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100 Jahre Weltgeschichte
Eine Gewalt-Bilanz vergangener Kriege

Der Erlanger Historiker Gregor Schöllgen sieht die Welt heute immer noch weit entfernt von einem "universellen Frieden". Kriege werden noch auf absehbare Zeit die Geschicke vieler Menschen bestimmen und beeinträchtigen. Auf der Suche nach den Ursachen blickt er zurück. "Krieg. 100 Jahre Weltgeschichte" heißt sein Buch.

Von Robert Baag |
    Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917.
    Sturm auf das Winterpalais in St. Petersburg (Petrograd) am 7. November 1917. Die Oktoberrevolution ist Startpunkt der Analyse von Gregor Schöllgen. (picture-alliance / dpa / UPI)
    Eigentlich bewegt sich die Menschheitsgeschichte seit je her permanent zwischen zwei gegensätzlichen Polen: Frieden und Krieg. Weshalb dann nennt der emeritierte Erlanger Historiker Gregor Schöllgen sein neuestes Buch lakonisch zeitverkürzend lediglich: "Krieg - 100 Jahre Weltgeschichte"? Warum beschränkt er sich auf diese runde Jahreszahl? Mit der Gegenwart, dem Herbst 2017, endet seine Analyse, die 1917 einsetzt, mit der sogenannten "Oktoberrevolution". Jener erfolgreiche Aufstand einer kleinen, entschlossenen Gruppe von "Berufsrevolutionären" sei als historischer Paradigmenwechsel zu bewerten, findet Schöllgen, denn:
    "Kein anderer Putsch der jüngeren Geschichte hat derart weitreichende Verwerfungen gezeigt wie dieser. Es war das erste Mal, dass ein Akteur nicht nur einem lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen Gegner den Krieg erklärte, sondern der Welt. Seither hat es keinen universellen Frieden mehr gegeben."
    "Alles hängt mit allem zusammen"
    Diesen Befund sowie die Suche nach den Ursachen, weshalb es seit 1917 weltweit immer wieder zu Gewaltexzessen gekommen ist, warum diese Spirale sich weiterdreht und wohl weiterdrehen wird, fasst Schöllgen in vierzehn Abschnitten zusammen. Einzelne Schlagworte reichen ihm als Kapitelüberschriften:
    "Revision. - Säuberung. - Vernichtung. - Mord. - Terror. - Flucht. - Raub. - Annexion..."
    ...mögen als beispielhafte Auswahl dienen für den diagnostischen Begriffskanon Schöllgens, wenn er die immanenten wie grenzüberschreitenden Krisen- und Kriegsgeschehnisse der vergangenen einhundert Jahre sichtet.
    Post-imperiale Erbmasse als historische Last
    Bisweilen gerät die Lektüre schon mal zu einem Parforceritt durch die jüngere Weltgeschichte. Vor einem Sturz aus dem Sattel rettet indes die klare Sprache des Autors. - "Alles hängt mit allem zusammen", könnte das vordergründig banal klingende Leitmotiv seiner Arbeit lauten. Allerdings: Schöllgens Verknüpfungen so manch vergessener, verdrängter historischer Episoden und deren Wirkmächtigkeit hinein in aktuelle Konstellationen und Prozesse der Tagespolitik verschaffen häufig überraschende Einsichten. - Polen mag als Beispiel dienen: 123 Jahre lang aufgeteilt unter Preußen, Österreich und Russland konnte es am Ende des Ersten Weltkriegs seine Unabhängigkeit wiedergewinnen. Im Kapitel "Säuberungen" zeigt Schöllgen zugleich aber auch eine aus heutiger Warte fast provokant distanzierte Nachsicht:
    "Dass der unabhängige polnische Staat nach diesen leidvollen Erfahrungen wenig Neigung verspürte, nun seinerseits den Minderheiten Schutz zu garantieren, kann man nachvollziehen. Zu den 30 Prozent Nichtpolen gehörten 3,7 Millionen Ukrainer und - hier wie anderenorts als 'nationale' Minderheit gezählt - 2,7 Millionen Juden. Die zwei Millionen Deutschen folgten an dritter Stelle."
