Dirk-Oliver Heckmann: Es gibt ja Bücher über alles Mögliche. Die Leipziger wie die Frankfurter Buchmesse, sie werden jedes Jahr überschwemmt mit Neuerscheinungen. Eines gibt es aber nicht: eine Biografie über Walter Scheel, den früheren Bundespräsidenten. Weshalb ist das so? Darüber habe ich gesprochen mit Knut Bergmann. Er arbeitet für das Institut der Deutschen Wirtschaft. Zuvor war er Grundsatzreferent im Bundespräsidialamt und Redenschreiber des Bundespräsidenten.
Knut Bergmann: Da kann ich wirklich nur vermuten. Ich glaube, dass das damit zu tun hat, dass sein Ruf ausgesprochen schlecht ist. Er galt ja als eine Art politisches Leichtgewicht und rheinische Frohnatur, dass sich mit diesem vermeintlich Unernsten hat nie jemand ernsthaft beschäftigen wollen.
Da gibt es aber eine ganze Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern, die das auch überrascht hat, wobei natürlich eine Art von Biografie ist das natürlich nicht, aber Arnulf Barings "Machtwechsel" umfasst natürlich auch einen Teil der Zeiten von Walter Scheel, als er Außenminister gewesen ist, und da werden seine Leistungen auch schon ausführlich gewürdigt.
"Spiegel des westdeutschen Wirtschaftswunders"
Heckmann: "Politisches Leichtgewicht", sagen Sie, das Image von ihm. Ein Artikel von Ihnen, der in diesen Tagen in der "Zeit" erschien, der trägt die Überschrift "Der Verkannte". Inwieweit wird Scheel verkannt?
Bergmann: Er ist ja mit nicht mal 60 Jahren aus dem Bundespräsidialamt oder aus dem Bundespräsidentenamt ausgeschieden, und meine These ist, wenn er Anfang der 80er-Jahre - 1979 war seine Amtszeit zu Ende - verstorben wäre oder sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hätte, dass er zweifelsohne als einer der bedeutendsten Politiker der westdeutschen Nachkriegsgeschichte in diese eingegangen wäre. Er ist Parlamentarier gewesen auf allen Ebenen, die es da gibt, der kommunalen, im Landtag, im Bundestag und im Vorläufer des Europaparlaments. Er ist der erste Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit gewesen. Er war Außenminister unter Willy Brandt und dann schließlich Bundespräsident. Dieser enormen politischen Biografie, die eine Art von Spiegel des westdeutschen Wirtschaftswunders ist und des Wiederaufstiegs nach dem Zweiten Weltkrieg, ist dann ein sehr langer, vor allem gesellschaftlich schillernder Lebensabschnitt gefolgt, wohinter dann doch diese Leistungen verschwunden sind.
"Meine Richtung heißt Scheel"
Heckmann: Die FDP von damals war ja eine andere als die FDP von heute. Das kann man sich heute gar nicht mehr richtig vorstellen. Dieser starke nationalliberale Flügel damals bei den Liberalen auf der einen Seite, dann die Sozialliberalen, die jüngeren Kräfte, die danach kamen. Wo war denn Scheel selbst politisch verortet?
Bergmann: Es gibt ein sehr schönes Zitat von ihm aus den 50er-Jahren, wo er gefragt wurde von seinem damaligen Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen, der eher dem konservativen Flügel angehörte, zu welcher Parteiströmung denn jetzt Scheel gehören würde. Dann hat Scheel gesagt: "Weder noch. Meine Richtung heißt Scheel". Das kann man als eine Art von frühpolitischem Eigensinn interpretieren, vielleicht auch als Karrierefixierung, aber es gibt gut wieder, wie er sein Leben lang politisch agiert hat. Es hat in den 50er-Jahren in der nordrhein-westfälischen FDP einen Richtungsstreit gegeben. Die hatten doch erhebliche Probleme mit ehemaligen Nationalsozialisten. In diesem Flügelstreit hat dann Walter Scheel sich die ersten politischen Meriten verdient: Der sogenannte Jungtürken-Aufstand, der 1956 zum Ende der christlich-liberalen Koalition unter Ministerpräsident Karl Arnold führte. Das war dann auch das erste Zeichen für eine koalitionspolitische Öffnung der FDP hin zur SPD, ohne dass es da jetzt wirklich eine echte Traditionslinie oder eine echte Kontinuitätslinie gibt zu 1969, wo ja dann auch die erste sozialliberale Koalition im Bund Wirklichkeit geworden ist.
