Dass Aino Marsio, geboren am 25. Januar 1894, im Jahr 1920 an der Technischen Hochschule Helsinki eine Diplomprüfung als Architektin ablegte, das war damals für finnische Verhältnisse bereits Normalität. Dennoch blieb die Baukunst eine Männerdomäne. Deshalb gründete die Tochter eines Bahnarbeiters noch als Studentin einen Verein ausschließlich für Architektinnen – und lud als Vortragsredner einen Kommilitonen ein, Alvar Aalto. Der später als Pionier einer skandinavischen Moderne berühmt gewordene Architekt eröffnete 1923 ein eigenes Büro. Aino Marsio wurde seine Mitarbeiterin, Ende 1924 heirateten die beiden.
"Aino behauptete immer: ‚Alvar ist der Schöpferische von uns beiden.‘ Sie war immer an der Arbeit hinter den Kulissen: tagsüber Direktor von Artek, dem Unternehmen, das Aaltos Möbel ausführte, abends Gastgeberin für Finnlands intellektuelle Elite."
"Wir sind nicht daran interessiert, Luxusartikel zu entwerfen"
Siegfried Giedeon hatte als Generalsekretär die Aaltos zu den Internationalen Kongressen der Avantgarde-Vereinigung CIAM eingeladen. Soziales, zweckmäßiges, dennoch ästhetisch anspruchsvolles Bauen, darum kreiste die Arbeit der vom Temperament her so unterschiedlichen Architekten. Aino Aalto fasste es kurz und bündig:
"Wir sind nicht daran interessiert Luxusartikel zu entwerfen. Das wäre ja ganz leicht, eine Arbeit ohne Probleme."
Das Architektenpaar entwickelte einen ganz eigenen Stil, zeitgenössisch schlicht, aber zugleich auch ausdrucksstark:
"So sehr die 20er-Jahre den Konstruktivismus erfunden haben, so sehr haben die 30er-Jahre ihn in Kreise und Schlaufen überführt, die Lebensfreude signalisieren sollen. Und das ist Aalto: Ab 1932 ist fast alles rund und zugleich streng technisch, funktionalistisch konstruiert."
Wenn Thomas Kellein einfach nur "Aalto" sagt, dann denkt der Kunsthistoriker an eine Art gemeinsames Markenzeichen, vor allem an die 1935 gegründete und von Aino Aalto geleitete Firma Artek "für moderne Wohnkultur", spezialisiert auf Holzmöbel:
"Es ist ein aufgesägtes Birkenholz, das lamellenweise ineinander gesteckt wird, sodass man den Eindruck einer unendlichen Schlaufe oder Welle hat."
Das an Stahlrohrsessel und Freischwinger angelehnte Design ist nicht dekorativ, sondern aus den Bedürfnissen der Kunden heraus entwickelt – und mit Blick auf eine kosten- und ressourcensparende Produktion. Mit diesem Ansatz gingen Aino und Alvar Aalto 1933 an ihr erstes großes Architekturprojekt:
"Für das Tuberkulosesanatorium in Paimio von Grund auf zu überlegen, wie muss ein solches Zimmer eingerichtet sein? Was brauche ich als Bett, was brauche ich als Waschbecken, was brauche ich für Beleuchtungen und schließlich auch, was brauche ich für Stühle?"
Schlüsselbau der Moderne
Das Sanatorium Paimio, ein Schlüsselbau der Moderne, streckt seine rechtwinklig gegliederten Flügel weit hinaus in die finnische Waldlandschaft, Luft und Sonne werden über zahlreiche Balkons eingefangen. In der zweckmäßigen Gestaltung erkennt Thomas Kellein eine komplexe Einheit von Architektur und Inneneinrichtung:
"Wie sie versuchen für den Patienten so eine Art Welt zu erzeugen: Die ist einerseits noch stählern, kalt – und auf der anderen Seite wird mit einer Türkisfarbe versucht, ein bisschen Leben dem Patienten zuzufächeln."
Ausgleich der menschlichen Gegensätze als Schöpfungsquelle der Kunst
Nicht nur Farbe brachte Aino Aalto in das modernistisch karge Ambiente. Für den Formenreichtum eines Küchen- und Tafelservice aus industriell gefertigtem Pressglas wurde ihr 1936 die Goldmedaille der Mailänder Triennale verliehen. Und nach ihrem Tod im Januar 1949 fanden sich im Nachlass Fotografien, die ganz in der Tradition der Neuen Sachlichkeit stehen. Auch die austarierte, klare Handschrift der Schwarz-Weiß-Aufnahmen markiert jenen besonderen Anteil Ainos am Lebenswerk der Aaltos, den der gemeinsame Freund Siegfried Giedion charakterisierte:
"Diese Ehe war ungewöhnlich, ihr wirkliches Geheimnis aber lag wohl in einem tiefen Ausgleich menschlicher Gegensätze. Aalto ist unruhig, überbordend, unberechenbar; Aino war intensiv, beharrlich und schweigsam."