Archiv

100 Jahre Friedensvertrag
Die Bürde von Versailles

Der Erste Weltkrieg hatte die Gesellschaften grundlegend verändert. Der Vertrag von Versailles 1919 sollte eine neue globale Ordnung begründen. Die Folgen sind bis heute sichtbar – vor allem im Nahen Osten.

Von Winfried Dolderer |
Juni 1919: Der britische Premier Lloyd George, Italiens Premier Vittorio Orlando, Frankreichs George Clemenceau und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bei der Versailler Friedenskonferenz.
Juni 1919: Der britische Premier Lloyd George, Italiens Premier Vittorio Orlando, Frankreichs Ministerpräsident George Clemenceau und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson bei der Versailler Friedenskonferenz (imago)
Es war ein schwerer Gang für den Sozialdemokraten Hermann Müller und den Zentrums-Politiker Johannes Bell. Seit wenigen Tagen war Müller Außenminister der jungen deutschen Republik. Bell führte im Kabinett des Reichskanzlers Gustav Bauer das Verkehrsressort. Gemeinsam oblag ihnen am 28. Juni 1919 eine heikle Amtspflicht, die Unterzeichnung des Dokuments, das die Niederlage des deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg besiegeln sollte. Der britische Diplomat Harold Nicolson beobachtete den Auftritt der deutschen Abgesandten im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles.
"Ihre Schritte auf dem Parkettstreifen zwischen den Savonnerie-Teppichen hallen hohl im Doppeltakt wider. Sie halten die Blicke von diesen zweitausend sie anstarrenden Augen hinweggerichtet, zum Deckenfries empor. Sie sind totenbleich. Sie sehen nicht aus wie die Repräsentanten eines brutalen Militarismus. Der eine ist schmächtig, mit rötlichen Augenlidern: die zweite Geige in einem Kleinstadtorchester. Der andere hat ein Mondgesicht und sieht leidend aus: ein Privatdozent. Das Ganze ist höchst peinvoll."
Mit der Zeremonie im Spiegelsaal endete eine lange Übergangsphase zwischen Krieg und Frieden. Mehr als sieben Monate lag der Waffenstillstand an der Westfront, die Kapitulation der deutschen Truppen, bereits zurück. Fast vier Monate lang, von Mitte Januar bis Anfang Mai 1919, hatten die Staats- und Regierungschefs der Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Vertreter Japans sowie 32 anderer interessierter Staaten in Paris um die Bedingungen gefeilscht, die den Deutschen auferlegt werden sollten. Weitere Wochen waren vergangen, bis die Deutschen ihren Widerstand gegen die geforderte Unterzeichnung aufgaben.
"Wir sind ein besiegtes Volk, an Leib und Seele vergewaltigt wie kein Volk je zuvor. Meine Damen und Herren, kein Protest weiter mehr, keinen Sturm der Empörung. Unterschreiben wir. Einen neuen Krieg können wir nicht verantworten, selbst wenn wir Waffen hätten. Wir sind wehrlos. Wehrlos ist aber nicht ehrlos."
Historiker: Grundriss der neuen internationalen Ordnung
So Reichskanzler Bauer vor der Weimarer Nationalversammlung. Im Versailler Spiegelsaal war fast fünf Jahrzehnte zuvor, mitten im deutsch-französischen Krieg 1870/71, das deutsche Kaiserreich ausgerufen worden. Dass hier nun auch der Untergang dieses Reiches beurkundet werden sollte, davon erhoffte sich Frankreichs Regierungschef Georges Clemenceau die Heilung eines nationalen Traumas.
Im Übrigen war Versailles nicht mehr als die zeremonielle Bühne für den Friedensschluss mit Deutschland. Die Verhandlungen zwischen den Alliierten hatten in Paris stattgefunden. Die Verträge mit Deutschlands Verbündeten im Ersten Weltkrieg wurden an anderen Orten unterzeichnet. Der Historiker Jörn Leonhard, der an der Universität Freiburg "Neuere und Neueste Geschichte" lehrt - und sich in seinem Buch "Der überforderte Frieden" mit Versailles beschäftigt - hält den Begriff des "Versailler Vertrages" dennoch für angemessen für den Friedensschluss von 1919. Für ihn ist offensichtlich, dass die Regelung für Deutschland den Grundriss der neuen internationalen Ordnung habe bilden sollen.
