Berlin. Das E-Werk, einst Umspannwerk, heute ein Veranstaltungsort. Künstler schlagen auf Heizungen und Rohre und wecken Assoziationen an frühere Fabrikarbeit. Gefeiert wird das 100-jährige Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation, kurz ILO. Ihr Generaldirektor Guy Ryder verweist bei der Pressekonferenz auf das schwierige Umfeld.
"Wir feiern das hundertjährige Bestehen der ILO heute unter besonderen Umständen. Die multilaterale Zusammenarbeit steht unter Druck, und die ILO ist Teil des multilateralen Systems. Ich denke, wir teilen die Verantwortung, zeigen zu müssen, dass der Multilateralismus Ergebnisse bringt."
Ryder spricht von dem rasanten, tiefgreifenden und globalen Wandel der Arbeitswelt. Menschen seien tief verunsichert. Sie verlangten Antworten auf grundlegende Fragen, wollten wissen: Wie sehen ihre Jobs morgen aus? Wie werden die Arbeitsmärkte in Zukunft organisiert?
Durch Digitalisierung entstehen in der Welt der Arbeit neue Probleme, dabei sind die alten Probleme noch ungelöst. Weltweit existieren immer noch in erheblichem Ausmaß Ausbeutung, Kinderarbeit und sogar Sklaverei. Mehr als die Hälfte der Arbeitenden verdient mit nicht formellen Tätigkeiten ihren Lebensunterhalt, meist prekär und ungesichert. Durch Arbeit kommen mehr Menschen um als durch Krieg und Terror - täglich 6.400.
187 Staaten machen mit
Über all das führt die ILO Buch, seit 1946 als Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Es ist die einzige UN-Organisation, bei der neben den Regierungen auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit am Tisch sitzen und entscheiden. Der soziale Dialog prägt die ILO, bei der bis auf einige Zwergstaaten und Nordkorea alle Staaten der Welt mitmachen – 187. Ziel der ILO ist: Soziale Gerechtigkeit und anständige Arbeit.
Die Grundlagen für die ILO wurden 1919 bei den Friedensverhandlungen in Versailles gelegt. Miterlebt hat es Franklin D. Roosevelt, später, von 1933 bis 1945, US-Präsident.
"Die International Labor Organisation, war ein Traum. Für viele ist es ein wilder Traum. Wer hätte je davon gehört, dass Regierungen zusammenkommen, um die Arbeitsbedingungen auf internationaler Ebene zu verbessern? Wilder war noch die Idee, dass die Menschen selbst, die direkt betroffen waren – die Arbeiter und Arbeitgeber der verschiedenen Länder – mit der Regierung bei der Festlegung dieser Arbeitsstandards Hand in Hand zusammenarbeiten sollten."
Anfang 1919 fanden viele Gewerkschaftsführer und Politiker aus Europa und den USA, dass ungerechte Arbeitsbedingungen eine zentrale Ursache des Weltkrieges gewesen seien. Im Ausschuss für Internationale Arbeitsgesetzgebung in Versailles war man sich einig: ein regulierter und organisierter Markt, der Menschen hilft, höhere soziale Standards zu erreichen, sei das Ziel. Die Gründer der ILO träumten von einem sozial eingebetteten Kapitalismus. Nach der Weltwirtschaftskrise formulierten sie 1944 in ihrer Erklärung von Philadelphia den Anspruch: "Arbeit ist keine Ware."
Weltweit geltende Regeln mussten her
Eine Utopie? Ein frommer Wunsch? Sozialhistoriker Jürgen Kocka: "Mit einigen wenigen Ausnahmen ist also überall ein Wirtschaftssystem dominant, in dem Arbeit eine Ware ist. Aber in den letzten hundert Jahren hat gleichzeitig in fast allen Gebieten, mehr im globalen Norden als im globalen Süden, die Tendenz zugenommen, Arbeit zu regulieren, zu schützen und damit den Marktmechanismus ein Stück weit zu bremsen, zu mildern, zu ergänzen, auch zu korrigieren: Sozialpolitik, beispielsweise die Internationale Arbeitsorganisation, drängt in diese Richtung und hat insofern ein bisschen beigetragen, dass ihr Leitsatz, Arbeit soll keine Ware sein, jedenfalls nicht mehr in dieser Schärfe zu beklagen ist wie früher."
