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100. Jahrestag: Deutsche Kriegserklärung an Frankreich
Grosser: Kein deutsch-französischer Motor mehr in der EU

Der Politikwissenschaftler Alfred Grosser lobte im DLF die Aufarbeitung des Ersten Weltkriegs in Frankreich und Deutschland, vermisst aber frischen Wind in den gegenwärtigen Beziehungen beider Länder. Scharf verurteilte Grosser die Identifizierung der jüdischen Verbände in Deutschland und Frankreich mit Israel.

Alfred Grosser im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Alfred Grosser
    "Ich finde es sehr schön, dass die Präsidenten sich absichtlich im Elsass treffen, um zu zeigen, dass das Elsass kein Problem mehr ist", sagte der Politikwissenschaftler Alfred Grosser im Interview der Woche im Deutschlandfunk. (dpa picture alliance)
    Kaess: Herr Grosser, an diesem historischen Datum, dem 3. August 1914, der Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich, verbindet sich heute damit eine deutsch-französische Gedenkveranstaltung im Elsass. Und überhaupt ist dieses Erinnerungsjahr 2014 vollgepflastert mit Veranstaltungen. Es gibt Vorträge, Ausstellungen, Filmvorführungen, Bucherscheinungen in Frankreich. Freut Sie das, diese immer noch andauernde späte Aufarbeitung?
    Grosser: Also Sie hat negative Seiten – es gibt zu viel –, aber andererseits finde ich sehr schön, dass es positiv aufgearbeitet wird. Zum Beispiel, dass die Präsidenten sich im Elsass treffen – absichtlich im Elsass –, um zu zeigen, dass das Elsass kein Problem mehr ist. Und andererseits ist in Frankreich eigentlich wie in Deutschland die Erinnerung an das große Leiden und nicht an den Sieg.
    Kaess: Es gibt noch eine Besonderheit bei dieser Erinnerung. Es gab dieses Jahr einen sehr aufwendigen 14. Juli, einen sehr aufwendigen Nationalfeiertag, den man in Paris gefeiert hat. Zu der Militärparade waren Teilnehmer und Soldaten aus 80 Ländern eingeladen, die mehr oder weniger auf die eine oder andere Weise vom Krieg betroffen waren. Was bringt diese Symbolik?
    Grosser: Also ein Punkt war wesentlich, es waren algerische Soldaten dabei. Dafür hat es von der Seite von Marine Le Pen und der ihrigen Proteste gegeben. Ich fand das besonders gut, denn Abertausende von Algeriern, noch mehr Tausende von Schwarzen sind auf französischem Boden gefallen, um das Vaterland zu retten, das sie immer nie als Gleichwertige betrachtet hat, um das Vaterland zu retten, das eigentlich gar nicht ihr Vaterland war.
    Kaess: Der Erste Weltkrieg spielt in Frankreich eine ganz andere Rolle als in Deutschland. Warum diese unterschiedlichen Sichtweisen?
    Grosser: Die Zahlen sind einfach. Im Ersten Weltkrieg sind auf beiden Seiten im Verhältnis zu der Bevölkerung ebenso viele Hunderttausende, Millionen Soldaten gestorben. Im Zweiten Weltkrieg sind – was zu viel ist, aber immerhin – 600.000 Franzosen gestorben und sieben Millionen Deutsche. Die deutschen Städte waren 1918 unversehrt. Es gab keine Flüchtlinge, es gab keine Vertriebenen. Und für Deutschland ist ein wichtiger Krieg natürlich der Zweite Weltkrieg. Man hat manchmal den Eindruck, dass die deutsche Geschichte eigentlich von '33 bis '45 gegangen ist und dass es vorher gar nichts gegeben hat.