"Dieses Modell, dieses Muster wird dann in diese anderen Verträge immer wieder übernommen, vor allen Dingen im Blick auf die Völkerbundakte, die ja Teil dieser Friedensverträge ist, und insofern steht dieser Versailler Vertrag schon nicht nur für den Frieden mit Deutschland, sondern für das Modell des Vertrages, den man dann auch auf andere Fälle anwendet."
Woodrow Wilson, der 28. Präsident der USA
Woodrow Wilson, der 28. Präsident der USA. In Versailles vertrat er die Völkerbund-Idee, die er zuvor als Kernstück seines Friedensprogramms formulierte (AP Archiv)
Der Völkerbund war das Kernstück des Friedensprogramms, das US-Präsident Woodrow Wilson im Januar 1918 in seinen 14 Punkten verkündet hatte. Wilson propagierte die Vision einer Staatenordnung auf der Grundlage demokratischer Selbstbestimmung und Gleichberechtigung, in der ein Krieg, wie er zwischen 1914 und 1918 Europa verheert hatte, künftig ein für alle Mal ausgeschlossen sein sollte.
Den Weg dorthin sollte weltweite Abrüstung ebnen sowie ein "allgemeiner Verband der Nationen", der die Sicherheit aller Mitgliedsstaaten zu gewährleisten hatte. Die Völkerbund-Idee war dem US-Demokraten Wilson wichtig genug, dass er sich entschloss, sie auf der Pariser Konferenz persönlich zu vertreten. Im Dezember 1918 schiffte er sich als erster amerikanischer Präsident der Geschichte nach Europa ein, wo ihm ein enthusiastischer Empfang zuteilwurde.
"Wilson wird in Europa ja fast messianisch gefeiert als der große Friedensbringer. Es ist fast so eine Weltfigur, wie vielleicht Nelson Mandela das am Ende der 1980er Jahre gewesen ist. Er betreibt Politik manchmal auch ein bisschen wie einen Kreuzzug. Aber er hat auch einen klaren Blick auf die Probleme dieser Nachkriegszeit, und er hat sehr früh eine Position, dass der Frieden von 1919 nicht die Fortsetzung etwa der Geheimdiplomatie wie nach dem Wiener Kongress sein dürfe."
Wilsons Politik zuhause angefeindet
Wilsons Problem war, dass seine Politik im eigenen Land heftig angefeindet wurde. Die US-Republikaner hatten im November 1918 die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses erobert. Von der Idee des Präsidenten, dass die Vereinigten Staaten künftig eine globale Sicherheitsverantwortung zu schultern hatten, hielten sie gar nichts.
Auch in Paris hatte Wilson keinen leichten Stand. Franzosen und Briten waren ihm zu Dank verpflichtet. Allein der Kriegseintritt der USA im April 1917 hatte ihnen an der Westfront das militärische Übergewicht beschert, das den deutschen Kampfwillen schließlich erlahmen ließ. Die Vereinigten Staaten waren zudem Hauptkreditgeber der europäischen Alliierten. Deren Vorstellungen einer künftigen Friedensordnung wichen indes deutlich von denen des US-Präsidenten ab.
Versailler Vertrag
Eröffnung der Vertragsverhandlung im Schloss von Versailles am 28.6.1919 durch den französischen Ministerpräsidenten Georges Benjamin Clemenceau (Zeichnung von George Scott) (picture alliance/dpa)
Nach vier Jahren Materialschlacht lag der Norden Frankreichs in Trümmern. Mit Blick darauf war Clemenceaus Hauptanliegen nicht Gerechtigkeit, sondern eine Regelung, die Frankreich für alle Zukunft Sicherheit durch Vernichtung der deutschen Macht verschaffte. Clemenceau wollte das linksrheinische Gebiet vom Deutschen Reich abtrennen und dort unabhängige Kleinstaaten unter französischer Kontrolle errichten. Im Osten unterstützte er die Ambitionen der entstehenden polnischen Republik, mit ihrer West- und Nordgrenze so weit wie möglich in deutsches Gebiet auszugreifen.
