Bevor er zum Ende kam, hielt der Redner inne, griff in die Westentasche und fingerte ein Stück Metall hervor, ein Eisernes Kreuz. Der Kaiser persönlich hatte es ihm im Herbst 1918 an die Brust geheftet. Jetzt hielt er es den tobenden Abgeordneten der NSDAP entgegen:
"Fragen Sie doch einmal Herrn Goebbels nach seinem Eisernen Kreuz Erster Klasse. Herr Goebbels sagt: Deutschland muss nationalsozialistisch regiert werden. Nein, dafür haben wir Kriegsteilnehmer nicht vier Jahre lang unseren Kopf hingehalten. Dafür nicht, dass die Nationalsozialisten aus Deutschland ein Tollhaus machen!“
Der Auftritt des SPD-Abgeordneten Carlo Mierendorff im Februar 1931 zählte zu den Denkwürdigkeiten in den Annalen des Deutschen Reichstages. Mit noch nicht 34 Jahren war Mierendorff in seiner Fraktion einer unter den Jüngsten. Als kompromissloser Kämpfer für die Weimarer Demokratie hatte er sich indes längst einen Namen gemacht.
Zunächst wollte Mierendorff Schriftsteller werden
Geboren am 24. März 1897 im sächsischen Großenhain, aufgewachsen in Darmstadt, mit 17 freiwillig an die Front. Die Erfahrung des Ersten Weltkrieges veränderte Mierendorffs Selbstbild. Hatte er sich zunächst als künftigen Literaten gesehen, so jetzt als politisch Handelnden. Fasziniert beobachtete er die revolutionären Umbrüche in Europa, die 1917 in Sankt Petersburg ihren Ausgang genommen hatten.
"Im Oktober 1918 lag ich an der Westfront im Abwehrkampf gegen die Amerikaner. Die Nachrichten aus Russland begeisterten uns. Der Refrain unserer Abende lautete: 'Wir wollen gute Bolschewisten sein!' Stattdessen wurde Mierendorff Anfang 1920 Mitglied der SPD. Der fast gleichaltrige Dramatiker Carl Zuckmayer, seit 1919 eng mit ihm befreundet, sah ihn als Exponenten einer Generation. Und so Mierendorff:
"Keiner von uns hatte eine politische, demokratische Tradition oder gar eine Partei-Erziehung. Die meisten waren im Krieg Offiziere, aber wir waren alle in den verschiedensten Schattierungen doch auf dem gleichen Gesinnungsgrund, überzeugte Anhänger dessen, was wir die Deutsche Republik nannten, militante Kriegsverächter und gläubige Europäer geworden.“
Frühe Warnung vor völkischer "Mord- und Totschlagpropaganda"
Nach dem Attentat rechter Terroristen auf den Außenminister der Republik Walter Rathenau verfasste Mierendorff 1922 eine Kampfschrift gegen die nach seinen Worten "gemeingefährliche Hetze der deutsch-völkischen Partei“ und deren „Mord- und Totschlagpropaganda". Er warnte vor der Agitation der Antisemiten. Diese richte sich gegen Juden, aber auch gegen jeden "Bekenner des demokratisch-republikanischen Gedankens." Die Verflechtung der Reichswehr mit rechten Paramilitärs und den Mangel an ziviler Kontrolle über die bewaffnete Macht sah er als Gefahr für den Bestand der Republik. Er zog 1932 eine ernüchternde Bilanz:
Der deutsche Parlamentarismus hat kein Aufwärts, sondern ein Abwärts erreicht. Ganz groß steht deshalb die Aufgabe der Verwirklichung der Demokratie in Deutschland nach wie vor vor uns. Was wir schon zu besitzen glaubten, wir müssen es eigentlich erst schaffen.“
Erfolge gegen die NSDAP mit neuer Wahlkampf-Strategie
Die Nationalsozialisten waren zu diesem Zeitpunkt parlamentarisch schon fest etabliert. Einen Monat vor dem Durchbruch der NSDAP bei der Reichstagswahl im Juli 1930 hatte Mierendorff eine frühe Analyse der Hitler-Bewegung veröffentlicht. Er verwies auf die Fähigkeit der NSDAP, bisherige Nichtwähler massenhaft zu mobilisieren und den emotionalisierenden Charakter ihrer Propaganda. Dem mussten nach seinem Urteil die Verteidiger der Demokratie mehr entgegensetzen als den reinen Appell an die Vernunft. Stimmenverluste der NSDAP bei der hessischen Landtagswahl im Juni 1932 wertete er als Erfolg einer stärker auf die Psyche der Wähler zielenden Strategie.
"Wer die Massen gesehen hat, die wir mit Hilfe der neuen Methode mobilisierten, muss sich sagen: Sie werden sich nicht freiwillig einer Nazi-Gewaltherrschaft unterordnen.“
Er sollte nicht recht behalten. Im Juni 1933 wurde Mierendorff in einem Frankfurter Café festgenommen und blieb bis zum Februar 1938 in KZ-Haft. Im Zweiten Weltkrieg fand er Anschluss an den Kreisauer Widerstandskreis um den Grafen Helmut James von Moltke. Das Attentat auf Hitler hat er nicht mehr erlebt. Am 4. Dezember 1943 starb er beim britischen Luftangriff auf Leipzig.