    "Für den Zweiten Weltkrieg hätte man in Dachau feiern sollen oder in Buchenwald"
    Kaess: Sie haben in einem Ihrer Bücher sich erst einmal darüber gefreut und haben gesagt: "Das ist erfreulich, dass es eine weitgehende Normalisierung der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 gegeben hat". Aber Sie machen eine Einschränkung und sagen: "Warum wird immer in Frankreich der Erste Weltkrieg hervorgehoben und nicht der Zweite?" Ist das eine Kritik?
    Grosser: Ja, eine harte Kritik sogar. Ich bin sehr froh, dass sich Adenauer und de Gaulle in Reims getroffen haben. Ich war sehr bewegt über das "Hand in Hand" von Mitterrand und Kohl in Verdun. Das war wirklich bewegend. Ich fand auch sehr schön, dass die Kanzlerin und Sarkozy im Arc de Triomphe am 11. November gefeiert haben. Das ist alles der Erste Weltkrieg. Für den Zweiten Weltkrieg hätte man in Dachau feiern sollen oder in Buchenwald – aber Buchenwald war in der DDR –, also in Dachau, wo Widerstandskämpfer aus Frankreich und Deutschland zusammen gelitten haben.
    Und deswegen fand ich sehr schön – das hat auch nörgelnde Kritik gegeben –, dass die Kanzlerin, bevor sie ins heutige glückliche München fuhr, in Dachau Halt gemacht hat, zur Erinnerung an das, was da gewesen ist. Und Dachau war für mich das eigentliche Symbol, denn es soll nicht vergessen werden, dass die deutsch-französischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg unter Widerständlern stattgefunden haben.
    Der erste Deutsche, den wir nach Paris eingeladen haben war Eugen Kogon aus Buchenwald und der hat die erste Rede gehalten an der Sorbonne. Und wir, wir haben wirklich Mitverantwortung gefühlt für die Zukunft der deutschen Jugend. So bin ich auch eingestellt gewesen, als ich am Ende des Krieges 20 war und gesehen habe erstens, dass es keine Kollektivschuld gibt und zweitens, dass man mitverantwortlich ist, wenn man sich um Deutschland kümmern will, und dass nicht, wie nach dem Ersten Weltkrieg, Frankreich Deutschland schlecht behandelt hat.
    "In Deutschland wird völlig verkannt, wie Frankreich gelitten hat"
    Kaess: Aber noch mal zurück zu Ihrer Kritik. Drückt man sich denn in Frankreich vor der eigenen schwierigen Vergangenheit, wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht?
    Grosser: Nein, man drückt sich nicht, aber es gibt ununterbrochen Kämpfe: Was waren die Franzosen? Eigentlich geht es da gar nicht um Deutschland, es geht um: Was waren die Franzosen zwischen 1940 und 1944? Und die Antwort ist sehr unterschiedlich. Es geht nach Perioden. Es war eine Periode: alle Widerstandskämpfer. Zweite Periode: Es gab eigentlich nur Kollaborateure und ein paar Widerständler.
    Und heute ist die historische Forschung und auch das Bewusstsein, dass es beides gegeben hat und dass ein großer Teil der französischen Bevölkerung weder auf der einen Seite noch auf der anderen Seite gestanden hat, um zu versuchen sich zu ernähren, weil es wenig Lebensmittel gab. Und das wird in Deutschland völlig verkannt, was Frankreich gelitten hat, auch nach dem Krieg noch.
    Zum Beispiel der schlimmste Winter in der Ernährung war der Winter '45/'46 in Frankreich. Und das hat auch eine furchtbare Konsequenz für Deutsche gehabt, nämlich dass viele deutsche Kriegsgefangene an Hunger gestorben sind in französischen Lagern. Ganz furchtbar. Aber die Franzosen hatten auch nichts zu Essen und man gab besonders wenig an die Kriegsgefangenen.
    Kaess: Sie sind 1925 geboren. Welche Rolle hat der Erste Weltkrieg in Ihrer Familie noch gespielt? Und war es für Sie als Kind oder als Jugendlicher interessant, darüber etwas zu erfahren? Wollten Sie etwas wissen oder hat das alles überhaupt keine Rolle mehr gespielt, weil schon der nächste Krieg da war und alles überrollt hat?
