Am Donnerstag (29.04.2021) feiert der neue US-Präsident Joe Biden sein 100-tägiges Amtsjubiläum. Die Erwartungen an ihn waren groß. Tatsächlich hat Biden seit dem Einzug ins Weiße Haus keine Zeit verloren - und das nicht nur beim Thema Impfen: Den Austritt der USA aus dem Pariser Klimaabkommen und aus der Weltgesundheitsorganisation WHO hat er rückgängig gemacht, den Einreisestopp für Bürger aus bestimmten muslimischen Länder revidiert.
Ein bereits verabschiedetes zwei Billionen Dollar schweres Hilfspaket soll die sozialen Härten der Covid-Pandemie abfedern, als Nächstes steht ein großes Infrastrukturpaket an, das ebenfalls rund zwei Billionen Dollar kosten soll. Auch in der Außenpolitik setzt Biden auf Zusammenarbeit und Partnerschaft anstatt auf Konfrontation, wie sein Vorgänger Donald Trump. Für sein entschlossenes Handeln bekommt er von vielen gute Noten. Dabei galt Biden vielen als Verlegenheitslösung gegen Trump, als ein Kandidat, auf den sich viele einigen konnten, der aber niemand wirklich vom Hocker riss.
Sigmar Gabriel ist ehemaliger Bundesminister und heute Vorsitzender der Atlantik-Brücke, einem überparteilichen und gemeinnützigen Verein, dessen Ziel es ist, die wirtschafts-, finanz-, bildungs- und militärpolitische Zusammenarbeit zwischen den USA und Deutschland zu stärken. Mit Blick auf die ersten 100 Amtstage von Biden, sagte Gabriel im Deutschlandfunk: "Er legt in der internationalen Politik ein genauso gutes Tempo vor wie in der Innenpolitik."
Als Beispiele für Bidens außenpolitisches Engagement nannte Gabriel unter anderem die Verlängerung des New-Start-Vertrages, die neuen Verhandlungen mit dem Iran und die Einladung zur internationalen Klimakonferenz.
"Jetzt sagen die Amerikaner, wir stehen dafür nicht mehr zur Verfügung"
Der Abzug der Amerikaner aus Afghanistan verwundere ihn indes nicht, betonte Gabriel, denn dies hätte bereits der ehemalige Präsident Barack Obama vorgehabt. "Die Amerikaner werden viel stärker, als wir das gewohnt sind, die Frage stellen, bringt unser Auslandseinsatz, unser Engagement in der Welt Vorteile auch für die amerikanische Gesellschaft oder nur Nachteile." Das stelle Europa vor neue Herausforderungen: "Für alle schwierigen Aufgaben hatten wir die USA. Wenn es gut ging haben wir bezahlt; wenn es nicht gut ging hatten wir einen Schuldigen. Jetzt sagen die Amerikaner, wir stehen dafür nicht mehr zur Verfügung."
Biden sei aber durch eine tiefe Spaltung seines Landes vor allen Dingen in der Innenpolitik gefordert, so Gabriel. Im Gegensatz zur Regierung von Barack Obama, der Biden bereits als Vizepräsident angehörte, trete die Regierung des Präsidenten Biden mit einem ziemlich starken Team auf, "was ihm ermöglichen soll und auch ermöglichen muss, sich der Innenpolitik, also letztlich der Versöhnung seines Landes zuzuwenden", so Gabriel.
Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Jasper Barenberg: Joe Biden agiert unerwartet kraftvoll in der Innenpolitik, heißt es dieser Tage ja vielfach aus den USA. Gilt das auch für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten unter dem neuen Präsidenten?
