Michael Köhler: Das gerade erschienene Buch der russischen Germanistin und Publizistin Irina Scherbakowa heißt "Die Hände meines Vaters" und deutet schon im Titel eine sehr persönliche Sicht auf die Ereignisse vor hundert Jahren, auf die Oktober-Revolution von 1917.
Im Untertitel heißt es "Eine russische Familiengeschichte". Es ist ihre Familiengeschichte im 20. Jahrhundert. Irina Scherbakowa ist Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation und NGO "Memorial", die Zeitzeugen befragt und den Opfern des Stalinismus eine Stimme gibt.
Für Armut und Elend hatten die Oktober-Revolution und Lenin einfache Lösungen: das Land den Bauern, Fried den Völkern und Brot den Hungernden. Doch es kam anders.
Wir wollen jetzt nicht fragen, ob der Oktober 1917 ein Putsch, ein Aufruhr oder eine Revolution war. Nicht nur Rosa Luxemburg sagte im Frühjahr 1917 "Ein Fenster hat sich geöffnet". Auch ihre Großmutter schreibt als junge Frau im Frühjahr 1917: "So viel Aufregendes! Das Leben klopft an die Tür, das neue Leben!"
Was wurde vor hundert Jahren so euphorisch begrüßt, was verabschiedet?
Irina Scherbakowa: Meine Großeltern, vor allem mein Großvater natürlich, gehören wirklich zu den jungen Menschen, die, wie wir jetzt sagen würden - damals haben sie das natürlich nicht so gedacht - ganz Linke waren, in dem Sinne, dass sie an die sozialistische Utopie ganz fest geglaubt haben, vor allem mein Großvater, wirklich an die soziale Gerechtigkeit, an die Brüderlichkeit, an den Internationalismus und alle diese Sachen. Das muss man sich auch vorstellen, vor allem für meine Familie. Das ist ein kleines Städtchen in Westrussland, wo eigentlich die Juden sehr wenig Möglichkeiten haben.
Begeisterung für den Umsturz und Neubeginn
Köhler: Eine kleine Stadt: Starodub in Westrussland. Eine Handelsstadt war das.
Scherbakowa: Ja, ja. Und plötzlich fallen alle Schranken weg, und auch für die Frauen, vor allem für meine Großmutter, die Ärztin sein wollte, und das war ja recht schwierig, ehrlich gesagt. Plötzlich ist alles offen und plötzlich gibt es auch eine ganz andere Einstellung zur Frau. Und ich muss ja sagen: Jahre später, Jahrzehnte später, nachdem wir so kritisch waren zu all dem, was später passiert ist, hat meine Großmutter zur Rechtfertigung immer nur gesagt, ihr habt nicht gesehen, wie das Leben im Städtchen oder in den russischen oder weißrussischen Dörfern aussah, wie viel Elend. Wir haben gedacht, wir schaffen das.
Köhler: Sie zitieren diesen Brief, als Sie selber als junges Mädchen schon kritisch über die Machtergreifung der Bolschewiki in Russland nachdachten. Da hat Ihre Großmutter erinnert, ihr habt nicht gesehen, wie das russische Dorf vor der Revolution lebte, wie sehr wir uns sofortige Veränderungen gewünscht haben. - Frau Scherbakowa, Sie haben aus der Zeit ein kleines Relikt bewahrt, einen Porzellanteller, ein Stück von einem Teller.
Scherbakowa: Ja!
Köhler: Was erzählt dieser Teller für eine Geschichte?
Scherbakowa: Das ist ein Teller aus dem Porzellanladen meiner Urgroßmutter oder wahrscheinlich sogar Ur-Urgroßmutter. Das ist eigentlich das einzige Stück, das wir aus dem Haus meiner Urgroßmutter noch haben. - Ja, das ist diese Geschichte einer jüdischen Familie, würde ich sagen, in Russland, und auch eine Entscheidung dieser Familie, nicht auszuwandern, sondern in Russland zu bleiben.
"Sehr einfache populistische Lösungen"
Köhler: Ja, denn das war ja die Frage: Assimilation, Radikalisierung, Emigration. Vor dieser Frage stand man, nicht wahr?