    Grosser: Nein, es hat für mich eine enorme Rolle gespielt, wegen eines Buches, dass ich mit neun Jahren – das beweist, dass ich frühreif war – gelesen habe. Das heißt "Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua". Wegen dieses Schädels sind Abertausende von Afrikanern in Frankreich in den Krieg gezogen gegen die Deutschen, die diesen Schädel entnommen hatten und nach Deutschland transportiert hatten. Und das war für mich ein großes Erlebnis, denn es ist eine Kriegsgeschichte, ein Kriegserlebnis für die Jugend – und da wird der Krieg noch schlimmer dargestellt als in Erich Remarques "Im Westen nichts Neues".
    Ukraine-Konflikt - Erster Weltkrieg: "Es gibt Parallelen mit großen Gefahren"
    Kaess: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche mit dem Politikwissenschaftler Alfred Grosser. Herr Grosser, in diesem Gedenkjahr werden auch viele Parallelen gezogen mit der Gegenwart. Wenn wir uns die aktuellen Krisen ansehen, da wird auch immer wieder der Ukraine-Konflikt erwähnt, gibt es Parallelen?
    Grosser: Es gibt Parallelen mit großen Gefahren. Aber man ist vorsichtiger geworden als 1914. Bei der Ukraine weiß ich nicht – seit Jahren nicht –, was die gute Lösung sein könnte. Gut wäre, wenn die Ukraine in die Union käme, aber das ist eine Provokation für Moskau. Das stimmt schon. Allerdings ist heute nicht wichtig – und das kann ich in der deutschen Presse überhaupt nicht verstehen –, es geht ja nicht um die Russen, es geht um Putin persönlich. Und niemand weiß, was er eigentlich will, bis wohin er gehen wird. Und das birgt einige echte Kriegsgefahren.
    Denn heute in Litauen, in Lettland hat man Angst, hat man richtige Angst, dass Russland wieder nach vorne marschiert. Und diese Angst ist berechtigt. Aber dann muss man Truppen schicken, westeuropäische Truppen nach Litauen und so weiter, um zu versprechen, dass man sie verteidigen werde. Und dann weiß man nicht, welche Erpressung Putin da machen wird.
    Kaess: Gerät der Konflikt außer Kontrolle?
    Grosser: Er kann außer Kontrolle geraten, aber es ist sehr kontrollierbar.
    Kaess: Warum?
    Grosser: Weil man weiß, wie es geschehen ist. Und weil man vor allen Dingen keinen Krieg will. Das wollte man theoretisch auch wenig 1914, mit einigen Ausnahmen. Aber dieses Mal, glaube ich, weiß man, was das kosten würde.
    Kaess: Eine Lehre aus der Geschichte?
    Grosser: Ja, Lehre nicht, es gibt auch die Möglichkeit daran zu denken, dass man auf beiden Seiten Atomwaffen hat, und die Atomwaffen haben ja im Kalten Krieg den Frieden gerettet. Wenn es keine Atomwaffen gegeben hätte, wäre es wahrscheinlich zum Krieg gekommen. Und ich kann die deutschen Atomgegner überhaupt nicht verstehen, wenn sie nicht wissen wollen, was die Atomwaffe in der gegenseitigen Bedrohung geleistet hat für den Frieden.
    Kritik an Kriegsschifflieferung: Enormes Risiko von sozialer Katastrophe
    Kaess: Da sind wir bei den Waffen. Ist es richtig, dass Frankreich in der derzeitigen Situation Mistral-Kriegsschiffe an Russland liefern will?
    Grosser: Viel weniger als Engländer. England liefert viel mehr Waffen, viele verschiedene Waffen.