Bei der Abwehr französischer Maximalforderungen hatte Wilson den britischen Premierminister David Lloyd George an seiner Seite. Dieser fürchtete, die junge deutsche Republik mit drakonischen Friedensbedingungen in die Arme der Bolschewisten zu treiben. Der Historiker Jörn Leonhard:
"Da wird klar, dass weder die Briten noch die Amerikaner bereit sind, so eine Art wilhelminischer Halbhegemonie über den europäischen Kontinent gegen eine französische Hegemonie einzutauschen. Die Briten und die Amerikaner wehren sich am Ende erfolgreich dagegen, dass dieses Deutschland territorial desintegriert wird."
So wurde das Rheinland nicht amputiert, sondern lediglich einer auf fünfzehn Jahre befristeten Besatzung unterworfen. Zwischen Polen und Deutschland kam ein territorialer Ausgleich zustande, der keine Seite zufrieden stellte.
Dagegen lag Lloyd George in der Frage der von Deutschland einzutreibenden Reparationen mit dem US-Präsidenten über Kreuz. Er hatte im Dezember 1918 eine Unterhauswahl mit dem Versprechen gewonnen, die Deutschen die Kriegskosten bezahlen zu lassen. Das vertrug sich schlecht mit Wilsons Vorstellung, dass Deutschland im wesentlichen Ersatz für Schäden zu leisten hatte, die der Zivilbevölkerung in den von deutschen Truppen eroberten Gebieten entstanden waren.
Die Frage der Reparationen
Großbritannien, von unmittelbarer Kriegseinwirkung weitgehend verschont, hätte bei einer solchen Regelung das Nachsehen gehabt. Zu Wilsons Verdruss konnte der britische Premier durchsetzen, dass auch die Pensionen und Renten für Kriegsopfer und Hinterbliebene noch dem deutschen Schuldenkonto zugeschlagen wurden. Der Freiburger Historiker Jörn Leonhard:
"Da ging es hoch her, da werden auch die Türen geknallt. Da werden Nachrichten an die Presse durchgestochen, etwa die angeblich deutschfreundliche Position von Wilson. Dann begann eine regelrechte Pressekampagne gegen Wilson. Wilson lässt auf dem Höhepunkt dieser Konflikte mit Clemenceau das Schiff der amerikanischen Delegation zur Abreise vorbereiten. Also, manches davon ist auch durchaus inszenierter Theaterdonner, aber es wird eben deutlich, dass diese Kriegskoalition, die bis in den November 1918 gehalten hat, keine Friedenskoalition ist."
Die Frage der Reparationen war abgesehen vom Verlauf der künftigen Staatsgrenzen in Europa der wichtigste Knackpunkt. Die europäischen Alliierten, die bei ihren Völkern im Wort standen und selber dem Ruin nahe waren, hätten Deutschland gerne mit den Gesamtkosten des Krieges belastet. Die Amerikaner machten geltend, dass eine solche Forderung die deutsche Leistungsfähigkeit weit überschritten hätte, und am ökonomischen Kollaps der Besiegten niemand interessiert sein konnte.
Ein Mitglied der US-Delegation, der junge Jurist John Foster Dulles, fand die vermeintlich salomonische Lösung. Er schlug eine Klausel vor, die die Feststellung enthalten sollte, dass Deutschland nach dem Verursacherprinzip zwar verpflichtet wäre, die Kriegskosten zu tragen, die Alliierten von einer solch weitgehenden Forderung aber absahen. So entstand der bald als "Kriegsschuldlüge" geschmähte Artikel 231 des Versailler Vertrages.
"Die Alliierten und Assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, dass Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die Alliierten und Assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des Krieges, der ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde, erlitten haben."
Der Artikel, der zunächst nur dazu gedacht war, die französische und britische Öffentlichkeit ruhig zu stellen, hatte in Deutschland eine verheerende, jahrzehntelang anhaltende Wirkung. Der damalige Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau erhob feierlichen Protest, als ihm am 7. Mai 1919 im Palasthotel in Trianon der Vertragstext ausgehändigt wurde.
"Es wird von uns verlangt, dass wir uns als die Alleinschuldigen am Kriege bekennen. Ein solches Bekenntnis wäre in meinem Munde eine Lüge. Wir sind fern davon, jede Verantwortung dafür, dass es zu diesem Weltkriege kam, von Deutschland abzuwälzen. Aber wir bestreiten nachdrücklich, dass Deutschland, dessen Volk überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet wird."