Scherbakowa: Ja, ja. Das war die Entscheidung. Nach den blutigen Pogromen der ersten russischen Revolution 1905-1907 müssen sich die Juden entscheiden, und viele, viele sind weggegangen, auch einige Verwandte, auch einige Bekannte. Meine Urgroßmutter entschied sich dafür, in Russland zu bleiben, und wirklich zur Assimilation.
Köhler: Frau Scherbakowa, Sie haben gerade aus dem Brief Ihrer Urgroßmutter zitiert, wir haben uns sofortige Veränderung gewünscht. Wir reden über die Mitte des Jahres 1917: Armut, Elend, Schmutz. Sie beschreiben den Alkoholismus. Die Oktober-Revolution und auch Lenin; sie boten etwas an, nämlich einfache Lösungen.
Scherbakowa: Ja, sehr einfache populistische Lösungen. Aber mein Großvater hat daran geglaubt, eigentlich jahrzehntelang, trotz allem, trotz Terror. Deshalb ist er nach dem 20. Parteitag zusammengebrochen. Er hat zwar alles überlebt. Er war, man könnte sagen, ein Glückspilz, wurde nicht verhaftet, wie fast alle seine Freunde. Aber er ist daran zerbrochen, dass aus dieser Idee und aus dieser Utopie nicht nur nichts geworden ist, sondern etwas auch sehr Schreckliches.
Köhler: Lassen Sie mich daran anknüpfen, denn Ihr Großvater schreibt noch im Frühjahr 1917: "Was für eine Freude, was für ein Glück. Vor uns liegt die Freiheit. Vor 200 Millionen Menschen liegt die Freiheit." - Das heißt, zur Vorgeschichte des späteren Bürgerkriegs zählt auch die Gutgläubigkeit.
Scherbakowa: Ja - ja, ja. Er hat irgendwie fest daran geglaubt, dass man diese Utopie verwirklichen kann. Und was noch mehr war: Er hat auch an die Weltrevolution geglaubt, mein Großvater, weil er dann zu dem kominternen Mitarbeiter wurde, und er hat geglaubt, dass die Revolution jetzt in der ganzen Welt siegen wird.
Köhler: Und die hat man später als wurzellose Kosmopoliten beschimpft, in den Pogromen der 20er-Jahre und der großen Säuberung von '36, '38?
Scherbakowa: Ja.
Die Bedeutung der Literatur
Köhler: Auf Seite 100 fällt dann endlich der Titel Ihres Buches, Frau Scherbakowa: "Die Hände meines Vaters". Ich erinnere mich an eine Begegnung mit dem großen deutschen Schriftsteller Siegfried Lentz. Der hat gesagt: "Wenn Du wissen willst, wie viele Kriegsgefangene heimgekehrt sind, dann musst Du in das Geschichtslexikon gucken, in den Ploetz. Wenn Du wissen willst, was das bedeutet, dann musst Du Heinrich Böll und Wolfgang Borchert lesen." Oder - Frau Scherbakowa, dies meine Frage - wir müssen uns die Hände unserer Väter ansehen. Richtig?
Scherbakowa: Ja - ja, ja. Das trifft sehr zu und die Namen, die Sie jetzt genannt haben, auch von der deutschen Seite, würde ich sagen, die waren für meinen Vater von großer Bedeutung. Deutsch konnte er doch nicht. Er konnte Deutsch, aber er konnte nicht wirklich große Bücher lesen. Aber alles, was übersetzt worden war, von Anfang an aus der Kriegsliteratur, hat er sofort nicht nur gelesen, sondern verschlungen. Ich kann mich auch an seine Gespräche mit Heinrich Böll erinnern und auch mit anderen, mit ganz vielen. Davon schreibe ich in meinem Buch auch. Es war für ihn ungemein wichtig zu verstehen, was seine Gleichaltrigen auf der anderen Seite der Front gedacht haben, wie sie sich gefühlt haben damals. Das war für ihn eine ganz wichtige Geschichte.