Heckmann: Zunächst war er ja Entwicklungshilfeminister unter Adenauer, der erste Entwicklungshilfeminister, wenn ich das richtig erinnere, 1961.
Bergmann: Genau.
"Scheel gehörte keinem Lager an"
Heckmann: Dann trat er ja 1966 aus Protest gegen die geplante Erhöhung der Sektsteuer ausgerechnet zurück – sehr alte Bundesrepublik, kann man sagen – und sorgte für den Bruch der christlich-liberalen Koalition. 1969 – Sie sagten es ja – führte Scheel dann die FDP in die sozialliberale Koalition unter Brandt und Schmidt. War das absehbar, dass er die Partei dorthin führen würde?
Bergmann: Nein. Er ist immer unterschätzt worden, innerparteilich und auch vom politischen Gegner. Er hat das selber als einen großen Vorteil gesehen. Darin sehe ich eine gewisse Ähnlichkeit zu Angela Merkel, die ja auch immer wieder unterschätzt worden ist und dann sich als erstaunlich widerstandsfähig und mit strategischem Weitblick erwiesen hat, auch koalitionspolitisch.
Walter Scheel wurde Nachfolger von Erich Mende 1968 und er wurde das in einer Situation, wo es einen Flügelstreit gab in der FDP nach dem Austritt 1966. Sie hatten das gerade in der Frage gesagt. Nach dem Austritt aus der Koalition unter Ludwig Erhard wechselte die FDP in die Opposition und da war eigentlich der Vorteil von Walter Scheel, dass er keinem Lager angehörte und dass er auch nicht als sehr profiliert galt in eine Richtung und auch unterschätzt wurde. Nur dadurch war er in der Lage, oder nur eine solche Person war dann in der Lage, diese Partei zu befrieden und wieder zusammenzuführen. Das ist dann tatsächlich 1969 koalitionspolitisch mit dem Stück Machtwechsel bei der Wahl von Gustav Heinemann geschehen, wo die FDP dann den sozialdemokratischen Bundespräsidenten-Bewerber unterstützt hat, und dann im Herbst in der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt wurde das dann Wirklichkeit, und parteipolitisch 1971 in den Freiburger Thesen, die Walter Scheel zwar jetzt nicht wirklich maßgeblich mitverfasst hat, aber er zumindest als Parteivorsitzender zu verantworten hat.
Scheel spielte bei der Ostpolitik eine tragende Rolle
Heckmann: Diese sozialliberale Koalition war ja ganz eng verbunden mit der sogenannten Neuen Ostpolitik, das heißt der Öffnung hin zum Warschauer Pakt, immerhin kommunikativ. Was war sein Beitrag dazu?
Bergmann: Er hat das als Außenminister mitgetragen. Diese neue Ostpolitik, die wird heute primär zugeschrieben Willy Brandt und konzeptionell noch Egon Bahr. Die Chiffre war ja "Wandel durch Annäherung", mündete dann aber in den Ostverträgen, Moskauer Vertrag und Warschauer Vertrag. Da hat Walter Scheel als Außenminister schon eine tragende Rolle gespielt. Das heißt, meine These wäre, dass man Hans-Dietrich Genscher nicht unrecht tut, wenn man Walter Scheels Anteil an der neuen Ostpolitik als Außenminister eher größer beziffert als den Anteil von Hans-Dietrich Genscher an der deutschen Einheit. Wo das aber ganz sicher gilt, ist bei der innenpolitischen Durchsetzung gewesen. Bei der deutschen Einheit war das ja unstrittig. Da ging es ja mehr nur um das Wie. Die neue Ostpolitik hingegen ist Anfang der 70er-Jahre hochgradig umstritten gewesen, und der sozialliberalen Koalition, die nur eine hauchdünne Mehrheit von, ich glaube, zehn Mandaten hatte, liefen dann auch hinreichend viele Abgeordnete davon und wechselten zur CDU über. Dass die neuen Ostverträge noch Wirklichkeit geworden sind innenpolitisch, daran hat Walter Scheel großen Anteil gehabt.