    Kaess: Gut, das sei jetzt mal dahin gestellt. Aber dennoch: Ist das zu verantworten?
    Grosser: Ja, natürlich ist das zu verantworten. Denn diese Schiffe sind viel weniger einsatzfähig in solchen Konflikten, als die Waffen, Kleinbomben, Geschosse und so weiter, die von England geliefert werden. Und wenn da nur auf Frankreich geschossen wird – also moralisch geschossen wird –, finde ich das skandalös. Vor allen Dingen, wenn es aus England kommt.
    Kaess: Also über diese Interpretation der Waffen gibt es noch andere Meinungen von Experten dazu. Aber warum will die französische Regierung diesen Deal unbedingt durchziehen? Was steckt für Sie als Motiv dahinter?
    Grosser: Dass es eine Katastrophe für Saint Nazaire werden wird, wenn das nicht bezahlt wird, dass unsere Reedereien zumachen müssen.
    Kaess: Dort wo das Schiff gebaut wird.
    Grosser: Und dass es eine Sozialkatastrophe gibt.
    Kaess: Und das ist auch Grund genug, um die Kritik von außen abprallen zu lassen?
    Grosser: Ja, weil ich glaube, sie wird verstanden. Aber das Risiko ist enorm, dass soziale Katastrophen geschehen.
    "Europa ist sehr weit entfernt von gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik"
    Kaess: Diese scharfe Kritik, die es gegeben hat von anderen EU-Partner, auch von Großbritannien – zumindest so lange, bis dann auch herauskam, dass Großbritannien selber eben Waffen an Russland liefert – zeigt einmal mehr, dass Europa von einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik weit entfernt ist?
    Grosser: Sehr weit entfernt. Deswegen hat man auch eine inkompetente Engländerin genommen, die nicht nur Engländerin war, das heißt anti-europäisch, sondern auch jemand, der von der Sache gar nichts wusste. Deswegen hat man sie ja als Außenministerin in der Union genommen.
    Kaess: Frau Ashton meinen Sie?
    Grosser: Ja, Frau Ashton. Weil man wusste, dass dann die Regierungen die Außenpolitik in Händen behalten würde.
    Kaess: Auf der anderen Seite hat man sich jetzt gerade zusammen auf härtere Sanktionen gegenüber Russland geeinigt. Ist das ein Schritt hin zu einer gemeinsamen Außenpolitik?
    Grosser: Also mir wäre viel lieber, wenn man sich einigen würde mit einer harten Kritik an Israel und mit einem Ende der Waffenlieferung an Israel zum Beispiel. Und die deutschen Unterseeboote an Israel sind viel schlimmer als das, was an Putin geliefert wird. Denn es wird viel mehr in Gaza gemordet von israelischer Seite als vonseiten Putins in der Ostukraine.
    Kaess: Den Punkt können wir gleich noch vertiefen. Eine weitere wichtige Frage, in der zumindest Frankreich und Deutschland nicht auf einer Linie liegen, das ist die Wirtschaftspolitik. Deutschland ist für mehrere Länder in Europa – auch für Frankreich – mittlerweile zum Einpeitscher dieses Sparkurses geworden. Und viele, auch in Frankreich, befürchten, Länder könnten kaputtgespart werden. Führt für Frankreich dennoch kein Weg an diesem Sparkurs vorbei? Und warum tun sich die Franzosen so schwer damit
    Grosser: Weil Frankreich ein leider total konservatives Land ist auf gesellschaftlicher Ebene. Die meisten sind Ärzte oder Apotheker oder Landwirte und verteidigen die Interessen ihres Standes, auch wenn diese Interessen total überholt sind. Zum Beispiel die Führer unserer guten TGV-Züge dürfen noch mit 50 oder 52 in den Ruhestand gehen, weil es eine Gefahr gibt, dass sie Kohle ins Auge bekommen – und das hat mit Kohle überhaupt nichts mehr zu tun. Aber es ist nun einmal eine soziale Errungenschaft und eine Errungenschaft wird nicht infrage gestellt.