Kriegschuldfrage: Artikel 231 wurde zu einer deutschen Obsession
Artikel 231 wurde zu einer deutschen Obsession. Das Auswärtige Amt richtete ein eigenes "Schuldreferat" ein, dessen Auftrag darin bestand, Medienkampagnen gegen den Vorwurf der Urheberschaft am Ersten Weltkrieg zu orchestrieren. In Berlin erschien seit 1923 eine Zeitschrift unter dem Titel "Die Kriegsschuldfrage", die allein der Verteidigung der deutschen Sicht auf die Julikrise 1914 gewidmet war.
Welche Brisanz das Thema noch in der frühen Bundesrepublik besaß, zeigte sich, als der Hamburger Historiker Fritz Fischer in seinem 1961 erschienenen und das etablierte Geschichtsbild umstürzenden Buch "Griff nach der Weltmacht" dem kaiserlichen Deutschland die Hauptverantwortung am Ersten Weltkrieg zuwies. Um eine 1964 geplante Vortragsreise Fischers in die USA zu verhindern, intervenierten konservative Fachkollegen beim Auswärtigen Amt. Sie fanden Fischers Forschung "verheerend" für das Ansehen Deutschlands.
Rheinlandbesatzung, Reparationsfrage, Einmarsch französischer und belgischer Truppen im Ruhrgebiet 1923, internationale Expertengutachten zur Regelung und Begrenzung der deutschen Verbindlichkeiten – Versailles und die Folgen blieben ein Dauerthema in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik.
Zwar waren die Zwanzigerjahre auch eine Periode internationaler Entspannung. Im Locarno-Pakt akzeptierte Deutschland 1925 die in Versailles gezogene Westgrenze zu Belgien und Frankreich. Ein Jahr später erfolgte der Beitritt zum Völkerbund und 1928 zählte die Weimarer Republik zu den Erstunterzeichnern des Briand-Kellogg-Pakts zur Ächtung des Krieges.
In der Innenpolitik des damaligen Deutschland blieb Versailles indes verstärkt seit Ende der Zwanzigerjahre ein Mobilisierungsthema der nationalistischen Verächter der parlamentarischen Demokratie. In deren Vokabular geriet der Begriff der "Erfüllungspolitik", mit dem sie den Versuch denunzierten, im Gespräch mit den Siegermächten die Vertragsbedingungen zu lockern, zum Synonym für Landesverrat. So rechnete im Mai 1932 der deutsch-nationale Abgeordnete Fritz Kleiner im Reichstag mit der Regierung Heinrich Brünings ab.
"Der Herr Reichskanzler ist doch der Exponent derjenigen Parteien, die Deutschland seit 1918 von Unglück zu Unglück geführt haben."
Die Enttäuschung, die der Friedensschluss von 1919 unvermeidlich produzierte, blieb indes auf Deutschland nicht begrenzt. Sie war außerhalb Europas womöglich noch größer. Auch dort hatte die Verheißung einer neuen Welt gleichberechtigter Nationen in den 14 Punkten des US-Präsidenten offene Ohren gefunden. Die Eliten - vor allem in Asien - sahen in Woodrow Wilson einen Verbündeten gegen den europäischen Imperialismus, der ihren Ländern seit Jahrhunderten zugesetzt hatte. An der Pariser Konferenz nahm eine Delegation Chinas teil, das 1917 in den Krieg eingetreten war.
Die Chinesen hofften, im Friedensvertrag die bisherigen deutschen Besitzungen auf der Shandong-Halbinsel an ihrer Pazifikküste zugesprochen zu erhalten, die 1914 von japanischen Truppen erobert worden waren. Wilson unterstützte den chinesischen Anspruch, konnte sich aber gegen die europäischen Alliierten nicht durchsetzen, die von ihren Zusagen an den Bündnispartner Japan nicht abrücken wollten und generell am Prinzip kolonialer Beherrschung der außereuropäischen Welt festhielten. Sie ließen sich lediglich das Zugeständnis abringen, die bisherigen deutschen Kolonien nicht unmittelbar zu annektieren, sondern als "Mandatsgebiete" des Völkerbundes zu verwalten.
