das ist die erste große Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung von der wir wissen."
Andere wie zum Beispiel die Vorkämpferin Helene Lange, setzten sich für die Verbesserung der Frauenbildung ein, damit auch unverheiratete bürgerliche Frauen ihren Lebensunterhalt zum Beispiel als Lehrerin verdienen konnten.
Für Arbeiterinnen war das kein Thema, sie schufteten in den Fabriken unter desolaten Bedingungen neben ihren Männern. Schon in den 1860er-Jahren gründeten sich Arbeitervereine mit dem Ziel, die Situation der Menschen in den Fabriken zu verbessern. Später entstand daraus die sozialdemokratische Partei.
Clara Zetkin gehörte zu den unermüdlichen Streiterinnen in der SPD für das Frauenwahlrecht, der einzigen Partei, die diese Forderung in ihr Programm aufgenommen hatte:
"Die Sozialistengesetze seit den 1870er-Jahren wurden ja permanent verlängert bis dann 1890. Diese Sozialistengesetze sollten ja verhindern, dass die Sozialdemokratie sich ausbreitet. Das hat natürlich immer auch Auswirkungen gehabt auf die proletarische Frauenbewegung. Von dem her hat die proletarische Frauenbewegung wie die Sozialdemokratie auch, eigentlich erst ab 1890 so richtig Fahrt aufgenommen", sagt die Historikerin Dr. Kerstin Wolff.
Die Wahlrechtsbewegung
"Es war 1908, ich war 19 oder 20 Jahre alt, da kam die Wahlrechtsbewegung in Schwung. Das ging bis in die Reihen der Bürgerlichen, und ganz entschieden trat dagegen die Sozialdemokratie auf, die Ende des Jahres 1907 sogar zu Demonstrationen aufrief." Rosi Fröhlich-Wolfstein, geboren 1888.
"Ich war gerade dabei kurz vor - es war um die Weihnachtszeit - Besorgungen zu machen und sah mich plötzlich überflutet von einer Demonstration von Arbeitern, und auch Frauen waren in dieser Demonstration, und die hatten Plakate: "Her mit dem Frauenwahlrecht!".
Neben der SPD kämpften auch bürgerliche Frauen für das Stimmrecht, in sogenannten Frauenwahlvereinen. Den ersten Frauenstimmrechtsverein gründete 1902 Anita Augspurg in Hamburg.
"Der fängt nun wirklich an, macht Propaganda, wie es damals hieß, macht Aufklärung für das Frauenstimmrecht, macht große Veranstaltungen, publiziert und fängt einfach an, dieses Thema Frauenwahlrecht, und wir wollen es nun haben, auf die Straße zu tragen und ist damit auch ziemlich erfolgreich, so dass man es in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr aus der Presse, aus der Idee, die diese Gesellschaft hatte, rausbekommen hat."
Als dann am 12. November 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt wurde, blieb nicht mehr viel Zeit für die Vorbereitung zur Wahl. Jenny Jung, Kuratorin der Ausstellung "Damenwahl":
Ein ganz anderes Frauenbild
"Ende November wurde festgesetzt, dass am 19.Januar bereits die Wahl stattfinden muss, das heißt, die Parteien und auch Kandidatinnen und Kandidaten hatten eben nur ganz kurz die Möglichkeit zum Wahlkampf. Das heißt, wir haben zweieinhalb Monate, in denen gleichzeitig die Revolution tobte und Wahlmobilisierung betrieben worden ist."
In der Frankfurter Ausstellung zeigen unterschiedliche Wahlplakate, wie sich die Parteien ihre Wählerinnen vorstellten.
"Wir sehen hier das Plakat der SPD, auf dem die Frau neben dem Mann gleichberechtigt schreitet und die rote Fahne schwenkt, auf der "Frauen!" steht. Darunter steht: "Gleiche Rechte. Gleiche Pflichten – Wählt Sozialdemokratisch!"
Ein ganz anderes Frauenbild spricht die Deutsch Nationale Volkspartei an. Sie spricht die Frauen als Mütter und Hausfrauen an hier auf dem Wahlplakat, das eine Frau zeigt in einer zerstörten Landschaft, ein Kind hängt an ihrem Arm, und sie wird aufgefordert: "Deutsche Frauen, wacht auf! Tut Eure Pflicht! Die Wahl entscheidet über Deutschland und Euer Kinder Schicksal! Helft retten, wählt deutsch-national!"
Welche Parteien die Frauen gewählt haben, bleibt ihr Geheimnis, denn als große Errungenschaft galt schon damals, dass es sich um eine geheime Wahl handelte. Natürlich war man auch damals neugierig, wie die Frauen gewählt haben.