    "Deutschland wird mit Mischung aus Bewunderung und Eifersucht betrachtet"
    Kaess: Was heißt das für die nahe Zukunft? Es wird sich nichts ändern und Frankreich wird weiter in die wirtschaftliche Misere abgleiten?
    Grosser: Es ist leider wahrscheinlich, dass immer mehr betont wird von Hollande und von Valls, dass es getan werden muss und dass es dann nicht getan wird. Und ich glaube, Deutschland wird mit einer Art Mischung aus Bewunderung und Eifersucht betrachtet, wenn man sieht, was die deutschen Resultate sind.
    Wenn zum Beispiel heute die Bundesbank sagt: Die Löhne müssen um zwei Prozent erhöht werden überall, so ist das eine enorme Überraschung – erstens, dass die Bundesbank so etwas sagt und zweitens, dass die Erhöhung von Löhnen etwas Gutes ist. Wobei in Frankreich ständig vergessen wird, dass es nicht wahr ist, dass die deutschen Lohnkosten so viel geringer sind als in Frankreich. Das stimmt nicht. Sogar in der Metallindustrie verdient ein deutscher Arbeiter mehr als ein französischer.
    Kaess: Das ist von Branche zu Branche einfach sehr unterschiedlich, aber man nimmt dann meistens immer den Durchschnitt. Jüngste Umfragen haben jetzt gerade erst wieder bestätigt, dass Marine Le Pen die beliebteste Politikerin im Moment im Land ist, gefolgt von Nicolas Sarkozy, weit abgeschlagen dann François Hollande und Manuel Valls. Müssen wir uns darauf einstellen, dass nach den nächsten Präsidentschaftswahlen eine extreme Rechte die Präsidentin dieses Landes sein wird?
    Grosser: Nein. Aber erstens Mal, wenn die Kanzlerin gefragt wird: Würden Sie noch einmal Kandidatin in vier Jahren? Dann sagt sie: "Wir haben so viel Arbeit, das ist die weite Zukunft." Und hier in Frankreich wird nur von 2017 gesprochen, als gäbe es keine anderen Probleme.
    Kaess: Aber kommen wir doch einmal zurück auf diese enorme Beliebtheit von Marine Le Pen.
    Grosser: Nein, nicht "enorme Beliebtheit" – Sie ist beliebter als andere, aber das gilt für 20 Prozent der Wähler.
    "Stimmen für Le Pen sind vorläufig Stimmen des Protests"
    Kaess: Aber wie geht das zusammen? Ihr Programm ist: "Raus aus dem Euro", "Raus aus der Nato", "Zollschranken wieder einführen". Auf der anderen Seite sagen Umfragen, dass eine eigentlich große Mehrheit der Franzosen überhaupt nicht dafür ist, zum Franc zurückzukehren.
    Grosser: Ja, weil die Stimmen für Marine Le Pen vorläufig Stimmen des Protests sind. Und sie hat übrigens nicht mehr gesagt, man muss aus dem Euro raus, und sie versucht wirklich, so auszusehen, als würde sie die Republik verteidigen gegen die Einwandung, als würde sie vieles tun, wenn sie an der Macht wäre. Aber sie hat nie eine Antwort gegeben auf Programme. Und leider sind unsere Medien da katastrophal.
    Ich nehme nur ein einziges Beispiel, das besonders furchtbar ist. Frau Le Pen wird eingeladen bei France 2 – unser ZDF – und die haben die gute Idee, den Präsidenten des Europäischen Parlamentes einzuladen als Diskutanten. Sie sagt: "Ich diskutiere mit keinem Ausländer!". Resultat: Anstatt zu sagen: "Ja, dann gibt es eben keine Sendung", hat man gesagt: "Wir laden ihn aus." Und er ist auf die unhöflichste Weise ausgeladen worden.
