Drei Sonderzüge setzten sich Ende April 1919 in Berlin und Potsdam in Bewegung. In ihnen saßen rund 180 Delegierte, die auf der Pariser Friedenskonferenz die Position des besiegten Deutschlands vortragen wollten. Als die Züge um die Mittagszeit die belgisch-französische Grenze erreichten, reduzierten sie auf Geheiß der französischen Behörden ihre Geschwindigkeit. Im Schneckentempo fuhren sie durch die vom Krieg verwüsteten Landschaften Nordostfrankreichs. Denn dort hatte der Krieg ja vor allem getobt, nicht auf deutschem Boden. Victor Schiff, sozialdemokratischer Journalist, ist Mitglied der deutschen Delegation. Er notiert:
"Mit jedem weiteren Kilometer steigerte sich das Bild der Verwüstung. … Keine Häuser, … eine tief aufgewühlte Erde, keine Bäume, keine Äcker, nur ein Granattrichter neben dem anderen. Und Steine, Steine, Steine."
Im Pariser Hotel angekommen, durften die Deutschen sich nur in einem kleinen Umkreis frei bewegen. Und mussten noch über eine Woche warten, bis sie endlich zur Konferenz zitiert wurden, auf der die Siegerstaaten – unter Ausschluss der Deutschen - schon seit Januar verhandelten. Die Deutschen hatten den Krieg verschuldet – und als Schuldige, ja als Verbrecher behandelte man sie nun auch. Gerd Krumeich, emeritierter Professor für Neuere Geschichte schrieb 2018 ein Buch über das "Trauma des ersten Weltkriegs und die Weimarer Republik". Titel: "Die unbewältigte Niederlage".
"Es gibt keinen internationalen Vertrag, wo der Beschuldigte nicht eingeladen wird, teilzunehmen, sondern nur in schriftlicher Form ab April mit den Siegern diskutieren kann. - Das war eine Novität."
Große Teile der Welt müssen neu geordnet werden
Nach dem großen Schlachten, das nicht nur in Europa, sondern auch am Kaukasus und in den Wüsten des Orients stattgefunden hatte, mussten große Teile der Welt politisch und territorial neu geordnet werden. Die Hoffnungen auf eine friedvollere Zukunft richteten sich vor allem auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Sein Anliegen, einen Völkerbund zur künftigen Friedenssicherung zu schaffen sowie das "Selbstbestimmungsrecht" von Völkern zu realisieren, stieß international auf lebhaftes Interesse. Der Freiburger Historiker Prof. Jörn Leonhard, dessen Buch "Der überforderte Frieden" im vergangenen Jahr erschien:
"Woodrow Wilson hat mit der Idee des Völkerbunds ein Instrument angedacht, das Sicherheit anders herstellen soll, als das bisher war. Und seine Hoffnung ist, dass mit diesem neuen Schlagwort der "nationalen Selbstbestimmung" stabile demokratische Nationalstaaten entstehen. Und dann wird in Paris die große Frage gestellt, gilt das vielleicht auch für die Inder, die Ägypter, die Chinesen, die Vietnamesen?"
In der Folge des Krieges waren Vielvölker-Imperien untergegangen. Auf dem Boden des alten Habsburgerreichs Österreich-Ungarn hatten sich bereits neue Staaten wie Ungarn oder Polen gegründet. In Russland war der Zar gestürzt und die Bolschewisten hatten die Macht übernommen. Auch der Untergang des Osmanischen Reichs war besiegelt. Und was sollte aus den deutschen Kolonien in Asien und Afrika werden? Die Kartografen, die auch in Paris dabei waren, mussten an ihren Zeichentischen die Welt neu entwerfen.
"Die ganze Komplexität, das wird den Teilnehmern erst sukzessive bewusst, wie man dieser Dinge überhaupt Herr werden kann. Und am Ende eben nicht Herr wird. Es geht ja um nicht mehr und nicht weniger als um die Neuordnung der Welt, tatsächlich, und das innerhalb weniger Wochen oder Monate. Eine komplette Überforderung."
"Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt" heißt im Untertitel das Buch des Marburger Historikers Prof. Eckart Conze, dem er die Überschrift gab "Die große Illusion":
"Also, da ist schon die erste Illusion: die Idee, man könne innerhalb weniger Wochen, weniger Monate derart komplexe internationale, globale Fragen regeln, dauerhaft regeln. Das ist wirklich die allererste Illusion, die enttäuscht wird schon nach relativ kurzer Zeit."
Enttäuscht wurde auch die Vorstellung, man könne die diversen politischen Anliegen in der Vollversammlung aller Konferenzteilnehmer regeln. Stattdessen wurden Entscheidungen schließlich überwiegend in kleinem Kreis getroffen.
"Am Schluss bleiben die großen Vier, Frankreich, Großbritannien, Vereinigte Staaten und Italien und an manchen Stellen auch noch Japan."
Diese großen Vier – das waren der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, der britische Premierminister David Lloyd George und der Italiener Vittorio Emanuele Orlando. Sie ließen sich von 52 Kommissionen zuarbeiten, die mit den unterschiedlichsten Themen befasst waren. Das Pensum war immens, der Zeitdruck groß. Aus dem Terminkalender vom 22. April:
"Die Zukunft Elsass-Lothringens. Der Zuschnitt Syriens und Palästinas. Arrangements mit den Unterhändlern der Deutschen. Vorschläge zur Entmilitarisierung des Rheinlands. Amerikanische Garantien für Frankreich. Verhandlungen mit Japanern und Chinesen über japanische Gebietsansprüche in China. Italienische Ansprüche an der Adria."
Die deutsche Kriegsschuld
Und - wie sollte man mit den Deutschen umgehen? Angesichts von Millionen Toten, von Hundertausenden, die verstümmelt aus dem Krieg zurückgekommen waren, standen die Verhandlungen unter einem hohen emotionalen Druck.
"Das Besondere war, dass nach einem viereinhalbjährigen Krieg, fast einem totalen Krieg, wieder Frieden geschlossen werden sollte. Und es zeigte sich sehr schnell, dass das nicht so gut möglich war. Die Leute, die in Versailles saßen, mussten jederzeit damit rechnen, von ihrer zornigen Bevölkerung davon gejagt zu werden bei den nächsten Wahlen, wenn nicht etwas dabei heraus kam, was dem Einsatz irgendwie entsprochen hätte."
Die Friedensbedingungen, die der deutschen Delegation schließlich überreicht wurden, waren härter als erwartet. Die Hoffnung, dass der Friedensvertrag im Sinne Woodrow Wilsons milde für Deutschland ausfallen würde, wurde enttäuscht.
"Wir sind fern davon, jede Verantwortung, dass es zu diesem Weltkrieg gekommen ist, von Deutschland abzuwälzen. Aber wir bestreiten nachdrücklich, dass Deutschland, dessen Volk davon überzeugt war, einen Verteidigungskrieg zu führen, allein mit der Schuld belastet ist",
protestierte der deutsche Außenminister Ulrich Graf Brockdorff-Rantzau. Aber im Artikel 231 war die Alleinschuld der Deutschen am Krieg festgestellt. Und an diese alleinige Kriegsschuld hängten sich Forderungen nach Reparationszahlungen, nach Gebietsabtretungen, Rüstungsbeschränkungen, Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und Verkleinerung der Handelsflotte. Ein Sturm der Entrüstung ging bei Bekanntwerden der Vertragsbedingungen durch alle politischen und gesellschaftlichen Schichten in Deutschland.