Die Gründer der ILO sahen, dass die Volkswirtschaften miteinander konkurrierten. Doch Arbeitsbedingungen, befanden sie, sollten kein Mittel dafür sein, Wettbewerbsvorteile zu erringen. Daher müssten weltweit geltende Regeln her. Bis heute hat die ILO 189 Übereinkommen beschlossen.
"Zu Arbeitslosigkeit. Arbeitssicherheit. Mutterschutz. Nachtarbeit von Frauen. Mindestalter für Jugendliche. Gegen Zwangs- und Kinderarbeit. Gegen Diskriminierung. Für gesunde und sichere Arbeitsbedingungen. Für die Vereinigungsfreiheit."
Wer die Wirksamkeit der ILO beurteilen will, muss genau hinschauen. So sind die heutigen Arbeitsbedingungen in Europa, verglichen mit den Anfangstagen des Kapitalismus, traumhaft. Verglichen mit den 1980er Jahren aber hat es Verschlechterungen gegeben, etwa durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors. Verglichen mit den Bedingungen vielerorts im globalen Süden sind natürlich selbst diese Bedingungen luxuriös.
"Eine UN-Institution, die sich selbst erhält"
Colin Gonsalves ist Menschenrechtsanwalt. Er hat vor dem Obersten Gerichtshof Indiens mit einer Musterklage das ‚Recht auf Nahrung für alle‘ durchgesetzt. 400 Millionen Inder haben deswegen heute Zugang zu subventioniertem Getreide. Was hat die ILO dort erreicht? Der Träger des alternativen Nobelpreises lacht.
"Ich glaube nicht, dass die Internationale Arbeitsorganisation irgendwo in den Entwicklungsländern viel Wirkung hat. Es ist eine dieser UN-Institutionen, die sich selbst erhalten. Ich glaube nicht, dass sie den armen Angehörigen der Arbeiterklasse im Rest der Welt hilft. Es ist an der Zeit eine sehr gründliche und unabhängige Bewertung der ILO vorzunehmen."
Wie mühsam Verbesserungen sind, zeigte sich schon bei dem ersten Übereinkommen zur Arbeitszeit. Es trat 1921 in Kraft - aus gutem Grund. Erbarmungslos lange Arbeitszeiten galten neben mieser Entlohnung, gefährlichen Arbeitsbedingungen und Unterdrückung von Gewerkschaften als ein Charakteristikum des frühen Kapitalismus. Die ILO beschloss: "Jeder Arbeitnehmer soll täglich maximal acht Stunden und wöchentlich nicht mehr als 48 Stunden arbeiten."
Bestandsaufnahme bei der Internationalen Arbeitskonferenz 2018 in Genf. Wie jedes Jahr sind für zwei Wochen vier Delegierte aus jedem Mitgliedsstaat angereist, zwei Regierungsvertreter und je ein Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter. Sie bilden das Parlament der ILO: Sie kontrollieren alte Regeln - und beschließen neue. Der Befund beim Thema Arbeitszeit fällt im zuständigen Ausschuss zur Normenkontrolle dürftig aus. Von der ersten Kernforderung der Arbeitskonferenz, dem Acht-Stunden-Tag in der Maximal-48-Stunden-Woche, spricht der Redner aus Belgien auf dem Podium, die Dolmetscherin trägt vor:
"Wir stellen aber fest, dass die Durchsetzung dieser Norm für viele Arbeitnehmende eine Illusion ist. Fast 80 Prozent der Arbeitnehmenden arbeiten noch mehr als 60 Stunden pro Woche in manchen Regionen."
Ständig Überstunden. Da passierten schnell Fehler, Unfälle, Verletzungen und noch Schlimmeres. Darüber spricht eine Delegierte aus dem Hightech-Land Südkorea. Rund 600 Selbstmorde stünden in Südkorea in Verbindung mit Arbeit, sagt die Gewerkschafterin, und rund 300 Arbeiter stürben jährlich an überarbeitungsbedingten Krankheiten. Aber das sind nur die Zahlen eines von mehreren Sozialversicherungsträgern.
Unterschiedliche Vorstellung von Flexibilität
In der Realität dürften es also noch mehr sein. Die Dolmetscherin im Saal der Arbeitskonferenz übersetzt: "Die Arbeitszeit ist ein Thema, das sich ständig ändert. Es braucht eine regelmäßige Anpassung an neue Realitäten. Flexibilität sowohl zeitlich wie räumlich ist das große Merkmal der neuen Welt der Arbeit."
