Knappe zwei Minuten dauert die Fahrt mit der "Adler 1". Viele Einheimische nennen die kleine weiße Fähre liebevoll "Schuhkarton". Für sie ist sie ein ganz normales Transportmittel für Fußgängerinnen und Radlerinnen von den Kieler Stadtteilen Wik hinüber nach Holtenau.
Ein Jahrhunderter alter Traum
Für andere ist die "Adler I" eine Touristenattraktion. Schließlich lassen sich von ihr aus große Pötte bestaunen. Genauso wie die historischen Schleusen des Nord-Ostsee-Kanals. Als der vor 125 Jahren eröffnete, gingen auf der gesamten Strecke auch 14 Fährlinien in Betrieb. Die fast 100 Kilometer lange Wasserstraße durchschnitt nicht nur das Land, sondern unterbrach auch viele Straßen und Schienenwege.
"Das kam von ganz oben, praktisch von Seiten der Reichsregierung, von Seiten des Kaisers. Das es hieß, also, diese Fähren müssen gebaut werden, müssen Tag und Nacht laufen und vor allem, müssen auch kostenlos sein für die Nutzer. Und da hat sich ja 1895 bis heute nichts geändert", erzählt Martin Krieger, Professor für nordeuropäische Geschichte an der Christian- Albrechts-Universität in Kiel.
Viele Jahrhunderte blieb die künstliche Verbindung zwischen Nordsee und Ostsee ein Traum. Ende des 19. Jahrhunderts wurde er dann Realität. Krieger: "Das war also ein ganz, ganz kluger Schachzug, vor allem natürlich von Bismarck aber auch von einigen weitsichtigen Hamburger Kaufleuten. Denn es waren ja vor allem die Hamburger, die von diesem Kanal profitierten." Bis heute nehmen viele Frachtschiffe auf dem Weg von Hamburg in die Ostsee die Abkürzung durch den Nord-Ostsee-Kanal. So sparen sie den rund 800 Kilometer langen Umweg um die dänische Nordspitze Skagen – der im 19. Jahrhundert noch recht gefährlich war.
Nur acht Jahre Bauzeit für ein technisches Meisterwerk
Militärisch habe der von der Marine-Begeisterte Kaiser Wilhelm I. den Sinn des Projektes offenbar etwas anders verstanden, sagte Krieger: "Also, Bismarck hat den Kaiser quasi ausgetrickst. Also, er wusste, dass der Kanal nie eine große militärische Bedeutung haben würde. Eine Bedeutung, die er eigentlich bis heute nicht erlangte. Zum Glück muss man sagen!"
Rund 9.000 Menschen waren beteiligt. Binnen acht Jahren gruben, sprengten und schaufelten sie die künstliche Wasserstraße zwischen der Ostsee bei Kiel und Brunsbüttel nahe der Elbmündung. Trotz der 90 Toten bei den Bauarbeiten seien die Arbeitsbedingungen insgesamt gut und ordentlich bezahlt gewesen sagt Historiker Krieger.
Drüben, am anderen Kanalufer liegt der Kieler Stadtteil Holtenau. Von hier aus gelangt man über eine kleine Brücke auf die Kanalinsel. Dort stehen bunt zusammengewürfelt historische Backstein- und Holzbauten. Und die mächtigen Schleusenkammern des Nord-Ostsee-Kanals. An deren Rand steht nun Martin Finnberg. Seit vielen Jahren arbeitet er als Lotse auf dem Kanal:
"Banaler Alltag ist das nie, weil es eben ein ganz besonderer Arbeitsplatz ist. Es ist eben kein Schreibtisch. Und Sie hören es ja ein bisschen im Hintergrund, ein bisschen Industrieromantik mit Hilfe der Möwen und Schleusentore ist ja selbst dann vorhanden, wenn jetzt, wie gerade mal kein Schiff in der Schleuse liegt", sagt Finnberg. Er ist Ältermann der Lotsenbrüderschaft NOK II Kiel, Lübeck und Flensburg, also Vorsitzender von einer der beiden Lotsenvereinigungen, ohne die auf dem Nord-Ostsee-Kanal nichts ginge.
