Eine Grundschule in Joinville, östlich von Paris. Auf dem Stundenplan der Vierten Klasse steht "Moral und Laizismus". Das Fach ist neu. Das Bildungsministerium hat es nach den Pariser Attentaten vom Januar für alle zwölf Jahrgänge – von der ersten Klasse bis zum Abitur – eingeführt, um die "Werte der Republik" zu vermitteln. Die Zehnjährigen in Joinville haben ihre Lektion gelernt:
"Frankreich ist ein laizistisches Land. Das bedeutet, dass wir alle Menschen akzeptieren, auch solche, die keine Religion haben", sagt Benjamin. "Unser Gesetz schreibt vor, dass alle staatlichen Schulen laizistisch sind und den Kindern keine Religion aufgezwungen werden darf", sagt Hugo. Sein Tischnachbar ergänzt: "Unsere Freiheit besteht darin, dass wir glauben oder nicht glauben dürfen und jemand, der nicht an Gott glaubt, nicht ermordet wird."
Die Klasse beteiligt sich an einem Schüler-Wettbewerb zur Feier des 110 Jahre alten Gesetzes über die Trennung von Kirchen und Staat, sagt die Lehrerin Dominique Dutertre, deshalb sei das Interesse der Schüler so groß. Für sie selbst ist das Thema aktueller denn je zuvor. "Nach den Attentaten müssen wir den Kindern erst recht klar machen, wie wichtig der Laizismus ist: Dass wir allen Religionen und auch dem Nicht-Glauben mit Toleranz begegnen müssen."
Aber mehr als ein Jahrhundert ohne Religionsunterricht an staatlichen Schulen hat auch eine bedenkliche Folge: Der religiöse Analphabetismus ist groß. Um das Problem zu bekämpfen, wurde 2002 in Paris das "Europäische Institut für Religionswissenschaften" gegründet. Dort werden Unterrichtsmaterialien und Fortbildungsprogramme zum Thema Laizismus und "religiöse Fakten" entwickelt.
Der Begriff "Le fait religieux" hat sich in Frankreich eingebürgert. Er soll deutlich machen, dass Religion nicht als eigenes Fach und schon gar nicht bekenntnisgebunden unterrichtet wird wie in Deutschland, stattdessen soll reines Faktenwissen über die Weltreligionen in andere Fächer wie Geschichte, Französisch oder Staatsbürgerkunde einfließen.
Philippe Gaudin ist Forschungsleiter am Institut für Religionswissenschaften. Der Philosoph betont, dass Frankreich sich auch als 'älteste Tochter der katholischen Kirche' – "la fille aînée de l'Église" – bezeichnet, und es ein langer, auch gewalttätiger Weg war, um die jahrhundertelange Vorherrschaft der katholischen Kirche abzuschütteln. "Die Französische Revolution war ein enormer Einschnitt. Im 19. Jahrhundert war Frankreich politisch sehr instabil. Erst in den 1870er Jahren konnte sich die Republik als Regierungssystem durchsetzen. Aber der Katholizismus war die dominierende Religion, und die Kirchenleitung hatte sich entschlossen, anti-republikanisch zu sein. Die Republik war eine schöne Idee, aber ihr fehlten die Republikaner."
Damals erhielt die Schule die Aufgabe, die sie bis heute erfüllen muss: Alle Kinder – unabhängig von Herkunft und sozialem Milieu – zu Republikanern zu machen. 1882 führte Ministerpräsident Jules Ferry die allgemeine Schulpflicht ein. Zugleich verbot der Regierungschef den Religionsunterricht, ersetzte ihn durch Staatsbürgerkunde, drängte den Einfluss der Jesuiten zurück. Die Trennung von Kirchen und Staat 25 Jahre später war die konsequente Folge dieser Politik, sagt Philippe Gaudin.
"Es wäre aber ein Fehlschluss, zu sagen: Das laizistische Frankreich hat über das katholische Frankreich gesiegt. Das Gesetz von 1905 ist vielmehr das Ergebnis einer Verhandlung. Es ist eine liberale Lösung, die es erlaubt hat, den Konflikt zu überwinden. Es verkörpert die Freiheit – im Rahmen eines politischen Gesetzes."
Auch für die Kirchengebäude wurde ein Kompromiss getroffen: Alle religiösen Bauwerke, die 1905 existierten, kamen in staatlichen Besitz. Sie werden auch heute vom Staat unterhalten. Religiöse Bauten, die nach 1905 entstanden sind, müssen die Glaubensgemeinschaften komplett aus eigenen Mitteln finanzieren.
Ein weiterer Schritt zu Befriedung war ein Gesetz von 1959 über das Verhältnis zwischen Staat und Privatschulen, sagt Gaudin. "Seither können Konfessionsschulen einen Vertrag mit dem Staat schließen. Wenn sie die staatlichen Programme respektieren und auch Schüler akzeptieren, die einem anderen oder keinem Glauben angehören, werden ihre Lehrer vom Staat bezahlt."
Zwei Entwicklungen haben dazu geführt, dass der Laizismus heute erneut Gegenstand politischer Auseinandersetzungen ist: Die weitgehende Säkularisierung der Gesellschaft und die Präsenz einer großen muslimischen Minderheit in Frankreich, die im öffentlichen Raum sichtbar ist. Immer wieder wird hitzig debattiert, welche Verhaltensmuster mit dem Laizismus-Prinzip vereinbar sind. So wurde 2004 ein Gesetz erlassen, das alle sichtbaren religiösen Zeichen wie große Kreuze, jüdische Kippa und muslimische Kopftücher in den staatlichen Schulen verbietet.
Philippe Gaudin: "Für viele Europäer mag das Gesetz unverständlich sein, aber wenn man weiß, welche Rolle die Schule in der politischen Geschichte Frankreichs gespielt hat, dann ist es absolut folgerichtig. Das Gesetz besagt: Die Schule ist der Ort, wo sich die kritische Urteilsfähigkeit bildet, unabhängig von allen familiären oder kommunitaristischen Zugehörigkeiten."
Neuerdings missbrauchen vor allem rechte und rechtsextreme Politiker den Laizismus für parteipolitische Zwecke: Sie behaupten, das Konzept sei durch eine "Islamisierung" des Landes bedroht.
Die Viertklässler aus Joinville jedenfalls haben den Geist des Laizismus-Prinzips begriffen und in einem Gedicht beschrieben, das sie Freiheit genannt haben. Selma liest es vor: "Frei sind wir, unsere Lektüren zu wählen, Religionen gegenüber sind wir unabhängig. Wir können uns frei äußern, wenn wir die Anderen dabei respektieren. Nichts kann uns am Denken hindern. Du darfst alles tun, was du willst, wenn es die Anderen nicht ärgert. Wir sind frei, zu lieben."