Reden als Bundespräsident weithin vergessen
Heckmann: Stürmische Zeiten waren das damals auch schon. Man erinnert sich ein bisschen zumindest. – Was mich überrascht hat: Zehn Jahre vor Walter Weizsäcker stellte Scheel bereits 1975 fest, dass der 8. Mai `45 nicht nur Niederlage, sondern auch Befreiung gewesen sei, und das damals in einem ganz anderen, schwierigeren Umfeld schon.
Bergmann: Das ist richtig. Seine Reden als Bundespräsident sind weithin vergessen. Das ist Teil des unterschätzt Werdens von Walter Scheel. Er hat tatsächlich zehn Jahre vor Weizsäcker dieses nicht nur als Niederlage, sondern als Befreiung konstatiert. Das ist ganz interessant. Wenn man heute mit Studenten in Seminaren spricht, dann haben die den Namen Walter Scheel gerade mal gehört, aber verbinden gar nichts damit, während sie den Namen von Richard von Weizsäcker natürlich kennen und auch den Grundgedanken dieser Rede kennen.
Es ist auch damals 1975 einfach gedenkpolitisch ein anderes Umfeld gewesen. Bei der Weizsäcker-Rede kommt hinzu: Die ist sehr offensiv vermarktet worden vom Bundespräsidialamt. Und sie wurde vorgetragen in einem Gedenkakt im Deutschen Bundestag, während Walter Scheel zehn Jahre vorher nicht mal am 8. Mai selbst gesprochen hat, sondern am 6. Mai, und das in einer Kirche. Das heißt, auch das sind Feinheiten, die dazu beigetragen haben, dass diese Scheel-Rede doch weitgehend vergessen ist.
Scheel sang "Hoch auf dem gelben Wagen"
Heckmann: Welche Schwächen hatte Walter Scheel?
Bergmann: Ich hatte vorhin ja gesagt, dass er gewissermaßen ein Abbild des Wirtschaftswunders der Bundesrepublik ist, und sicherlich hat dazu gehört, dass man Chancen wahrgenommen hat. Ich würde das jetzt mal etwas ironisch formulieren: Er war sicherlich nicht ganz frei von Mitnahme-Effekten. Das zeigt sich dann vor allem nach dem Ausscheiden aus den politischen Ämtern, wurde ihm aber auch vorher immer wieder nachgesagt.
Diesen Begriff der rheinischen Frohnatur hat er viele Jahre mit sich herumgetragen. Er wird da letztlich nicht ganz fair behandelt. Er hat ein paar Dinge gemacht. Was legendär von ihm bleibt, ist diese Geschichte, dass er 1973 in einer Spendengala für die Aktion Sorgenkind dieses Lied "Hoch auf dem gelben Wagen" gesungen hat.
Heckmann: Das haben wir ja gerade gehört.
Bergmann: Das wirkt natürlich heute völlig aus der Zeit gefallen. Aber wenn man sich das anguckt - man findet das Video bei YouTube beispielsweise -, dann ist das schon stimmig. Wir sind 1973, er singt das auch nicht als Bundespräsident, sondern als Außenminister. Er tut das bei einer Spendengala. Und: Der Mann kann wirklich singen. Das ist schon ganz beachtlich.
Koalitionspolitischer Mut und Weitsicht
Heckmann: Heute wäre Walter Scheel 100 Jahre alt geworden. Wie geht die FDP damit eigentlich um?
Bergmann: Es gibt eine Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Düsseldorf, die jetzt aber auch nicht so wahnsinnig hoch prominent besetzt ist. Ich glaube, die Festrednerin ist Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Heckmann: Wie ordnen Sie das ein, dass das in einem so kleinen Rahmen abgehandelt wird?
Bergmann: Walter Scheel ist weitgehend vergessen. Sein Ruf ist mindestens als ambivalent zu bezeichnen. Es ist schade, weil man eigentlich von ihm ganz viel lernen kann, weil auch vielleicht die heutige FDP noch einiges von ihm lernen könnte, wie beispielsweise koalitionspolitischen Mut und auch die Fähigkeit vorauszudenken. Da vielleicht noch mal als ein Beispiel: Das vierte Kapitel in den Freiburger Thesen widmet sich der Umweltpolitik, und das im Jahr 1971. Das ist noch ein Jahr, bevor dieser Bericht vom Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums, was heute jeder kennt, erschienen ist. Da hat die FDP schon weit vorgedacht und das kann sicherlich keiner Partei schaden, so was zu tun.
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