Köhler: Sie beschreiben das: Ihr Vater war kriegsversehrt, ihm fehlte ein Teil des Unterarms, einige Finger fehlten. Und Sie knüpfen daran etwas sehr Wichtiges an, nämlich das Thema der Invalidität, der Kriegsversehrten wurde aus dem öffentlichen Bewusstsein buchstäblich verbannt in der Sowjetunion.
Scherbakowa: Ja - ja, ja. Weil das nicht passte. Es sollte eigentlich die Erinnerung an diesen grausamen Krieg in dieser Nachkriegszeit, die sollte eigentlich aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt werden.
Köhler: Das heißt, die sogenannten, ich glaube, man sagt Samowari, oder helfen Sie mir bitte …
Scherbakowa: Ja, Samowari.
Köhler: … die wurden als nutzlose Volksgenossen verbannt.
Scherbakowa: Schmarotzer, ja. Oder sozusagen aus den Straßen verbannt, manchmal, wenn sie obdachlos waren, und das waren sie zumeist. Also brachte man sie in fern gelegene spezielle Heime für die Kriegsinvaliden. - Ja, die sollten weg. Die sollten das Straßenbild nicht traurig machen, würde man sagen.
Erinnerung an die Verbrechen der Stalin-Zeit
Köhler: Ich glaube, Bertolt Brecht war es, der sagte, es ist nicht die Diktatur des Proletariats, sondern es ist die Diktatur über das Proletariat, die dann begann.
Scherbakowa: Ja, das stimmt. Ja, ja, ja.
Köhler: Frau Scherbakowa, wir sprechen mit Ihnen auch als Gründerin einer berühmten Non-Governmental Organisation, einer Nichtregierungsorganisation, einer Menschenrechtsorganisation "Memorial". Sie haben sich für die Erinnerung an die Geschichte und Verbrechen der stalinistischen Ära eingesetzt, Zeitzeugen befragt. Ist der sowjetisch-deutsche Krieg, der sogenannte vaterländische Krieg, sind die Säuberungen auch nach dem Krieg immer noch unaufgearbeitet in Russland?
Scherbakowa: Vieles ist aufgearbeitet. Ich würde sagen, das ist ein falsches Bild. Sehr viel ist aufgearbeitet. Sehr viel ist erforscht worden. In den 90er-Jahren war das eine immense Arbeit, auch in den Nuller-Jahren, und sie wird fortgesetzt, sowohl von den russischen als auch von den deutschen Historikern. Nur das bedeutet nicht, es gelang jetzt, würde ich sagen, propagandistisch vieles, was aufgearbeitet ist und auch gesagt wurde und geschrieben wurde, aus der öffentlichen Meinung zu verdrängen und wiederum ein Tabu aufzusetzen. Die Erinnerung an den wahren Krieg, an die Tragödie dieses Krieges soll durch dieses sozusagen patriotische Ikonenbild ersetzt werden. Das passiert heute und das ist sehr schmerzhaft. Und mein Vater hat sogar einmal gesagt, wir sollten wenigstens warten, bis wir alle, also Zeitzeugen und Teilnehmer, endlich weg sind. Dann könnten sie ihre Lügen weiterverbreiten, und das stimmt ja leider.
Köhler: Abschließend gefragt: Wir haben begonnen mit 1917. Es gibt manche Historiker, die sagen, es war nicht eine Revolution, es waren vier, fünf oder sechs Revolutionen gleichzeitig, nationale Revolution, Massenrevolution, demokratische, marxistische und so weiter. Aber es gab auch eine, nämlich das ist die Revolution innerhalb der Revolution. Das heißt, die Bolschewiki haben die Agenda bestimmt und haben ihre Diktatur errichten können...
Scherbakowa: Ja - ja, ja. Das ist ein Beispiel, eigentlich auch ein tragisches Beispiel, wie eine kleine, damals, würde ich sagen, radikale linke Partei sich durchsetzen konnte, populistische Parolen, und eigentlich die Menschen ins Irre leiten konnte, die ganz einfache Lösungen angeboten hat, die dann sehr schnell schon in einiger kurzen Zeit in einem wirklichen Terror mündeten. Das soll für uns alle nach wie vor, glaube ich, eine Lehre sein.
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