Sigmar Gabriel: Na ja. Wenn man sieht, was in den ersten 100 Tagen alles angeschoben worden ist – da gibt es die Verlängerung des New Start Vertrages, die Begrenzung der interkontinentalen Atomwaffen-Produktion zwischen Russland und den USA, er hat die Iran-Verhandlungen um eine Verabredung, dass der Iran nicht wieder zur Atommacht wird, wieder gestartet. Er hat, wie ich finde, richtigerweise auch stärker sich dem Indopazifik genähert als wichtiges Aufgabengebiet der USA und wird weniger stark im Nahen Osten und in Europa vertreten sein, also all das, was er vorher angekündigt hat. Und was den Klimaschutz angeht ist er derjenige, der sehr schnell nach seiner Amtszeit zu dieser Klimakonferenz zusammengerufen hat, wenn sie auch nur virtuell stattfinden konnte. Ich finde, er legt in der internationalen Politik ein genauso gutes Tempo vor wie in der Innenpolitik.
"Er hat ja Leute berufen mit viel Erfahrung"
Barenberg: Nun gab es ja vorab die Erwartung oder die Sorge vielmehr, dass nach den polarisierenden Trump-Jahren Joe Biden alle Hände voll zu tun haben würde mit dem Versuch, die tiefen Verwerfungen in der amerikanischen Gesellschaft zu heilen, und dass kaum Zeit und Energie für eine aktive Außenpolitik übrig bleiben würde. Das war eine Fehleinschätzung?
Gabriel: Da ist schon was dran, dass der amerikanische Präsident durch diese tiefe Spaltung seines Landes vor allen Dingen in der Innenpolitik gefordert ist. Aber wenn es einen großen Unterschied zu Obama gibt, dann vielleicht den, dass Obama ein Einzelspieler war und Biden mit einem sehr starken Team begonnen hat. Er hat ja Leute berufen mit viel Erfahrung, die vom ersten Tag der Amtszeit an in der Lage waren, ihre Ämter auszufüllen, und dazu gehört zum Beispiel auch Antony Blinken als ein erfahrener Außenpolitiker, der übrigens Europa auch besonders gut kennt. Das ist vielleicht der Vorteil, aber auch der größte Unterschied zwischen Obama und der Regierung von Joe Biden, dass er mit einem ziemlich starken Team auftritt, was ihm ermöglichen soll und auch ermöglichen muss, sich der Innenpolitik, also letztlich der Versöhnung seines Landes zuzuwenden.
Barenberg: Mit seinem Beschluss, die US-Truppen spätestens bis zum 11. September aus Afghanistan abzuziehen und nach Möglichkeit sogar noch früher, bis Juli, hat der US-Präsident die NATO-Verbündeten ja gerade vor kurzem überraschend vor vollendete Tatsachen gestellt. Ist das ein Beispiel dafür, dass Bidens Rücksichtnahme auf Bündnispartner und sein Angebot zur Zusammenarbeit durchaus auch Grenzen hat?
Gabriel: Ich habe mich gewundert darüber, dass so viele gesagt haben, das sei überraschend, denn dass die Amerikaner sich aus Afghanistan zurückziehen wollen, das wird diskutiert schon unter Obama. Da ging es schon los. Trump wollte noch viel schneller raus als Biden jetzt. In der Tat stellt uns das vor eine enorme Herausforderung, denn natürlich ist es auch so, dass es wie eine Einladung an die Taliban verstanden werden kann, einfach mal zu warten, bis die Amerikaner und die internationalen Verbände weg sind, um dann dort wieder eine mittelalterliche Herrschaft zu installieren.
Aber dass das kommen würde, musste jedem klar sein, denn es gibt in den Vereinigten Staaten seit Jahren eine über alle Parteien hinweggehende Müdigkeit, für die internationalen Einsätze weiterhin so viele Soldaten zur Verfügung zu stellen. Das kam nicht so überraschend, wie das viele hier so dargestellt haben. Ob das gut oder weniger gut ist, ob man nicht hätte sich mehr Zeit nehmen müssen, das ist eine andere Frage, aber die Position der USA war seit langem klar.