"Das war nicht gut aushaltbar für die Deutschen. Angesichts der Tatsache, dass man doch überzeugt war, trotz aller Fehler im Juli 14, die man gemacht hatte, dass man eingekreist war und doch einen legitimen Verteidigungskrieg geführt hatte und dann mit so vielen Verlusten. Und dann wurde das Ganze in Versailles ganz klar und offen als ein Verbrechen bezeichnet."
Dolchstoßlegende
Aber auch wenn Gerd Krumeich den traumatisierenden Effekt dieses Kriegsschuldparagrafen für die junge Weimarer Republik erkennt, ist er der Überzeugung, dass Deutschland in der Tat die Schuld am Ersten Weltkrieg getragen hat. 1919 weisen die Deutschen das aber zurück. Stattdessen stellen sie zunehmend die Frage, wer überhaupt die Schuld an der deutschen Niederlage trage. Und ob das deutsche Militär denn wirklich im Herbst 1918 am Ende gewesen sei?
Ernst Busch:
"Wir sind nicht besiegt von französischen Flinten. / Die Heimat hat uns erdolcht – von hinten!",
sang Ernst Busch damals ironisch in seiner Ballade von der "Dolchstoßlegende". Der Kern dieser Legende war, dass die Soldaten "im Felde unbesiegt" vor allem durch die Vorgänge in der Heimat, durch Friedensinitiativen, linke politische Agitation, Streiks und Sabotagen zur Kapitulation getrieben worden seien. Gerd Krumeich versucht – im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Historikern - einen "wahren Kern" dieser Legende herauszufiltern.
"Es ist doch so, dass damals kaum jemand gesagt hat, die siegreich voranstürmende deutsche Armee wurde durch die Aktivitäten der jüdisch kommunistischen Bolschewisten am Siegen gehindert. Das ist die Nazi-Doktrin. Was aber viele dachten, wie etwa Max Weber, wie Rathenau und Troeltsch, die sagten: hätten wir noch ein bisschen länger durchgehalten und wäre die Revolution nicht gekommen, dann hätten wir wahrscheinlich einen besseren Waffenstillstand bekommen."
Allerdings widerspricht Jörn Leonhard seinem Kollegen in diesem Punkt ganz entschieden:
"Wir wissen, dass Deutschland militärisch den Krieg im Sommer / Herbst 1918 verloren hatte. Daran gibt es für mich keinen Zweifel. Die Deutschen haben ein massives Problem mit der Zahl von Soldaten, die getötet werden, die man nicht mehr ersetzen kann und es werden mehr U-Boote zerstört als nachgebaut werden. Aber in der Wahrnehmung der Zeitgenossen war die Wahrnehmung, es gibt eine Möglichkeit durch ein Durchhalten bis zum Schluss doch noch den Sieg zu erreichen."
Die Deutschen wollen nachverhandeln. Aber die Sieger drohen, den Krieg wieder aufzunehmen, wenn die Deutschen den Friedensvertrag nicht bald unterschreiben. Und die deutschen Militärs sehen realistisch, dass Weiterkämpfen "Wahnsinn" wäre. Zwar tritt Reichsministerpräsident Philip Scheidemann am 20. Juni 1919 zurück, weil er die Bedingungen des Vertrags "unannehmbar" findet. Aber bereits drei Tage später erklärt sein Nachfolger, Gustav Bauer:
"Meine Damen und Herren! Unterschreiben wir, das ist der Vorschlag, den ich Ihnen im Namen des gesamten Kabinetts machen muss. Einen neuen Krieg können wir nicht verantworten, selbst wenn wir Waffen hätten. Wir sind wehrlos, aber nicht ehrlos."
"Ich hätte ihn sicher nicht unterzeichnet. Nichts ist weniger sicher, als dass die französischen Soldaten nach 4,5 Jahren Krieg und einem möglichen Friedens wirklich noch nach Deutschland einmarschiert wären. Und wenn - auch Max Weber hat gesagt, auf keinen Fall unterschreiben. Im schlimmsten Fall, wie Weber auch sagte, kommen die Alliierten und hauen Deutschland in Stücke. Dann setzen wir es wieder zusammen."
