"Meine verehrten Hörerinnen und Hörer, der gestrige Tag, an dem die Gleichberechtigung der Frau in die Verfassung aufgenommen worden ist, dieser Tag war ein geschichtlicher Tag." Am 19. Januar 1949 sprach Elisabeth Selbert im Nordwestdeutschen Rundfunk. Nur ihrem Einsatz ist zu verdanken, dass Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes so heißt, wie wir ihn heute kennen: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt."
Wie alle Mädchen musste sie die Schule ohne Abschluss verlassen
Die bis dahin selbstverständliche Benachteiligung des weiblichen Geschlechts hatte auch Elisabeth Selbert erlebt. Am 22. September 1896 war sie in Kassel zur Welt gekommen. Wie alle Mädchen musste auch Elisabeth die Realschule ohne Abschluss verlassen - trotz herausragender Leistungen.
Anfangs arbeitete sie als Fremdsprachensekretärin, später im Telegrafendienst der Post. Dort lernte sie 1918 ihren späteren Ehemann Adam Selbert kennen - einen Sozialdemokraten, der sie während der Novemberrevolution mit seiner Leidenschaft für Politik ansteckte. Auch sie trat in die SPD ein. Da "erlebte ich zum ersten Mal wirkliche Politik.", erinnerte sich Elisabeth Selbert 1982 im Alter von 86 Jahren, an diese Zeit:
"Ich merkte sehr bald, dass man politisch nur effizient tätig sein kann, wenn man die nötigen fachlichen Voraussetzungen mitbringt. Und so kam dann der gemeinsame Wunsch und die gemeinsame Entscheidung, dass ich noch mein Abitur als Externe nachholte und dann mit dem Studium alsbald anfing."
Frauen in Scheidungen rechtlich beigestanden
Nach sieben Semestern promovierte Elisabeth Selbert in Jura und im Dezember 1934 bekam sie ihre Zulassung als Anwältin - gerade noch rechtzeitig, bevor die Nazis Frauen den Eintritt in den Anwaltsberuf verboten. Sie arbeitete mit einer Gruppe von Anwälten zusammen, die mit rechtlichen Mitteln versuchten, Menschen vor Verfolgung zu schützen. Außerdem vertrat sie häufig Frauen, die vor der Scheidung standen:
"Wie groß war immer das Erschrecken dieser Frauen, dass sie bei der Scheidung mit leeren Händen aus dem Hause gingen, weil sie nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet waren, im Geschäft oder im Betrieb des Mannes mitzuarbeiten, ohne allerdings an dem Gewinn oder dem Vermögen, das sie mit erarbeitet hatte, beteiligt zu sein."
Männer hatten bei allem das letzte Wort
Ob es um Geld, den Wohnort, die Erziehung und Ausbildung der Kinder oder die Berufstätigkeit der Ehefrau ging - nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch hatte der Mann bei allem das letzte Wort. Für Elisabeth Selbert war es selbstverständlich, dass bei einem staatlichen Neuanfang solche Gesetze endgültig ad acta gelegt werden mussten.
Nach Kriegsende beteiligte sie sich am Wiederaufbau der SPD, arbeitete mit an der hessischen Verfassung und wurde als eine von vier Frauen in den Parlamentarischen Rat berufen, der das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik entwerfen sollte - doch dort dachte man gar nicht daran, Frauen die uneingeschränkte Gleichberechtigung zu geben. Das aktive und passive Wahlrecht sollte reichen. Es war Elisabeth Selbert, die beantragte, "den Artikel 3 so zu formulieren: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Ganz kurz und bündig."
Mobilisierung durch Presse und Vorträge
Mit diesem Satz wäre das gesamte Ehe- und Familienrecht auf einen Schlag verfassungswidrig geworden und hätte endlich reformiert werden müssen. Zweimal lehnte der Parlamentarische Rat den Antrag ab. Mit Hilfe von Zeitungsartikeln und Vorträgen mobilisierte Elisabeth Selbert nun die westdeutschen Frauen. Diese bombardierten den Parlamentarischen Rat mit Briefen, in denen sie die Zustimmung zu Selberts Formulierung forderten. Im Januar 1949 gab der Parlamentarische Rat schließlich nach und stimmte für die Gleichberechtigung - ohne Wenn und Aber. Dazu Selbert später:
"Ich möchte eigentlich diese Zeit noch einmal erleben, welchen ungeheuren Einfluss diese politische Bewegung der Frauen, die plötzlich also wie ein Sturm über den Rat wegging, bedeutet hat."
Zu Lebzeiten bekam Elisabeth Selbert nie die angemessene Anerkennung für ihren wegweisenden Einsatz. Grundgesetz hin oder her: Die Gleichberechtigung wurde in den restaurativen Fünfzigerjahren in der Bundesrepublik weitgehend ignoriert. Elisabeth Selbert zog sich schon bald aus der Politik zurück und betrieb ihre Kanzlei in Kassel noch bis ins 85. Lebensjahr. Sie starb am 9. Juni 1986 im Alter von 89 Jahren.