    Die Minderheiten im polnischen Staatsverband seien jedoch nicht das einzige Problem aus der post-imperialen Erbmasse gewesen. Schöllgen weitet vielmehr den Blick auf die folgenden Jahrzehnte vor und nach 1945:
    "Erschwerend kam hinzu, dass dieser polnische Staat zwar am 11. November 1918 [...] offiziell gegründet worden war, aber nicht einmal klar definierte Grenzen zu allen drei vormaligen Teilungsmächten besaß. Völlig unübersichtlich war die Lage im Osten, und auch der Ende 1919 begonnene Krieg gegen Sowjetrussland führte [...] nicht zu einem Ergebnis, mit dem Polen leben konnte. Im Süden war die Lage insofern klarer, als der neu gegründete Staat Tschechoslowakei eine Barriere zu Österreich bildete. Aber eindeutig war auch hier die Lage nicht, weil im Teschener Gebiet, das Prag sich einverleibt hatte, 70-tausend Polen lebten..."
    Der "Kalte Krieg" als "Dritter Weltkrieg"
    ...Dieses Gebiet besetzte Polen 1938 flugs seinerseits, nachdem zuvor die Tschechoslowakei unter internationaler Duldung von Hitler zerschlagen worden war. Bittere Pointe: Nur ein Jahr später fällt Polen dann bekanntlich einem deutsch-sowjetischen Zangen-Angriff zum Opfer.
    Schöllgens Betrachtungen geben auch Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, Asien und Amerika breiten Raum und überzeugen mit ihrem Detailreichtum. Dabei verwebt er transkontinentale wie nationale Kontinuitäten und Brüche, seziert gegenseitige geopolitische Abhängigkeiten und begründet erfolgreiche wie gescheiterte Emanzipations-bestrebungen. - Den "Kalten Krieg" zwischen 1947 und 1991 bezeichnet Schöllgen als "Dritten Weltkrieg", bei dem Ost und West ihre "heißen" Stellvertreter-Kriege auf den Territorien der "Dritten Welt" ausgetragen hätten. Die unterschwellige Äquidistanz Schöllgens, wenn er das Verhältnis der USA zur Sowjetunion in diesen Jahrzehnten beleuchtet, verwundert allerdings:
    "Man konnte von Josef Stalin denken, was man wollte. Er war ohne Zweifel eine der finstersten Gestalten des 20. Jahrhunderts, ein Massenmörder, der sich vor allem auch an den Völkern seines Imperiums verging. Aber - Zitat Henry Kissinger: - 'listenreich und undurchschaubar... weitblickend, manipulativ, umsichtig und grob' - Zitat-Ende -, wie er eben auch war, hatte er die Sowjetunion in den frühen vierziger Jahren vor dem Untergang bewahrt. Wenn jemand wusste, was die Einbeziehung der Bundesrepublik und Japans in das amerikanische System bedeutete, dann war es Stalin. Sein Instinkt und seine Analyse sagten ihm, dass Gefahr im Verzug war. Große Gefahr."
    Ist schon die erste zugespitzte Aussage - Stalin als Retter der UdSSR - gelinde gesagt strittig, gilt dies umso mehr für die psychologisierende Vermutung, der Sowjetdiktator habe sich als potentielles Opfer einer jederzeit drohenden Aggression Washingtons und seiner Alliierten gefühlt. In ähnlicher Weise erstaunt Schöllgen, wenn auch er die Mär vom angeblich durch die NATO eingekreisten Russland des Wladimir Putin und dessen vermeintlichen Ängsten wiederholt. Alt-Kanzler und Putin-Freund Gerhard Schröder drängt hier unwillkürlich ins Bild, als dessen Biograph Schöllgen sich einen Namen gemacht hat.
    Dennoch: Wer zu Abstrichen bei manch allzu selbstgewissen Schlussfolgerungen Schöllgens bereit ist, profitiert in dessen flüssig geschriebener Arbeit zweifellos von der reichen Fülle des Materials. Sie bietet neue Einblicke und Denkanstöße, reizt hier und da auch zu Widerspruch. Doch gerade dies mag dazu verleiten, mit Gewinn bis zum Ende weiterzulesen.
    Gregor Schöllgen: "Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte"
    DVA, 368 Seiten, 24 Euro.