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100 Jahre Internationaler Gerichtshof in Den Haag
Ein Angebot an die Vernunft der Völker

Prozesse statt Kriege - die Idee eines Weltgerichtshofs hatte es zumal nach großen Kriegen immer wieder gegeben. So auch 1920, als der gerade gegründete Völkerbund den Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag ins Leben rief. Zum Machtfaktor ist das Gericht bis heute nicht geworden.

Von Christoph Schmitz-Scholemann |
    Vor dem Gebäude des Internationales Strafgerichtshofs in Den Haag weht am 09.06.2017 eine Fahne des Gerichts
    Das neue Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs IStGH in Den Haag (imago / Peter Seyfferth)
    Um Punkt zehn Uhr begann am 13. Dezember 1920 in Genf die 20. Plenarsitzung des Völkerbunds. Der Präsident verkündete die Tagesordnung:
    "Aufgerufen ist die Beratung über den Bericht der Dritten Kommission über das Projekt der Einrichtung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofs."
    Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigt einen mondänen Saal mit  elegant gekleideten Männern an Tischreihen:    Die Delegierten der ersten Sitzung des Völkerbundes wenden sich dem Fotografen zu. Die Delegierten treffen sich am 15. November 1920 zur konstituierenden Sitzung in Genf. Mit den Versailler Vertraegen, die den Ersten Weltkrieg vertraglich beendeten, war auch der Voelkerbund gegründet worden.
    Konstituierende Sitzung des Völkerbunds am 15. November 1920 in Genf: gut vier Wochen später beschloss das Gremium hier die Einrichtung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in Den Haag (picture alliance / PHOTOPRESS-ARCHIV)
    Hinter der spröden Ankündigung verbarg sich ein epochales Vorhaben: Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sollte ein Weltgerichtshof errichtet werden. Versuche, Streitigkeiten zwischen Völkern nicht auf dem Schlachtfeld, sondern vor Gericht austragen zu lassen, hatte es seit dem Altertum immer wieder gegeben. Über kurz oder lang waren sie alle gescheitert. Doch angesichts der Schrecken des Ersten Weltkriegs sahen die damaligen Siegermächte 1919 die Zeit für ein neues, weltumspannendes Friedensprojekt gekommen. Sie gründeten den Völkerbund, den Vorgänger der heutigen Vereinten Nationen, und schrieben in die Friedensverträge:
    "Der Rat des Völkerbundes wird mit dem Entwurf eines Planes zur Errichtung eines ständigen internationalen Gerichtshofs betraut. Dieser Gerichtshof befindet über alle ihm vorgelegten internationalen Streitfragen."
    Bis heute gibt es kein von allen Staaten anerkanntes Völkergesetzbuch
    Ein Jahr brauchte ein internationaler Kreis von Juristen, um sich auf den Entwurf eines Statuts für den Gerichtshof zu einigen: Fünfzehn Richter sollten dem Gerichtshof angehören, als Sitz des Gerichts wurde Den Haag festgelegt, Gerichtssprachen waren Französisch und Englisch. Und auch für die überaus heikle Auswahl der Richter, die ja unparteiisch sein sollten, hatte das Statut eine Lösung: "Jede Gruppe darf bis zu vier Personen vorschlagen, nicht mehr als zwei der eigenen Nationalität." Die endgültige Auswahl trafen dann die Mitglieder des Völkerbunds durch Mehrheitsentscheidung. Aber welches Recht sollten die Richter anwenden? Das war das Kernproblem. Denn es gab – und es gibt bis heute – zwar viele internationale Verträge und Konventionen, aber kein von allen Staaten anerkanntes Völkergesetzbuch. Und die Gelehrten sind schon bei der Grundfrage zerstritten, warum das Völkerrecht überhaupt gilt, ob von Natur aus oder kraft Vertrag oder Gewohnheit. Das Statut des Gerichtshofs sagt:
    "Der Gerichtshof wendet an:
    1. Internationale Konventionen
    2. Internationalen Brauch, als Beweis für eine allgemeine Praxis
    3.Die allgemeinen Prinzipien des Rechts, die von den zivilisierten Völkern anerkannt sind"
    Konferenz der 122 Mitgliedsstaaten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag am 21.11.2013. Die Anklage gegen Kenias Präsident Uhuru Kenyatta steht im Zentrum der Konferenz in Den Haag. Diplomaten und Minister aus mehr als hundert Ländern diskutieren diese Woche (bis 28.11.13), wann sich Präsidenten vor Gericht verantworten müssen. 
    Das Prinzip "Recht statt Krieg" Ein Streitgespräch
    Seit einigen Jahren hat der Jahrhundertkonflikt zwischen Israel und Palästina einen neuen Schauplatz: Den Haag. Palästina hat vor dem Internationalen Gerichtshof und dem Internationalen Strafgerichtshof eine Reihe von Verfahren anhängig gemacht. Ein Streitgespräch zwischen zwei internationalen Juristen.
    Das klingt nicht besonders konkret. Trotzdem gab es auch damals schon gewisse Regeln, die tatsächlich allgemein anerkannt, wenn auch nicht immer befolgt wurden: Etwa, dass Diplomaten Schutz genießen, dass Kriegsgefangene nicht misshandelt werden dürfen und, am wichtigsten, dass Staaten untereinander die von ihnen geschlossenen Verträge auch einhalten müssen. Weitere Regeln, das war die Idee des Statuts, sollte der Gerichtshof im Laufe der Jahre anhand der ihm vorgelegten Streitfälle nach und nach selbst entwickeln.
    Man vertraute auf das Licht der Vernunft - wie der Vertreter Frankreichs als Schlussredner der Plenarsitzung unter dem donnernden Applaus der Versammlung ausrief: "Lassen Sie mich in drei lateinischen Worten meine Grundüberzeugung zum Ausdruck bringen: Ubi lux, ibi ius, ibi pax! Wo Licht ist, ist Recht, wo Recht ist, ist Frieden."
    Rapide sinkende Autorität vor dem Zweiten Weltkrieg
    Am Abend des Sitzungstages stimmte der Völkerbund der Errichtung des Gerichtshofs zu. Die Richter nahmen ihre Arbeit auf.
    Grenzverläufe, Schifffahrtsangelegenheiten, Schutz ethnischer Minderheiten, das waren nur einige der Themen. Anders als innerstaatliche Gerichte, deren Urteile notfalls mit Gewalt vollstreckt werden können, sind internationale Gerichte letztlich darauf angewiesen, dass die Staaten sich freiwillig an die Urteile halten. Die dazu nötige moralische Kraft schwand in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg rapide. Als Deutschland 1940 in die Niederlande einmarschiert war, stellte der Gerichtshof seine Arbeit ein. Und doch: Ein Jahr nach Kriegsende schufen die soeben gegründeten Vereinten Nationen einen neuen Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
    Ein Machtfaktor ist auch dieses Gericht bis heute nicht geworden - aber zumindest eine Mahnung und ein Angebot an die Vernunft der Völker.