Großer Andrang, als John Dos Passos 1962 nach West-Berlin kam. Literaturkritiker Walter Höllerer hatte ihn eingeladen und das Publikum eingestimmt:
"Es gibt einen Ausspruch von Dos Passos, der sein Schaffen charakterisiert: Sein Schreiben sei ein 'Aufbegehren gegen den Würgegriff der Mächte, die der Mensch selbst geschaffen hat‘."
Autor der "verlorenen Generation"
Der vom Weltruhm umstrahlte Autor des 1925 erschienenen Epochenromans "Manhattan Transfer" erwies sich in Berlin als ein völlig unprätentiöser Erzähler seines Lebens: "Es war die "lost generation", zu der der am 14. Januar 1896 in Chicago als Sohn eines Rechtsanwalts portugiesischer Abstammung geborene John Roderigo Dos Passos gehörte.
Gertrude Stein hatte mit diesem Bild der "verlorenen Generation" eine Reihe von amerikanischen Autoren bezeichnet, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Europa gekommen waren und während des Ersten Weltkriegs ihre bitteren Erfahrungen gemacht hatten – Erlebnisse, die Dos Passos, der sich freiwillig als Ambulanzfahrer gemeldet hatte, in seine frühen Bücher wie den 1921 erschienenen Antikriegs-Roman "Drei Soldaten" einarbeitete.
Sein großes Lebensthema fand der Autor aber erst, als er, zurück in Amerika, in seinem Roman "Manhattan Transfer ein Porträt New Yorks zeichnete:
"Einst gab es Babylon und Ninive, erbaut aus Ziegelsteinen. Athen, das waren Säulen aus Gold und Marmor. Stahl, Glas, Fliesen, Beton – das werden die Materialien der Wolkenkratzer sein. Die millionenfenstrigen Gebäude werden auf der schmalen Insel dicht gedrängt und glitzernd aufragen, Pyramiden über Pyramiden, schimmernd wie der weiße Wolkenturm eines Gewitters."
Schreiben mit dem "Kamera-Blick"
In dem als Collage gebauten Porträt New Yorks in der Zeit ungefähr von 1900 bis 1925 laufen sich Menschen immer mal wieder über den Weg, bis ihre Spuren schließlich doch im Nirgendwo verweht werden. Dieses Verwehende fand sich auch in Dos Passos‘ Sätzen, ohne dass sie als Abbildungen des oft anarchischen Sammelsuriums eines Lebens selbst in Anarchie mündeten, sondern in eine neue Romanstruktur. Sie verdankte sich, wie Dos Passos 1962 in Berlin erzählte, unter anderem den filmischen Schnitttechniken Sergei Eisensteins, die ihn zu seinem Camera Eye, dem Kamera-Blick, inspiriert hatten.
Mit Hilfe dieses Kamera-Blicks fand in "Manhattan Transfer" alles Mögliche Platz: Werbesprüche und Schlagzeilen der Zeitungen, Luftspiegelungen in den Straßenschluchten, Liebeswünsche und Alpträume.
New York als Ort der Verheißung und zugleich als Pandämonium – so hat nicht nur Walter Höllerer das Buch gelesen: "Eine Darstellung des animalischen Großstadtdaseins von einigen Dutzenden von Individuen in einer materialisierten Welt."
Gegen diesen Materialismus stellte Dos Passos die Aufforderung "... der Frage zu Leibe gehen, wie man das ausbreiten könnte, was die Menschen viel nötiger hätten: das Gefühl, seinen Platz zu haben, den Glauben an die menschliche Würde, das Vertrauen jedes einzelnen in die Größe seiner eigenen Seele."
Solche Ansichten hat Dos Passos in einer in den 1930er-Jahren entstandenen, unter dem Gesamttitel "U.S.A." zusammengefassten Roman-Trilogie fortschreiben und ein komplexes, kritisch-anklägerisches Porträt diesmal ganz Amerikas schaffen können.
Der späte Dos Passos wurde rechtskonservativ
Doch dann vollzog der einst linksradikale Rebell eine politische Kehrtwende und gab in dem 1941 erschienenen Buch "The Ground We Stand On" seine neue Position bekannt: als jemand, der seinen Frieden mit Amerika geschlossen hatte und nunmehr rechtskonservative Ideen vertrat – und fortan, bis zu seinem Tod 1970 nur noch Bücher schrieb, in denen von der früheren epischen Kraft und Wucht nicht mehr viel zu spüren war.
Dem mit "Manhattan Transfer" und der "U.S.A."-Trilogie erschriebenen Weltruhm als Pionier der Literatur des 20. Jahrhunderts hat John Dos Passos‘ blasses Spätwerk aber nichts anhaben können. Dieser Ruhm strahlt bis heute.