"Übers weite Meer, mein Vaterland, mein Amerika. Stahlgegürtet und in prunkender Rüstung, wie ein Held schmetterst Du die hehren Worte: Für Freiheit! Für Demokratie!
Und in mir regt sich etwas, antwortet Dir, mein Vaterland, mein Amerika.
Ganz so, als riefe in der stillen, menschenleeren Nacht meine erste, längst entschwundene Liebe mich – sie, die ich nicht mehr liebe, nicht mehr, nicht mehr …"
Vier lange Wochen mit dem Schiff über den Atlantik. Dann, endlich, im August 1917, sitzen John Reed und seine Frau Louise Bryant voll fiebriger Erwartung in der Eisenbahn Richtung Petrograd, es geht über Schweden und Finnland.
Sie notierte: "Niemand glaubte, dass unser Zug Petrograd wirklich erreichen würde. Ich war entschlossen, zu Fuß zu gehen, sollte er anhalten."
Und Reed hielt fest: "Über Wyborg lag eine unheilvolle Spannung, … Im Dämmerlicht des späten Nachmittags standen auf dem Bahnsteig hunderte von Soldaten mit ausgezehrten Gesichtern. Die Gesprächsfetzen, die wir aufschnappten, ließen uns frösteln: Wir müssen uns von der Bourgeoisie befreien! Die Generäle sollte man alle töten! Nein, jemand töten ist immer falsch!"
Ein ganz und gar nicht unparteiischer Reporter
John Reed ist damals schon berühmt, durch brillante Reportagen ab 1914 vom Krieg in Europa, und vorher über die Revolution in Mexiko, die amerikanische Gewerkschaftsbewegung oder streikende Arbeiter in den Seidenmühlen New Jerseys. Louise Bryant ist Schriftstellerin, vertritt anarchistische Ideen und streitet für das Wahlrecht der Frauen. Den Sturz Zar Nikolaus des Zweiten im Februar 1917 haben die beiden nicht miterlebt, aber gehört, was in den Monaten des nachfolgenden Machtvakuums in Russland die Bolschewiki den von Jahrhunderten des Feudalismus gebeutelten Menschen versprachen: Alles Land den Bauern, den Arbeitern die Fabriken, Friede den Hütten, Krieg den Palästen – da müssen sie hin.
Sind Reed und Bryant Sozialromantiker? Überzeugte Revolutionäre? Beobachter oder Agitatoren? Auf jeden Fall erlebnishungrige, ganz und gar nicht unparteiische Reporter, beseelt vom Glauben an Gleichheit und Gerechtigkeit. Wie im Delirium taumelt das junge Paar Tag und Nacht durch die unter Strom stehende russische Hauptstadt.
Interviews mit Trotzki und Lenin
"Was für ein Anblick, die Arbeiter der Potilov-Werke, 40.000 Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten, wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte!"
"Überall in Petrograd hingen Fahnen. Alle rot! Sogar das Denkmal für Katharina die Große war geschmückt. Da stand Katharina, an ihrem Zepter wehte die rote Fahne."
Reed führt Gespräche mit Trotzki, mit Lenin und Alexander Kerenski, dem Ministerpräsidenten der provisorischen Regierung. Als nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki am 25. Oktober 1917 tief in der Nacht der Zweite Allrussische Kongress der Räte beginnt, sind Reed und Bryant in der verrauchten, drangvollen Enge des Großen Sitzungssaals im Smolny-Institut mit dabei.
Mitbegründer der US-KP
"Der Petrograder Sowjet hatte die Provisorische Regierung niedergezwungen und dem Sowjetkongress den Staatsstreich aufgedrängt. Würde Russland folgen und sich erheben? Und die übrige Welt, was würde sie tun? Würden die Völker dem Rufe folgen und aufstehen zu einem roten Weltsturm?"
Ein grausamer, fünf Jahre währender Bürgerkrieg beginnt. John Reed und Louise Bryant kehren zurück in die USA. Reed wird zum Mitbegründer der ersten kommunistischen Partei in seiner Heimat und steht in den nächsten anderthalb Jahren mehrfach vor Gericht, zuletzt wegen Hochverrats. Mit falschen Papieren flieht er nach Russland. Doch dort steckt er sich mit Flecktyphus an und stirbt mit nur 33 Jahren am 19. Oktober 1920, manche Quellen nennen auch den 17. . Der rote Reporter aus Amerika erhält in Moskau ein Staatsbegräbnis und wird an der Kremlmauer beigesetzt.
Sein Buch über seine Erlebnisse während der Oktoberrevolution hatte John Reed nach seiner Rückkehr in die USA inkognito in einem Hotel geschrieben. "Zehn Tage, die die Welt erschütterten" wurde berühmt und mehrfach verfilmt. Die New York Times setzte es 1999 auf Platz sieben der 100 bedeutendsten journalistischen Werke.