Neue Nahrung für den Hass?
Am 28. Juni 1919 setzten die Deutschen im Spiegelsaal von Versailles ihre Unterschrift unter den "Schandfrieden", wie viele ihn damals bezeichneten. Noch am selben Tag reisten die Unterzeichner nach Berlin zurück. In Paris dagegen begannen zur selben Zeit die Friedensfeiern mit Raketen und Feuerwerkskörpern.
Und dann? Sieht man sich die Buch- und Zeitungstitel zum 100jährigen Gedenken an den Versailler Vertrag an, war dieser Frieden von Anfang an ein "überforderter Frieden", ein "letztes Echo des Krieges", eine "große Illusion", eine "neue Nahrung für den Hass". Aus den Pariser Verträgen entsprangen, wie Jörn Leonhard formuliert, "Enttäuschungen und Konflikte, die das 20. Jahrhundert prägen sollten". Destabilisierte der sogenannte "Schmachfrieden" von Anbeginn an die junge Weimarer Republik? Führte er gar – zu Hitler, der die Deutschen ja aus "den Ketten von Versailles" befreien wollte?
"Das Vertrauen der Deutschen, dass Hitler den Versailler Vertrag abschaffen würde, war sehr groß und das war der Hauptgrund, warum sie ihm so massiv applaudiert haben, am Anfang und im Grunde bis 1940. Hitler war in Deutschland niemals beliebter als 1940, als er Frankreich schlug und damit Versailles endgültig auslöschte."
Aber kann man deshalb folgern, Versailles sei schuld an Hitler, wie es Golo Mann und viele Historiker nach 1945 behaupteten? Nein, meinen heutige Wissenschaftler und legen tiefere Wurzeln des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte frei. Beispielsweise die Verspätung der demokratischen Entwicklung durch den preußischen Militarismus. Eckhard Conze weist darauf hin, dass es Hitler letztlich nicht um Versailles, sondern um "Hegemonie und eine rassenideologisch motivierte Expansion" ging. Jörn Leonhard hält den Versailler Friedensvertrag sogar für besser als seinen Ruf, weil trotz aller Sanktionen Deutschland als Staat, als europäische Macht erhalten blieb:
"Ich will nicht unter den Teppich kehren, dass es belastende Realitäten gibt und natürlich ist das Reparationsproblem eines, an dem man das zeigen kann. Es gab eine Menge anderer Faktoren, die dazu kommen mussten, um den Ausbruch des 2. Weltkriegs zu erklären."
Folgen bis heute
Mit der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Konfliktpotential des Versailler Vertrags zur Geschichte. Die sogenannten Pariser "Vorortverträge" jedoch, die 1919 die Neuordnung großer Teile der Welt besiegelten, wirken bis heute nach. Die von Wilson geforderte "Selbstbestimmung" wurde damals weder für die europäischen Kolonien realisiert. Und erst recht nicht bei der Neuordnung des Nahen Ostens. Die neuen Grenzen im zerfallenen osmanischen Reich wurden machtpolitisch festgelegt. Bis heute sind diese Grenzen ein Konfliktpunkt, die zuletzt der Islamische Staat zu revidieren versuchte. Die Glaubwürdigkeitskrise, der der Westen sich bis heute ausgesetzt sieht, so Jörn Leonhard, hat jedenfalls in den Entscheidungen von 1919 eine wichtige Quelle:
"Wenn man das Glaubwürdigkeitsproblem des Westens verstehen will, dann kommt man an diesem Moment von 1919, den großen Versprechen, dem Universalismus einer Formulierung wie ‚nationale Selbstbestimmung‘ und dem Problem der Glaubwürdigkeit bei der Umsetzung nicht vorbei. Das gilt für den Mittleren und Nahen Osten, das gilt für Ostasien und für viele Kolonialgesellschaften in Afrika und Asien."