Stefan Heinlein: Es ist wohl nur noch eine Frage von Wochen oder vielleicht von Monaten; dann aber über kurz oder lang wird zum ersten Mal in der Geschichte der EU ein Mitgliedsland die Europäische Union verlassen. Der Brexit, die Entscheidung der Briten, gilt vielen als Alarmzeichen. Nicht wenige sehen die Zukunft des europäischen Projektes dauerhaft in Gefahr.
Heute fast auf den Tag genau, vor 15 Jahren, am 1. Mai 2004, war die Stimmung eine ganz andere. Polen, die Slowakei, Tschechien, Slowenien, Ungarn, die drei baltischen Staaten plus Zypern und Malta – zehn neue Mitglieder wurden feierlich Mitglied der Europäischen Union. Auch wenn die damalige Euphorie mittlerweile an vielen Stellen eher einer Ernüchterung gewichen ist; die EU-Osterweiterung gilt immer noch als ein historischer Schritt, der endgültig die Teilung des Kalten Krieges beendete.
Am Telefon ist nun Professor Ireneusz Karolewski, Politikwissenschaftler am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Uni Breslau. Guten Morgen, Herr Professor!
Ireneusz Karolewski: Guten Morgen! Ich grüße Sie alle.
Heinlein: Ging vor 15 Jahren, am 1. Mai 2004, für die Polen, für Ihr Land ein Traum in Erfüllung?
Karolewski: Ja. Das war eine zivilisatorische Entscheidung in dieser Zeit und es war ein gewisser Traum, ein Traum, wieder ein Teil des Westens zu werden, ein Traum weg von der Mangelwirtschaft und ein Traum, wieder in der Demokratie zu leben und sich wegzubewegen vom Autoritarismus sowjetisch-russischer Prägung. Das heißt, dass es schon ein Traum gewesen ist. Allerdings gehen die erfüllten Träume sehr oft und sehr schnell in Vergessenheit.
Für viele war es eine zivilisatorische Entscheidung
Heinlein: Darüber müssen wir gleich noch reden. Was hat Brüssel, was hat die Europäische Union damals so attraktiv gemacht für die Polen? Waren es allein die wirtschaftlichen Erwartungen?
Karolewski: Es waren mehrere Faktoren. Es waren politische Aspekte. Ich habe ja erwähnt, dass es für viele eine zivilisatorische Entscheidung gewesen ist. Das heißt, es ging darum, tatsächlich wieder ein Teil des Westens zu werden, wieder ein Teil von Europa, wieder eine demokratische Gemeinschaft zu sein mit anderen zusammen, weil gerade in polnischen Eliten die Überzeugung vorherrschte, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Polen die Chance nicht bekommen haben, selbst zu entscheiden, welches politische System in dem Land eingeführt werden sollte, und dass der Kommunismus im Grunde genommen der Gesellschaft aufgedrückt worden ist.
Es waren natürlich auch wirtschaftliche Faktoren, denn auch der Kommunismus wurde mit der Mangelwirtschaft assoziiert und die westlichen Demokratien wurden auch im Kontext des Wohlfahrtsstaates gesehen. Und letzten Endes ging es auch um die Sicherheit im Kontext des Kalten Krieges. Das heißt, es waren mehrere Aspekte, die eine Rolle gespielt haben, und die EU war letzten Endes auch für viele eine gewisse Garantie für die Stabilität der Transformationsprozesse. Die Länder der Region waren sogenannte Transformationsländer, die sich auf dem Wege zur Marktwirtschaft und zur Demokratie befanden.
Heinlein: Wirtschaftlich, Herr Professor Karolewski, sind ja viele Erwartungen in Erfüllung gegangen. Die Arbeitslosigkeit – nehmen wir nur diese Zahl – in Polen sank von fast 20 Prozent im Jahr 2004 auf heute nur knapp vier Prozent. Ist die EU für Polen eine Erfolgsgeschichte?
Karolewski: Das glaube ich schon, dass die EU als ein erfolgreiches Projekt in Polen gesehen wird, vor allen Dingen, und auch als solches durch die meisten Polen betrachtet wird. Wenn man sich die Daten anschaut, die Umfragedaten, würden heute über 70 Prozent der Polen bei einem Referendum für den Beitritt oder für den Verbleib des Landes in der EU stimmen. 71 Prozent waren es 2018. Es sind zwar nicht jetzt 79 Prozent wie bei dem Referendum 2003. Nichts desto trotz ist es schon sehr viel. Auch die meisten Polen, 87 Prozent der Polen glauben, dass die Mitgliedschaft Polens in der EU tatsächlich ein Erfolg ist und wichtig für die Weiterentwicklung Polens, und das ist viel höher als der EU-Durchschnitt. Der EU-Durchschnitt liegt bei 68 Prozent.
Als Wertegemeinschaft relativ jung
Heinlein: Herr Professor, die EU ist ja nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, ein gemeinsamer Binnenmarkt, sondern auch eine Wertegemeinschaft mit Rechten und Pflichten. Ist das in den Herzen und Köpfen Ihrer Landsleute mittlerweile angekommen, 15 Jahre danach?