    Kaess: Sind die Sozialisten getrieben vom Front National? Ist zum Beispiel die Reaktion von François Hollande nach dem Ergebnis der Europawahl, sich doch wieder vorsichtig abzuwenden vom vorher eingeschlagenen Sparkurs, ist das eine Reaktion darauf?
    Frankreich: "Momentan ist der Rechtsstaat total bedroht"
    Grosser: Nein. Es ist eine Reaktion auf alle Reaktionen, die eine Sparpolitik nach sich zieht und etwas, was in Frankreich ziemlich furchtbar ist. Also in Deutschland gibt es den Rechtsstaat, manchmal sage ich: Deutschland ist auch das Land der Juristerei und das Bundesverfassungsgericht ist in manchen Beziehungen furchtbar. Aber hier ist momentan der Rechtsstaat total bedroht.
    Ich nehme da ein Beispiel: Ein Vertreter der zweitgrößten Gewerkschaft – die CGT – sagt: "Was ein Gesetz geschaffen hat, kann eine Demonstration abschaffen!" Und diese Grundeinstellung funktioniert zum Beispiel in Westfrankreich, in der Bretagne. Es sollte eine Maut eingeführt werden, um die Infrastruktur zu finanzieren – es hat genügt, dass die sogenannten "Roten Kappen" intervenieren und alles kaputt machen. Und nun sind sie sehr erstaunt dass sie dafür auch bezahlen sollen. Denn man darf ja alles zerstören, wenn man der Meinung ist, dass das schlecht ist.
    Kaess: Schauen wir noch einmal auf die deutsch-französischen Beziehungen. Das Duo "Merkozy" – also Bundeskanzlerin Angela Merkel und der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy –, diese Verbindung hat zumindest über weite Strecken als nahezu perfekt gegolten. Haben sich Angela Merkel und der jetzige sozialistische Präsident François Hollande – sie haben ja am Anfang sehr miteinander gefremdelt – in den letzten Jahren irgendwie dieser Beziehung annähern können?
    Grosser: Na, zuerst einmal waren die Beziehungen zwischen Merkel und Sarkozy gar nicht so gut.
    Kaess: Über große Strecken hinweg.
    Grosser: Nein, sie führte und er sagte dann nachher, er hätte es gemacht. Und sie hat zugegeben, dass er sich dessen rühmte, was sie gemacht hatte. Und das war die Beziehung. Und ich finde, also ich muss sagen, es ist der einzige Präsident, den ich nie habe schätzen können, und er hat Spektakel gemacht.
    Mit Hollande und Frau Merkel ist das Besondere, dass beide darunter leiden, angeklagt zu werden sozialdemokratisch zu sein. Hollande ist in der schlechten Lage, da ein Teil der französischen Sozialisten immer noch sagt: "Sozialdemokrat zu sein ist furchtbar, man muss Sozialist sein", was etwas ganz anderes ist. Und auf der anderen Seite: Was unterscheidet Angela Merkel von einer Sozialdemokratin? Nicht nur die Koalition, sondern ihre Einstellung zu sozialen Problemen. Und das wird ihr von der CSU besonders vorgeworfen und vorher von der FDP.
    "Wo sind die deutsch-französischen Vorschläge?"
    Kaess: Aber wenn wir noch einmal auf die Zusammenarbeit schauen. Von einem Motor der Integration in Europa sind wir momentan weit entfernt, oder?
    Grosser: Das hat aufgehört. Es gibt keinen Motor der Integration, weil es keine gemeinsamen Vorschläge gibt. Dazu braucht man das Benzin der gemeinsamen Vorschläge. Und das hat aufgehört mit Chirac und Schröder. Wenn man daran denkt, wie sie sich gestritten haben, wie sie nachher gesagt haben, sie hätten eine Männerfreundschaft, und seitdem: Wo sind die deutsch-französischen Vorschläge? Es gibt auch keine vernünftigen Vorschläge. Die letzten waren ein Dreieck – das war Jaques Delors in Brüssel und das waren Kohl und Mitterrand. Die haben etwas durchgesetzt. Und Mitterrand hat gekämpft für dieses Europa.