"Wir haben es ziemlich bequem gehabt in den letzten Jahrzehnten"
Barenberg: Und doch haben die NATO-Partner hier auf europäischer Seite jedenfalls angenommen, dass man sich einig sei, dass es Bedingungen für einen solchen Abzug geben sollte. Eine Bedingung, dass es deutlich weniger Gewalt seitens der Taliban gibt. Eine zweite, dass es konstruktive Verhandlungen über die Zukunft des Landes gibt. All das ist im Moment nicht der Fall. Ist die NATO doch kalt erwischt worden auf dieser Seite des Atlantiks und ist das kein Problem, wenn es um Zusammenarbeit beispielsweise in internationalen Sicherheitsfragen gehen wird?
Gabriel: Es zeigt, dass jedenfalls der Satz "America is back", den Biden auf der Münchner Sicherheitskonferenz ausgesprochen hat, nicht meint, dass das Amerika zurück ist, das wir die letzten 70 Jahre kennengelernt haben. Die Amerikaner werden viel stärker, als wir das gewohnt sind, die Frage stellen, bringt unser Auslandseinsatz, unser Engagement in der Welt Vorteile auch für die amerikanische Gesellschaft oder nur Nachteile. Eine solche Frage haben Amerikanerinnen und Amerikaner selten gestellt und wir werden auf einmal mit einer Welt konfrontiert, wo der, der für uns die heißen Kartoffeln aus dem Feuer geholt hat, sich dafür nicht mehr zuständig empfindet. Das ist für uns eine ganz neue Herausforderung.
Wir haben es, wenn wir ehrlich sind, ziemlich bequem gehabt in den letzten Jahrzehnten. Für alle schwierigen Aufgaben hatten wir die USA. Wenn es gut ging haben wir bezahlt; wenn es nicht gut ging hatten wir einen Schuldigen. Jetzt sagen die Amerikaner, wir stehen dafür nicht mehr zur Verfügung. Es zeigt übrigens auch, wie weit wir davon entfernt sind, solche Aufgaben alleine wahrzunehmen. Es wird ja viel über europäische Souveränität gesprochen. Am Beispiel Afghanistan sieht man, wir sind auf die Zusammenarbeit mit den Amerikanern angewiesen, und die stehen nicht mehr in dem Maße zur Verfügung wie in der Vergangenheit. Sie werden weniger europäisch denken, weniger sich auf den Nahen Osten konzentrieren und sich viel stärker um den Indopazifik kümmern, weil da ihre große strategische Herausforderung mit China liegt.
"Erst mal Minigolf spielen, bevor wir das ganz große Golf versuchen"
Barenberg: Dieser Trend aus den Trump-Jahren (und das war ja in Ansätzen auch schon bei Barack Obama zu spüren) setzt sich fort. Was heißt das jetzt für uns? Gerhard Schröder, der frühere Bundeskanzler, Ihr Parteifreund, hat in einem Buch die Schlussfolgerung gezogen, dass sich Europa von der amerikanischen Vormundschaft emanzipieren soll, also mit einer echten europäischen Armee beispielsweise für seine eigene Verteidigung sorgen. Gehen Sie da mit?
Gabriel: Die Amerikaner werden froh sein, wenn wir bereit wären, viele Dinge selbst in die Hand zu nehmen, weil sie weder das Geld, noch das Personal für solche Aufgaben weiter in dem Umfang zur Verfügung stellen wollen. Ich muss nur immer ein bisschen schmunzeln, wenn ich solche Forderungen nach einer europäischen Armee höre. Ich meine, Europa ist nicht mal in der Lage, innerhalb von vier Jahren ein Freihandelsabkommen mit Kanada zu beschließen. Das liegt auch immer noch im Deutschen Bundestag. Aber wir philosophieren über die europäische Armee.
Mein Vorschlag ist: Ja, Europa stärken. Aber vielleicht versuchen wir mal, die naheliegenden Aufgaben zu lösen. Oder, um mal im Bild zu bleiben: Erst mal Minigolf spielen, bevor wir das ganz große Golf versuchen. Ich staune manchmal über die großen Ankündigungen und dann sieht man, wie im kleinen Alltag Europa schon nicht in der Lage ist zusammenzuhalten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.