Karolewski: Die EU ist natürlich einiges. Es ist auch ein wirtschaftlicher Zweckverband. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber natürlich auch eine Wertegemeinschaft und diese Wertegemeinschaft ist relativ jung. Wenn man sich die Römischen Verträge anschaut, wird man das Wort Demokratie dort nicht finden. Das heißt, dass die EU eigentlich erst in den 90er-Jahren sich als demokratische Wertegemeinschaft begriffen hat und gewisse Standards auch institutionalisierte. Die sogenannten Kopenhagener Kriterien wurden in den 90er-Jahren im Kontext der EU-Osterweiterung formuliert.
Deswegen wird die EU in dieser Hinsicht nicht als Wertegemeinschaft von allen angesehen. Auch in den alten Mitgliedsstaaten ist es ein schwieriges Thema für einige. Ich glaube, dass momentan in Polen mindestens die Hälfte der Bevölkerung die EU tatsächlich als mehr als einen Wirtschaftsverband ansieht. Allerdings gibt es natürlich auch Teile der Gesellschaft, die die EU, ähnlich wie in Großbritannien, ähnlich wie in Frankreich, aber auch teilweise wie in Deutschland, als vor allen Dingen einen Binnenmarkt ansehen.
Heinlein: Bleiben wir beim schwierigen Thema. Ein schwieriges Thema ist die Asyl- und Flüchtlingspolitik. Da zeigt sich ja ein tiefer Graben zwischen den alten und den neuen EU-Mitgliedern, zwischen Ost und West. Da gibt es viel Unverständnis auf beiden Seiten. Wie erklären Sie sich diese Unterschiede nach wie vor, 15 Jahre danach?
Karolewski: Ich würde das teilweise damit erklären, wie die Entscheidungen zu der Umverteilung der Flüchtlinge aus Griechenland und Italien zustande gekommen sind 2015. Ich glaube, einige Länder haben die Art und Weise, wie die Entscheidung zustande gekommen ist, also durch Mehrheitsentscheidungen, nicht als ganz legitim angesehen. Diese Trennlinie verläuft nicht ganz genau zwischen Ost und West, denn es gibt ja Länder wie zum Beispiel Österreich, die auf der Seite der Mittelosteuropäer eben dieser Migration skeptisch gegenüberstehen.
Es ist ein sehr schwieriges Thema, das auch innenpolitisch instrumentalisiert wird. Das heißt, dass gerade in Ungarn, aber auch teilweise in Polen und in Tschechien dieses Thema sich sehr gut eignet für die Mobilisierung der Wähler und der einheimischen Bürger.
Mythos, dass die EU ein Superstaat ist
Heinlein: Herr Professor, im vergangenen Jahrhundert wurde Polen und ja auch andere ost- und mitteleuropäische Staaten lange Jahre fremdbestimmt – erst von den Nazis, von den deutschen Nazis, dann von den Russen. Welche Rolle spielt das in diesem Zusammenhang, diese schwierige Geschichte? Blickt man deshalb mittlerweile stellenweise immer noch so skeptisch auf Europa und die europäische Politik? Will man sich nicht erneut fremdbestimmen lassen von vielleicht einem europäischen Superstaat?
Karolewski: Das ist natürlich ein Mythos, dass die EU ein Superstaat ist. Die EU ist kein Superstaat. Es gibt natürlich Teile der Gesellschaft, allerdings marginale Teile der Gesellschaft, die daran glauben, dass die EU eine Art neues Moskau darstellen würde. Ich würde diese Einstellung nicht überbewerten, denn die EU ist kaum zu vergleichen mit Fremdbestimmung aus dem 19. Jahrhundert oder aus der Zeit des Kommunismus. Die EU hat weder die Mechanismen, noch den Willen, etwas fremdzubestimmen. Deswegen wiederum eignet sich das sehr gut, diese Vorstellung, dass die EU etwas aus der Ferne tut, ohne die Bürger zu konsultieren, um vor allen Dingen auf populistische Art und Weise die Bürger zu mobilisieren. Allerdings ist es mittlerweile ein Bild, dessen sich auch Populisten in anderen Ländern bedienen. In Italien zum Beispiel ist die EU und das EU-Bashing eigentlich ein sehr willkommenes Thema momentan. In Griechenland sowieso, aber auch in Frankreich. In der Politikwissenschaft gehen wir davon aus, dass der Euroskeptizismus, auch die populistische Variante des Euroskeptizismus im Grunde genommen typisch geworden ist für die meisten Länder der Europäischen Union, und dass wir lernen müssen, irgendwie damit umzugehen.
Heinlein: Ist das auch der Grund, warum viele Polen zwar europäisch fühlen, wie Sie sagen, aber nationalkonservativ wählen?
Karolewski: Viele Polen wählen nationalkonservativ. Allerdings sind das etwa 38 Prozent. Das ist nicht die Mehrheit der Polen. Das übersetzt sich halt im Kontext des polnischen politischen Systems in die Mehrheit der Sitze im Parlament. Das muss man auch mit bedenken. Viele wählen nationalkonservativ nicht nur wegen der nationalkonservativen Werte - es geht ja um die Vorstellung von Souveränität, von christlichen Werten und so weiter -, sondern vor allen Dingen wegen einer aktiven Sozialpolitik. Denn die nationalkonservativen Parteien in Osteuropa, vor allen Dingen in Polen und in Ungarn, betreiben eine aktive Sozialpolitik. Dazu gehört Kindergeld, eine aktive Rentenpolitik - das, was im Laufe der Transformationsprozesse im Grunde genommen durch traditionelle sozialdemokratische Parteien im Grunde genommen ignoriert worden ist.
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