    Kaess: Wir kommen noch einmal zu den aktuellen Entwicklungen. Es hat ja in diesen Tagen immer wieder massive Ausschreitungen gegeben bei Demonstrationen gegen das militärische Vorgehen Israels im Gaza-Streifen. Und es ist dabei auch zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen, die man in der Form, wie sie passiert sind, seit dem Krieg nicht mehr gekannt hat. Was denken Sie beim Anblick dieser Bilder von Straßenschlachten und Angriffen auf jüdische Einrichtungen?
    Grosser: Zuerst einmal, die Straßenschlachten haben nur stattgefunden, weil die Demonstrationen verboten waren.
    "Das Schlimmste ist die ständige totale Identifikation mit Israel"
    Kaess: Auch davor haben sie auch schon stattgefunden.
    Grosser: Nein. Die organisierten Demonstrationen mit Ordnern, nicht nur der Polizei, sondern auch von Demonstranten, sind friedlich verlaufen. Und ein Teil von denen, die unter Masken oder Hauben demonstriert und kaputt gemacht haben, haben das schon an anderen Orten gemacht. Das Schlimme ist – und das sage ich jetzt brutal, ich weiß, dass dann der Zentralrat der Juden in Deutschland gegen mich sein wird –, das Schlimme ist, die ständige totale Identifikation mit Israel, auch wenn Israel momentan große Kriegsverbrechen begeht.
    Dann heißt es: "Ihr seid ja total identisch mit Israel, also seid ihr unsere Feinde, weil ihr Juden seid, die sich mit Israel total identifizieren." Das gilt in Deutschland und das gilt in Frankreich. Und dann klagt Ihr Zentralrat und unser CRIF, der dem Zentralrat entspricht, und vergisst völlig diese Dimension – was übrigens in der deutschen Presse auch der Fall ist. Und man tut zum Beispiel, als sei es ein Krieg zwischen zwei ebenbürtigen Kämpfern. Was ist der Vergleich von Hamas, was sie tun, mit der totalen Zerstörung von Häusern, von Menschen und so weiter?
    Kaess: Aber noch mal, diese gezielten Angriffe auf jüdische Einrichtungen. Man hat sehr schnell hier in Frankreich Vergleiche mit der Reichskristallnacht gezogen. Wie geht es Ihnen mit solchen Vergleichen?
    Grosser: Nein, man bleibt furchtbar ruhig, wenn muslimische Dinge zerstört werden. Und ich nehme immer das Beispiel von Ignaz Bubis. Sowie irgendwo ein Asylantenhaus brannte, ist er sofort da gewesen, um seine Solidarität zu zeigen. Jetzt ist die Solidarität bei Angriffen gegen Moslems nicht da.
    Ich nehme nur ein Beispiel: In Toulouse wurden drei Juden – ein Mann und zwei Kinder – ermordet, aber vorher hat derselbe Mörder zwei muslimische Unteroffiziere ermordet – davon wird überhaupt nicht geredet. Und selbst in einem Artikel der "Frankfurter Allgemeinen" ist das total vergessen worden. Und der Oberst, der diese Einheit befehligte, wo diese zwei Unteroffiziere waren, hat ein Interview gegeben, das nur in einem Sender kurz gesendet worden ist. Er sagte: "Es waren zwei wunderbare Unteroffiziere, die jeden Tag fünfmal gebetet haben – das ist ihr gutes Recht als Moslems." Die sind verschwunden. Es gibt nur die antisemitischen Taten.