COVID-19 trifft auch den Nord-Ostsee-Kanal
Doch seit Monaten gibt es für die Lotsinnen und Lotsen nur noch wenig zu tun. Durch Corona ist weltweit der Handel zurückgegangen. Hinzu kommt der niedrige Ölpreis. Viele Reedereien nehmen wegen des günstigen Treibstoffs lieber den Umweg um die dänische Nordspitze, um sich so die Kanalgebühren zu sparen.
Finnberg: "Wir haben das ähnlich schon mal erlebt 2009 bei Lehman Brothers und der Weltfinanzkrise. Auch da hat es praktisch von einem auf den anderen Tag - und so ist es diesmal auch gewesen - einen Absturz von so 30, 35 Prozent gegeben. Was sich ja nachher relativ schnell wieder erholt hat nach dem Sommer. Also, es hat ja ein kleines Jahr gedauert, dann lief es wieder. Wie es diesmal wird, das ist die Frage. Aber das es jetzt einer weltweit gesundheitlichen Situation geschuldet ist, das ist einmalig."
Trotzdem will Finnberg wegen der deutlichen finanziellen Einbußen für ihn und seine freiberuflichen Kolleginnen und Kollegen nicht klagen. Die Gehälter sind normalerweise ordentlich und Auftragsschwankungen gehörten zum Beruf: "Aber das funktioniert eben nicht endlos. Irgendwann ist das finanzielle Polster weg. Und wenn Sie das Beispiel Luftfahrt bemühen : Irgendwann werden die Leute wieder fliegen wollen. Also muss das Personal und die Flotte bereitgehalten werden und so ist das im Seelotsenbereich auch."
Veraltete Infrastruktur bereitet Probleme
Deutlich länger schon als die niedrige Zahl von Schiffspassagen sorgt die alte Infrastruktur des Nord-Ostsee-Kanals für gewaltige Probleme. Nach der deutschen Wiedervereinigung gab es andere Prioritäten. Zudem ging der Bund als Eigentümer des Kanals von einem sinkenden Transportaufkommen aus. Doch das Gegenteil war der Fall. "Eigentlich müsste man so eine Wasserstraße ja laufend pflegen und weiterentwickeln", sagt Sönke Meesenburg, er leitet bei der bundeseigenen Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung (WSV) in Kiel den Bereich Investitionen.
Als der Ostseehandel zur Jahrtausendwende immer deutlicher Fahrt aufnahm rächte sich, dass viele Jahre nicht in die Instandhaltung investiert worden war. Meesenburg und seine Kolleginnen und Kollegen versuchen nun den Schalter umzulegen. An einer Stelle rund 15 Kilometer westlich von Kiel, haben vor einigen Monaten die Arbeiten zur Verbreitung des Kanals begonnen, damit sich Schiffe leichter begegnen können. Wegen des starken Regens ruhen die Arbeiten an diesem Morgen auf dem matschigen Areal.
Meesenburg: "Wir sehen, wenn hier Baubetrieb ist, im Grunde genommen nur Bagger und Treckergespanne, die den Boden bewegen. Vor 125 Jahren hat man natürlich viel mehr Menschen gesehen, die also auch tatsächlich körperlich gearbeitet haben. Die zum Teil auch mit Spaten bewaffnet also Boden in Loren geschippt haben. Von der Arbeitsweise hat es sich doch deutlich verändert, also, sehr viel mehr Maschineneinsatz."
Beim Ausbau ist Geduld gefragt
Trotz des technischen Fortschritts ist viel Geduld gefragt. Nicht nur hier bei der Erweiterung der Oststrecke. Auch in Brunsbüttel, wo sich die Errichtung einer fünften Schleusenkammer seit Jahren verzögert und die Kosten auf rund 800 Millionen Euro gestiegen sind.
Sanieren im Bestand sei deutlich komplizierter als etwas neues auf der grünen Wiese zu errichten. Auch die Umweltfragen seien heute viel wichtiger als früher, hält Meesenburg fest. Vor den Menschen, die binnen acht Jahren einen kompletten Kanal zwischen Ostsee und Nordsee aushoben, hat er viel Respekt: "Ich glaube, das ist beides: Genial und ein bisschen wahnsinnig!"