Archiv

100 Jahre "Friedensvertrag von Sèvres"
Harte Bedingungen, deren Folgen noch zu spüren sind

Das Osmanische Reich hatte den Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands verloren. Mit dem Vertrag von Sèvres wollten die Siegermächte, darunter Frankreich und Großbritannien, harte Friedensbedingungen diktieren. Doch der Vertrag wurde nie umgesetzt, der Widerstand war zu groß.

Von Otto Langels |
    Abbildung der Seine bei Sèvres im Jahre 1810
    Die Seine bei Sèvres im Jahre 1810 (imago stock&people)
    "Der Kaiserlichen Osmanischen Regierung wurde am 30. Oktober 1918 von den wichtigsten Alliierten Mächten ein Waffenstillstand gewährt, damit ein Friedensvertrag geschlossen werden kann. Die Alliierten haben den Wunsch, dass der Krieg durch einen festen, gerechten und dauerhaften Frieden ersetzt werden sollte."
    Mit diesen Sätzen beginnt der Friedensvertrag, der am 10. August 1920 zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland und weiteren Siegermächten des Ersten Weltkriegs und dem Osmanischen Reich im Pariser Vorort Sèvres geschlossen wurde.
    "Der Kernpunkt des Friedensvertrags von Sèvres ist im Grunde genommen der Versuch der Sieger von 1918, vor allen Dingen der westlichen Alliierten Großbritannien und Frankreich, das Osmanische Reich auf einen Rumpfstaat zu reduzieren", erklärt der Freiburger Historiker Jörn Leonhard. "Das Interessante an diesem Friedensvertrag von Sèvres vom Sommer 1920 ist, dass er ein Restreich markiert hätte, das kaum überlebensfähig gewesen wäre."
    Türkei, Istanbul: Menschen stehen in türkische Nationalflaggen gehüllt vor der Hagia Sophia
    Ende des Osmanischen Reiches - Neue Wertschätzung für einen alten Mythos
    Die Alliierten wollten den Türken als Kriegsverlierer nach dem Ersten Weltkrieg nur noch ein anatolisches Kernland lassen. Der Plan löste Widerstand aus, führte zur Abdankung des Sultans und zur Gründung der heutigen Türkei.
    Harte Friedensbedingungen
    Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sahen die Siegermächte vor allem im Deutschen und Osmanischen Reich den Ursprung aller großen Konflikte. So wollte der britische Premierminister David Lloyd George die Niederlage der Türken dazu nutzen, die "blutige Tyrannei des Sultanats" zu beenden.
    "Wenn die Friedensbedingungen verkündet werden, wird man sehen, zu welch harten Strafen die Türken wegen ihrer Verrücktheit, ihrer Blindheit und ihrer Morde verurteilt werden."
    Bereits ein Jahr zuvor hatten die alliierten Siegermächte dem Deutschen Reich im Versailler Vertrag harte Bedingungen für einen Frieden diktiert. Versailles diente als Modell für die Verhandlungen in Sèvres, einem weiteren der sogenannten Pariser Vorortverträge mit den Staaten, die den Krieg verloren hatten.
    Neuzeithistoriker Jörn Leonhard am 10. Januar 2020 in Saarbrücken
    Versailler Vertrag - "Ein globaler Moment"
    Der Versailler Vertrag sollte die Welt neu ordnen, sagte der Historiker Jörn Leonhard im Dlf. Doch er wurde nicht allen gerecht: Politiker aus dem asiatischen Raum etwa hätten die Kriegsleistung ihrer Gesellschaften nicht anerkannt gesehen.
    Jörn Leonhard dazu: "Und im Fall des Osmanischen Reiches geht es, wenn man so will, um die Neuordnung nicht nur des südöstlichen Mittelmeerraums, es geht um die arabische Halbinsel, es geht um Ägypten, es geht um Nordafrika, also es geht im Grunde genommen um eine ganze große Einflusszone mit zukünftig enormer Bedeutung."
    Die neuen Grenzen ließen das riesige Osmanische Reich zu einem dörflich-landwirtschaftlichen Staat in Zentralanatolien schrumpfen. Die übrigen Territorien gingen an die Siegermächte oder wurden als Mandate dem Völkerbund übertragen. Die Briten sicherten sich Einflusszonen in Mesopotamien, Ägypten und Palästina, die Franzosen im heutigen Libanon und im großsyrischen Raum, Griechen und Italiener im Kernland Türkei.
    Probleme begleiten die Türkei bis in die Gegenwart
    Die Armenier hingegen bekamen einen eigenen Staat zugesprochen, wie Hörn Leonhard erklärt: "Das ist auch noch mal eine Reaktion auf die große internationale Aufmerksamkeit, die es für den Genozid an den Armeniern nach 1918 gab. Die Kurden erreichen diesen Status nicht. Aber man sieht vor, dass es eine Autonomiezone gibt. Und man könnte sagen, beide Probleme begleiten die Türkei bis in die Gegenwart."
    Der Friedensvertrag von Sèvres enthielt außerdem zahlreiche Bestimmungen zur Innenpolitik, unter anderem zur Finanz- und Justizverwaltung; ein Widerspruch zu den erklärten Absichten der Pariser Vorortverträge. Letztlich gaben sie damit der Protestbewegung Mustafa Kemals Auftrieb, der unter dem Namen Atatürk bekannt wurde und den Widerstand gegen die griechischen und italienischen Besatzungstruppen organisierte.
    "Dieses Gefühl, dass die Souveränität der Türken permanent verletzt wird, ist ein ganz entscheidendes Argument für diesen Widerstandskampf von Mustafa Kemal, der dann eben die Sultans-Regierung als eine Marionetten-Regierung der Alliierten porträtiert, um diesen Kampf zu beginnen", sagt Jörn Leonhard.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beim ersten Freitagsgebet in der Hagia Sophia nach der Umwandlung in eine Moschee in Istanbul, am 24. Juli 2020. 
    Hagia Sophia, die "neo-osmanische" Moschee
    Türkische Nationalisten beziehen sich immer wieder aufs Osmanische Reich. Der Religionswissenschaftler Markus Dreßler meint, bei der Rückumwandlung der Hagia Sophia gehe es auch um Identitätspolitik.
    Vertrag wurde nie ratifiziert
    Mit dem Vormarsch der Protestbewegung unter Mustafa Kemal, der den Friedensvertrag ablehnte, schwand die Hoffnung, die ausgehandelten Vereinbarungen umzusetzen. Zudem stellte sich bald heraus, dass Großbritannien und Frankreich überfordert waren, der Verantwortung für weite Teile des Nahen und Mittleren Ostens gerecht zu werden. Der Historiker Jörn Leonhard:
    "Regionale Aufstände in Syrien, im Irak, das Glaubwürdigkeitsdefizit des Westens im Nahen Osten bis in die Gegenwart resultiert auch aus dieser ganz besonderen Nachkriegsgeschichte."
    Angesichts der Vielzahl ungelöster Probleme wurde der Vertrag von Sèvres nie ratifiziert, drei Jahre später folgte eine Revision im Friedensvertrag von Lausanne. Die Türkei unter Kemal Atatürk erhielt die volle Souveränität als national definierter Staat in den bis heute gültigen Grenzen, die Vertreibung und Ermordung von Armeniern und Griechen wurde nachträglich legitimiert.