Sina Fröhndrich: 2,76 Millionen Arbeitslose im Februar, das war die letzte Zahl, die Frank-Jürgen Weise verkündet hat als BA-Chef. Als er vor 13 Jahren gestartet ist, da sah das noch ganz anders aus. Damals gab es teils fünf Millionen Deutsche ohne Job. Es hat sich einiges verändert auf dem Arbeitsmarkt, auch durch die Agenda 2010. Wenn Weise jetzt geht, welches Erbe hinterlässt er gewissermaßen? Darüber habe ich mit dem Arbeitsforscher Stefan Sell gesprochen. Wofür steht Frank-Jürgen Weise?
Stefan Sell: Ja! Frank-Jürgen Weise steht mit Sicherheit für eine nach außen sehr effiziente Umsetzung dessen, was mit der Agenda 2010, bezogen auf die Arbeitsverwaltung, beabsichtigt war. Er hat die damalige Bundesanstalt für Arbeit massiv umgebaut, er hat sie nach betriebswirtschaftlichen Kriterien modern gemacht und war da sicherlich auch erfolgreich. Man muss allerdings sehen, dass er auch davon profitiert hat, dass vor seinem Amtsantritt 80 Prozent der Arbeitslosen in der Arbeitslosenversicherung waren, und heute sind das nur noch knapp über 30 Prozent. Die meisten Arbeitslosen sind heute im Hartz-IV-System und da gibt es ja die Jobcenter, wo die Bundesagentur zwar beteiligt ist, aber nicht der alleinige Träger ist.
Fröhndrich: Wenn Sie jetzt sagen, er ist effizient gewesen, ein effizienzorientierter Manager, ist das für Sie problematisch, dass er eher der Verwalter vielleicht war?
"Es ist keine Schraubenfabrik, sondern eine der wichtigsten Behörden unseres Sozialstaats"
Sell: Ja, man kann das natürlich positiv sehen und sagen, die Behörde ist in dem Sinne mehr wie ein normales Unternehmen geworden und wird auch wirtschaftlicher geführt und ist insofern auf den Stand der Dinge gebracht worden. Auf der anderen Seite: Es ist keine Schraubenfabrik oder kein Unternehmen, was Kühlschränke herstellt, sondern es ist eine der wichtigsten Behörden innerhalb unseres Sozialstaats. Und die sozialpolitische Funktion der Bundesagentur für Arbeit - das bemängeln Kritiker -, das ist unter seiner Amtszeit doch quasi weitgehend verschwunden. Auch der Anspruch, Sozialpolitik zu gestalten, zum Beispiel unterwertige Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern und abzubauen, was früher mal Programm war, das hat überhaupt keine Rolle mehr gespielt. Und viele der Mitarbeiter in der Bundesagentur, die eher sozialpolitisch, sozialarbeiterisch, beraterisch motiviert waren und sind, die würden auch eher schlechte Noten geben, weil diese Qualifikation auf einmal gar keine Rolle mehr spielte. Zugespitzt formuliert: Die Leute sollten genauso gut dort in den Arbeitsagenturen arbeiten, als wenn sie in irgendeiner Firma irgendwelche Produkte verkaufen.
Fröhndrich: Das heißt, Sie hätten sich gewünscht, dass er sich mehr politisch beteiligt hätte?
Sell: Ja, nicht als Person, sondern natürlich als Bundesagentur für Arbeit. Da hat man von ihm immer nur gehört, er wäre ja nur die ausführende Behörde, der Exekutor, und die politischen Entscheidungen werden in Berlin getroffen. Das ist eine zulässige Strategie, aber sie führt natürlich dazu, dass von der Bundesagentur selber überhaupt keine gesellschaftspolitisch gestaltenden Effekte mehr ausgegangen sind.
Fröhndrich: Jetzt hat er sich aber heute dann doch politisch zu Wort gemeldet. Er hat einen langen Text in der "FAZ" verfasst und wehrt sich darin unter anderem auch gegen die Idee, das Arbeitslosengeld I im Alter – eine Idee von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz – länger auszuzahlen im Alter. Dann ist er ja doch jetzt am Schluss noch mal politisch geworden?
"Da grätscht er jetzt doch sehr deutlich rein"
Sell: Ja. Das muss vor dem Hintergrund der Erfahrung, die wir zumindest nach außen in den letzten 13 Jahren mit ihm gemacht haben, was politische Äußerungen anging, doch sehr, sehr erstaunen. Er hat seinen Abgang offensichtlich genutzt, um in einer hoch aktuellen und teilweise auch sehr diffusen politischen Auseinandersetzung zum Thema Vorschläge des Kanzlerkandidaten der SPD hier ganz klar Stellung zu beziehen gegenüber – ich sage das ganz deutlich – nicht, wie in den Medien oft berichtet wird, einer Infragestellung der Agenda 2010 durch Herrn Schulz, sondern er schlägt ja geringfügige Modifikationen, Verbesserungen für einen kleinen Teil der Arbeitslosen, nämlich den älteren Arbeitslosen vor. Das ist keine Infragestellung, sondern das sind, wenn überhaupt, einzelne Korrekturen, und da grätscht er jetzt doch sehr deutlich rein und das ist schon mehr als eine Parteinahme.
Fröhndrich: Und warum macht er das jetzt?
Sell: Ich glaube, er will doch noch mal ein Signal setzen, wo er politisch steht. Er ist ja oder war zumindest CDU-Mitglied und ich glaube, hier hat er sich doch sehr, sehr eindeutig positioniert. Er bemäntelt das in dem Artikel in der "FAZ" mit allgemeinen Gerechtigkeitsüberlegungen, aber das ist alles sehr eigensinnig, denn gerade die Beitragszahler in der Arbeitslosenversicherung, gerade für die, die viele Jahre, Jahrzehnte vielleicht eingezahlt haben, die haben in der Vergangenheit mit der Agenda 2010 massive Kürzungen ihrer Leistungen erlebt. Und wenn jetzt partiell für einen Teil von ihnen etwas verbessert werden soll, dann glaube ich, dass das auch als eine sehr gerechte Maßnahme empfunden wird. Und viele wissen vielleicht, dass auch die Kassen der Arbeitslosenversicherung prall gefüllt sind. Wenn er sagt, wenn man jetzt etwas länger Arbeitslosengeld I zahlt, dann belastet das die Steuer- und Beitragszahler, dann ist das natürlich, gelinde gesagt, eine sehr einseitige Interpretation, weil wenn ich den Leuten ein paar Monate länger Arbeitslosengeld zahle, dann entfallen in dieser Zeit natürlich auf der anderen Seite auch die ansonsten möglicherweise anfallenden Hartz-IV-Zahlungen. Das ist doch alles sehr, sehr einseitig in dieser aktuell aufgeheizten politischen Debatte.
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