    Kaess: Einige dieser Unruhestifter in Frankreich haben Migrationshintergrund, die kommen aus Nordafrika oder arabischen Ländern, sind Muslime. Der Front National, der eigentlich selber ein Problem mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen hat, der hat das jetzt immer wieder zum Anlass genommen, seine altbekannten Parolen vorzubringen von einer unkontrollierten Massenimmigration. Werden diese Ausschreitungen letztendlich doch Wasser auf die Mühlen des Front National sein?
    Grosser: Wahrscheinlich, denn die wenigsten Franzosen wissen, dass es sechs Millionen Moslems in Frankreich gibt und dass die meisten davon Franzosen sind. Und da gibt es einen großen deutsch-französischen Unterschied. In den sogenannten Vororten von Paris sind die jungen Leute, im Gegenteil zu vielen jungen Türken in Berlin, totale Franzosen und werden diskriminiert, obwohl sie Franzosen sind.
    Und dann kommt eine neue Suche nach Identität, wenn man als Franzose verweigert wird, und man geht zum Islam. Es war nicht der Islam, der zuerst da war, sondern die Diskriminierung. Und das ist eine furchtbare Lage, die natürlich dann aufpeitscht zum Beispiel gegen Juden, weil die sich mit Israel identifizieren.
    Kaess: Aber dieses Problem ist ja nicht neu. Warum hat keine Regierung bisher das irgendwie in den Griff bekommen?
    Grosser: Man hat ununterbrochen gesagt, man hilft diesen armen Vierteln – in Wirklichkeit wird denen viel weniger Mittel gegeben als woanders. Es sollte viel gebaut werden – es ist wenig gebaut worden. Die Städte, die weniger Sozialwohnungen haben, sollen bezahlen – die zahlen gerne, aber bauen keine Wohnungen. Vorher, unter den vorherigen Regierungen gab es eine Polizei, die da war, die sich einbrachte, die die Leute kannte und so weiter. Jetzt ist die Polizei in den sogenannten Vierteln, ist "Maske", ist "Knüppel" und ist "ständige Identitätskontrollen". Und das steigert natürlich die Ablehnung gegenüber einem Rechtsstaat. Und die Empfindung des Rechtsstaates kann man kaum verlangen von Jugendlichen, die diesen Rechtsstaat nicht wirklich als gleichberechtigt erleben.
    Deutsch-französische Beziehungen: "Unten geht es gut - oben könnte es besser gehen"
    Kaess: Jetzt sind wir einen sehr langen Weg gegangen in diesem Interview: Vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart und den ganz aktuellen Ereignissen. Was wünschen Sie sich für die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen?
    Grosser: Es ist vieles gut gegangen – es geht immer noch gut. Ich wünsche mir, dass es an der Spitze besser gehen würde, dass Frankreich wirklich eingehen würde auf die Vorschläge von der deutschen Seite.
    Kaess: Sie meinen jetzt in Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung?
    Grosser: Ja, dass Frau Merkel aber einsehen würde, welche Katastrophen die Sparpolitik gebracht hat. Wenn 40 Prozent der jugendlichen Griechen arbeitslos sind, ist das eine Konsequenz dieser Haltung. Und ich hoffe auch, dass man in Frankreich und Deutschland einsieht, dass man zusammen geht – und das wird unten auf der Basis wunderbar gemacht.
    Ich bin im September wieder einmal in einer kleinen Stadt bei Mannheim, die ist seit Jahren, Jahrzehnten verbunden ist mit einer kleinen Stadt in der Bretagne. Jedes Jahr werden Hunderte ausgetauscht, gehen in die Familien, da gibt es hunderte Beispiele. Und ich glaube, das wirkt tief. Es gibt leider keine Statistik über deutsch-französische Ehen, die sind unzählig, oder Paare, die sich nicht verheiraten. Aber unten geht es wirklich weiterhin gut, außer mit der Sprache – darüber müssten wir noch diskutieren. Aber sonst geht es unten gut. Aber oben könnte es besser gehen.
    Kaess: Herr Grosser, vielen Dank für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.