Arbeitgeber verweisen auf Wünsche der Arbeitnehmer."Eine Umfrage aus dem Jahr 2016 zeigt, dass für 86 Prozent der Beschäftigten Optionen flexibler Arbeitszeit wichtig oder sehr wichtig sind für ihr Engagement bei der Arbeit. Aber das System versagt dabei, solche Optionen anzubieten."
Deutlich wird: Es gibt zwei völlig verschiedene Vorstellungen von Flexibilität. Arbeitnehmer erhoffen sich eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und privatem Leben. Unternehmen wollen dagegen menschliche Arbeit möglichst perfekt an ihren Bedarf anpassen.
Die Vorstellungen der ILO zu Arbeitszeiten gehen vielen Regierungen zu weit. Das Übereinkommen haben nur 53 Länder ratifiziert, 133 Länder nicht. Frank Hoffer, lange bei der ILO tätig:
"Nur eine Anekdote am Rande, also die erste ILO-Konvention war der Acht-Stunden-Tag, den hat dann erst niemand ratifiziert, dann haben es glaube ich Bulgarien und Rumänien ratifiziert, dann hat es Frankreich ratifiziert, hat gesagt, aber unsere Ratifizierung tritt nur in Kraft, wenn Großbritannien und Deutschland, die auch ratifizieren. Das war 1919 und im Jahre 2019 haben Deutschland und Großbritannien die Konvention Nr. 1 immer noch nicht ratifiziert."
Auf die Frage, warum das so sei, antwortet das Bundesministerium für Arbeit und Soziales: "Die in Deutschland geltenden und in der Praxis bewährten flexiblen Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes stehen einer Ratifikation des Übereinkommens entgegen".
Wer ratifiziert, wird auch kontrolliert
Die Vorstellungen der Delegierten aus den ILO-Mitgliedsstaaten darüber, was in der Welt der Arbeit reguliert werden sollte, gehen regelmäßig weiter, als daheim üblich. Forscherin Eva Senghaas-Knobloch, die gerade an einem Buch über die ILO schreibt:
"Ich glaube, das war immer eine Problematik, dass innerhalb dieser Internationalen Arbeitskonferenz die dort vorhandenen Delegierten durchaus gewillt waren, Übereinkommen zu befürworten, dass diese Delegierten aber oft innerhalb ihrer Regierungen keinen Rückhalt hatten."
Wenn Staaten Übereinkommen ratifiziert haben, müssen sie sich jedoch der Kontrolle der ILO stellen.
"Dazu gibt es einen ganz komplizierten Überwachungsmechanismus", erläutert Renate Hornung-Draus, seit Langem Vertreterin der Arbeitgeber in der deutschen Delegation bei der Internationalen Arbeitskonferenz. Gewerkschafter oder Arbeitgeber können sich über ihre Regierungen beschweren, wenn sie Übereinkommen im eigenen Land verletzt sehen. Dann befassen sich unabhängige Experten damit und können vor Ort die Sache untersuchen.
Renate Hornung-Draus :"Im schlimmsten Fall kann sogar das Land aus der ILO ausgeschlossen werden."
Aber das scheint die Staaten wenig zu schrecken. Einige Staaten müssen sich immer wieder wegen der gleichen Vergehen rechtfertigen, ohne dass sich etwas verbessert. Einen stärkeren Sanktionsmechanismus fordern Gewerkschafter bis heute. Auch Risher Mundenda aus Sambia: "Es braucht Strafen für Regierungen, die sich zu etwas verpflichten und es dann nicht umsetzen können."
Für Verfolgte ist der Rückhalt der ILO wichtig
Caroline Vollmann vom Deutschen Gewerkschaftsbund erklärt jedoch, dass schon die Debatten bei der ILO in Genf ein befreiendes Element haben können. "Für die Leute, die in diesen Ländern wirklich arbeiten und Repressalien täglich ausgesetzt sind, ist das auf jeden Fall wesentlich, auch ihre Regierung hier mal in Erklärungsnot zu sehen."
Für Verfolgte ist es wichtig, wenn ihnen die ILO den Rücken stärkt. Daran hat der legendäre südafrikanische Freiheitskämpfer und spätere Staatspräsident Nelson Mandela 1990 vor der Arbeitskonferenz erinnert.
"Ich möchte Ihnen versichern, dass wir alle in Robben Island und anderen Gefängnissen trotz der Dicke der Gefängnismauern Ihre Stimmen hören konnten, die unsere Freilassung sehr deutlich forderten. Dadurch haben wir Mut geschöpft."