Die erste Wahl der Frauen
"Es gab drei Wahlbezirke, nur drei. Das waren Köln, Neustadt und Bruchsal, die getrennt nach Geschlechtern ausgezählt wurden. Ich möchte immer wieder betonen: eine extrem dünne Datenlage und drei sehr spezifische Städte, und da kann man sehen, Frauen haben etwas anders gewählt als Männer. Sie waren nicht so sehr durch den Beruf zum Beispiel mit der Sozialdemokratie verknüpft."
Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten mit den Männern: Frauen wählten ihrer Klasse gemäß: Bürgerinnen bürgerliche Parteien, Proletarierinnen eher SPD.
Oder anders ausgedrückt: "Meistens wählten die Frauen die Partei des Mannes, denn mit dem hatten sie Aussprache." Erna Kracht, geboren 1903. "Ich erinnere überhaupt, in der ganzen Zeit bis Hitler nur ein einziges Mal, dass ich eine andere Partei gewählt hatte."
Mit viel Enthusiasmus begannen die ersten Parlamentarierinnen ihre Arbeit.
"Die sind natürlich mit ganz großen Hoffnungen in ihre Rolle gestartet. Es waren ja gar nicht so viele. Es waren 38 in der Nationalversammlung. Ganz viele Frauen dachten tatsächlich, die Frauenfrage hätte sich nun erledigt. Es gab tatsächlich Frauenvereine, die sich aufgelöst haben, die gesagt haben: Wir haben es geschafft, wir sitzen jetzt im Reichstag."
Weit gefehlt! Sehr schnell mussten die Parlamentarierinnen feststellen, dass Politik ein langatmiges Geschäft ist und dass sie in eine Parteistruktur eingebunden waren. Zudem war von Beginn an klar, dass ihnen nur bestimmte Themen zugestanden wurden: Soziales, Schulpolitik und Armenfürsorge galten als Kernkompetenz der Frauen derweil Finanzen in Männerhand blieb.
Nicht nur das: Während des Nationalsozialismus galt die Devise: Frauen zurück an den Herd. Politik war Männersache.
Gleichberechtigung heißt nicht paritätische Vertretung
Das änderte sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. "Meine verehrten Hörerinnen und Hörer, der gestrige Tag, an dem im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates in Bonn, dank der Initiative der Sozialdemokraten, die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist – dieser Tag war ein geschichtlicher Tag…" Rundfunkansprache von Elisabeth Selbert, SPD, am 18.01.1949.
"Der Gleichheitsgrundsatz Paragraf 3 Absatz 2 im Grundgesetz war und ist die alles entscheidende Stelle, um die sich alles dreht, weil da ganz klar festgelegt wurde, Männer und Frauen sind gleichberechtigt PUNKT", sagt Doktor Kerstin Wolff.
"Allerdings sah man: in den 50er-, 60er- und auch noch die 70er-Jahren war Politik eine extrem männliche Angelegenheit. Bis in die 70er-Jahre gab es immer noch Frauenanteile im Bundestag von 5,3 Prozent. Das änderte sich erst langsam, und zwar durch die Grünen, die ganz klar hatten, dass sie immer nur mit einer paritätisch besetzten Liste antreten. Damit ist bei den anderen Parteien ein Umdenken angestoßen worden, von Partei zu Partei sehr unterschiedlich."
Das gilt bis heute.
100 Jahre Frauenwahlrecht - die Bilanz ist eher dürftig, meint die Historikerin.
"Im neuen Bundestag sind es wieder weniger Frauen geworden. Wir sind, glaube ich, bei 30,8 Prozent. Das war vorher mehr. Und für mich stellt sich da eindeutig die Frage, ob da nicht andere Mittel und Methoden angewandt werden müssen, und meiner Meinung nach könnte man mit einer Geschlechterparität anfangen und dann schauen, wie man das langsam aber sicher umbaut."
Literatur:
Wolff, Kerstin, Unsere Stimme zählt. Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts, Überlingen: Bast Medien 2018
Linnemann, Dorothee, Gerchow, Jan, Damenwahl - 100 Jahren Frauenwahlrecht, Historisches Museum Frankfurt, Societäts Verlag 2018
Wolff, Kerstin, Unsere Stimme zählt. Die Geschichte des deutschen Frauenwahlrechts, Überlingen: Bast Medien 2018
Linnemann, Dorothee, Gerchow, Jan, Damenwahl - 100 Jahren Frauenwahlrecht, Historisches Museum Frankfurt, Societäts Verlag 2018