In China kam es zu Massenprotesten gegen den Verlauf der Pariser Konferenz. Die chinesische Delegation reiste ab, ohne das Vertragswerk zu unterzeichnen. Für viele außereuropäische Politiker lag die Schlussfolgerung auf der Hand, so der Historiker Jörn Leonhard, dass den Freiheits- und Gleichheitsversprechungen des Westens nicht zu trauen gewesen sei:
"Dieses Moment der Enttäuschung über die Ergebnisse in Paris hat sicherlich (…) dazu beigetragen, dass man sich auf die Suche nach neuen Alternativen bewegt. Dass das dann irgendwann der Kommunismus sein wird, ist 1919 noch nicht ausgemacht, aber diese Generation von jungen Männern, Deng Xiaoping, Tschou Enlai, aber auch Ho Tschi Minh, der spätere Führer der vietnamesischen Befreiungsbewegung, für die ist dieser Moment Paris 1919 ein zentraler biographischer Moment, ohne Zweifel."
Folgen für den Nahen und Mittleren Osten
Ein Hauptthema der Pariser Konferenz war die Neugestaltung der politischen Geografie des Nahen Ostens. Auch hier stießen US-Präsident Wilson sowie eine arabische Delegation unter Leitung des Haschemitenprinzen Faisal auf Verabredungen, die die europäischen Alliierten bereits während des Krieges untereinander getroffen hatten, und von denen sie jetzt nicht mehr abzurücken gedachten.
Die Delegation des Hedjaz auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, vorne zu sehen Prinz Faisal, dahinter rechts T.E. Lawrence.
Die Delegation des Hedjaz auf der Pariser Friedenskonferenz 1919, vorne Verhandlungsführer Prinz Faisal, rechts dahinter T.E. Lawrence (Imperial War Museum, London, Q 55581)
In Mai 1916 hatte sich der französische Generalkonsul in Beirut François Georges-Picot mit dem britischen Diplomaten Mark Sykes über die Aufteilung der Besitzungen des Osmanischen Reiches auf der Arabischen Halbinsel zwischen ihren beiden Ländern verständigt. Die Grenzen, die sie auf die Karte zeichneten, strukturieren die Region bis heute. Jörn Leonhard:
"Für mich besteht kein Zweifel darin, dass die Probleme des Nahen und Mittleren Ostens unmittelbar eine Erbschaft dieser Suche nach einer Friedensordnung darstellt. Das kann man daran erkennen, dass 1919 für diesen Raum drei Ordnungsmodelle existieren. Einmal Sykes-Picot, die Absprachen zwischen Paris und London 1916 zur Aufteilung dieser Erbmasse des Osmanischen Reiches, wenn man so will, die Fortsetzung klassischer europäischer Kolonialpolitik. Das zweite Modell, eine Art von panarabischem Staat, das ist den Arabern in irgendeiner Form auch während des Krieges für ihren Einsatz gegen die Osmanen in Aussicht gestellt worden, deshalb eine arabische Delegation in Paris. Und das dritte, 1917 mit der Balfour-Declaration angedacht, die Gründung eines eigenen Staates für die Juden. Und wenn Sie diese drei Modelle nebeneinander legen, dann wird klar, welche enormen Spannungen in dieser Region entstanden sind."
Es war die Abwicklung eines jahrhundertealten multiethnischen Imperiums, die im Nahen Osten eine Zone dauernder Instabilität hinterlassen hatte. Neue Grenzen wurden auch im südöstlichen Europa gezogen, wo bis 1918 das habsburgische Vielvölkerreich bestanden hatte, mit vergleichbaren Folgen.
Zwei der Nachfolgestaaten, die Tschechoslowakei und Jugoslawien, existieren nicht mehr. Der ungarische Nationalismus, dem ein Viktor Orbán viel von seiner Popularität verdankt, zehrt bis heute vom Trauma der rabiaten Beschneidung des einstigen Staatsgebiets um zwei Drittel. Als Ende 1991 die Bundesregierung die neuen Staaten Slowenien und Kroatien anerkannte, während Briten und Franzosen noch am Bestand Jugoslawiens festhielten, kursierte in Europa der Verdacht, den Deutschen gehe es um eine späte Revision des Versailler Vertrages. So zeigte sich: Dauerhafter als die in Versailles geschaffene Staatenordnung waren die damals erzeugten Ressentiments. Sie berühren in manchen ihrer Aspekte noch unsere Gegenwart.