Nach dem Mauerfall, als sich der Kapitalismus als Wirtschaftssystem weltweit durchsetzte, fand die ILO seltener Gehör. Bestes Beispiel ist die Transformation in Mittel- und Osteuropa. Die meisten Regierungen setzten nicht auf staatliche Regulierung, sondern auf die Vorschläge marktradikaler Ratgeber.
Arbeitsforscherin Eva Senghaas-Knobloch: "Ich würde sagen, also spätestens seit der wirklichen Heraufkunft einer neoliberalen Politik, die sich vor allem auf die Vermarktlichung aller möglichen, bisher auch staatlich organisierten Regelungen verlässt, dort sind also diese Einsichten der Erklärung von Philadelphia verloren gegangen und haben auch zu der Marginalisierung der Internationalen Arbeitsorganisation vermutlich bis ungefähr zur Finanzkrise 2007/2008 geführt."
Informelle Arbeit wurde lange übersehen
Die ILO bemerkte, dass es sinnlos war, ständig neue Regeln zu verabschieden, wenn diese immer weniger umgesetzt würden. 1998 formulierte die ILO die so genannten Kernarbeitsnormen. Sie haben laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit den "Charakter von universellen Menschenrechten, die für alle Länder – unabhängig vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung – Gültigkeitsanspruch haben:
"Vereinigungsfreiheit, Verbot von Zwangsarbeit, Gleichheit des Entgelts, Verbot von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf, Mindestalter für Beschäftigung."
Die Kernarbeitsnormen wurden eine zentrale Referenzgröße für Institutionen wie die OECD, wenn sie Empfehlungen für Unternehmen entwarf. Außerdem beziehen sich Unternehmen bei Bestellungen im globalen Süden auf die Kernarbeitsnormen, wenn sie etwa ihre Zulieferer auf Arbeitsstandards verpflichten wollen.
Arbeitgebervertreterin Renate Hornung-Draus lobt die Kernarbeitsnormen: "Sind insofern auch wirklich ein Grundsatz, ein Pfeiler geworden, der sozialen Dimension der Globalisierung."
Trotz hehrer Absichten ihrer Gründer hatte die ILO anfangs große blinde Flecken: Denn die Regeln galten nicht in den Kolonien. Daran hatten die imperialistischen Staaten kein Interesse. Mit der Unabhängigkeit der Kolonien war dieser Missstand beseitigt, ein anderer blinder Fleck blieb: Zuständig war die ILO nur für formell Beschäftigte. Das entsprach der Vorstellung von Arbeit in den Industrieländern. Informelle Arbeit übersah man lange.
Anfang der 1970er Jahre schaute sich die ILO dann die globale Arbeitswelt im Süden an und stellte fest: Arbeitslosigkeit wie in Europa gab es dort nicht. Wer überleben will, muss arbeiten und tut dies meist ohne Vertrag. So wie in Simbabwe, wo heute 94 von 100 Menschen informell arbeiten. Thema bei der Arbeitskonferenz in Genf.
Verschiebung zu prekärer Arbeit
Lorraine Simbanda ist die Präsidentin von Streetnet. Die Organisation vertritt 550.000 Arbeitende aus 47 Ländern – vor allem Straßenhändlerinnen.
Es gebe eine Verschiebung von formeller zu informeller und prekärer Arbeit, sagt sie. Es brauche deswegen mehr Mitsprache bei der ILO für informell Beschäftigte. Die ILO hatte das Thema immer wieder vertagt, dann aber 2011 mit dem Übereinkommen für Hausangestellte eine erste Regelung für eine Gruppe informell Beschäftigter geschaffen.
Noch ist die Welt weit von dem Ziel "anständige Arbeit für alle" entfernt. Verfechter einer humanen Arbeitswelt sollten sich trotzdem unbedingt weiter zusammentun, weltweit, sagt Sozialhistoriker Jürgen Kocka.
"Ich sehe nicht, dass es Alternativen zur marktförmigen Regulierung der Arbeit wirklich gibt, es sei denn unter Verzicht auf andere Errungenschaften, des Wohlstands, der Wohlfahrt auch der Freiheit, die uns lieb und teuer sind. Wenn das so ist, spricht sehr viel dafür, sich für diese reformerischen, Schritt für Schritt vorangehenden, und auch trotz Enttäuschungen weiter existierenden Politikformen einzusetzen, wie sie etwa von der Internationale Arbeiterorganisation vertreten wird - und zwar auch dann, wenn man nicht besonders zuversichtlich ist, dass dies in absehbarer Zeit zu schlagenden Erfolgen führen wird."