"Wir sind jetzt hier am Roten Berg, der sich wie ein Sporn in die Ebene hineinschiebt Richtung Saarbrücken, und der war eben stark besetzt und befestigt von den Franzosen. Und die Preußen haben diesen Berg frontal gestürmt."
Der Weg über die Spicherer Höhen führt durch Gras und trockenes Laub. Hinter den Blättern der Bäume und Büsche zeichnen sich verwitterte Denkmäler für französische und deutsche Gefallene ab. Vor 150 Jahren markierte die Hügelkette die Grenze zwischen Frankreich und Preußen, erzählt Ralf Parino, Experte des Historischen Museums Saar. Hier oben tobte eine der ersten Schlachten des Deutsch-Französischen Krieges.
"Diese Schlacht war eigentlich nicht vorgesehen" – aber der preußische Kommandeur nahm an, der Feind zöge sich zurück, setzte sich über die Strategie seines Generalstabs hinweg und befahl einen selbstmörderischen Angriff durch die offene Ebene mitten ins Feuer der französischen Infanterie.
"Ein Historiker hier aus Spichern hat mal gesagt: Die Franzosen wussten nicht, dass sie die Schlacht schon gewonnen hatten, und die Preußen wussten nicht, dass sie schon verloren hatten. Deshalb haben die Preußen weiter angegriffen und die Franzosen sich letztlich zurückgezogen, wobei die preußischen Verluste etwa doppelt so hoch waren wie die französischen."
Alte Kampftaktik, neue Waffentechnik
In mancher Hinsicht war die Schlacht bei Spichern charakteristisch für den gesamten Krieg. Die Armeen hielten lange an der hergebrachten Kampftaktik fest: Die Kavallerie ritt mit blankem Säbel Attacken, die Infanterie griff den Feind in breiter Front an. Doch aufgrund neuer, wirksamerer Schusswaffen führte das zu extrem vielen Toten und Verwundeten. Die hohe Zahl der Opfer und die große Bedeutung der Artillerie kennzeichnen die Wende zum modernen Krieg, der dann im Ersten Weltkrieg in seiner ganzen Brutalität sichtbar wurde.
Auch den übereilten französischen Rückzug bei Spichern kann man als typisch für den Verlauf des Krieges ansehen. Die deutschen Armeen standen keineswegs von vornherein als Sieger fest: "Man kann sagen, dass vor allem die Franzosen den Krieg verloren haben."
Eigentlich galt Frankreich als stärkste Großmacht in Europa – so hatte man es auch im Land selbst empfunden: "Als man 1870 in den Krieg zog, war man überzeugt, die stärkste Armee in Europa, ja sogar in der Welt zu haben." Doch der französische Aufmarsch dauerte viel zu lange, die Organisation des Militärs war chaotisch, erzählt Laurent Thurnherr, der in Gravelotte, einem Schlachtort in Lothringen, ein Museum des Deutsch-Französischen Krieges leitet.
Preußen und die verbündeten süddeutschen Staaten dagegen mobilisierten in kürzerer Zeit weit mehr Soldaten und setzten in großem Stil die weitreichenden Gussstahl-Geschütze der Firma Krupp ein, die den zweifelhaften Ruhm des Rüstungskonzerns begründeten. Entscheidend war letztlich, stellen viele Historiker fest, die effizientere Strategie und Organisation der deutschen Seite.
Noch immer Uneinigkeit, wer den Krieg begann
Warum die französische Regierung den Krieg erklärte, begründet Jakob Vogel, Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Elite-Uni Sciences Po in Paris, so: "Das hatte mit dem übersteigerten Selbstwertgefühl besonders der Konservativen zu tun, die für Frankreich unter Napoleon III. eine Weltgeltung reklamierten. Der Kaiser selbst hatte ja auch eine Weltmachtpolitik betrieben, wie die vielen Kriege auf der Krim, in Mexiko, in Asien zeigen."
War der französische Kaiser also verantwortlich für den Ausbruch des Konflikts? Laurent Thurnherr: "Auf französischer Seite sagt man, Bismarck sei in Wahrheit verantwortlich für diesen Krieg, weil er Napoleon III. und die französische Regierung provoziert und zermürbt und mit der Emser Depesche am Schluss die Lunte an das Pulverfass gelegt hat."
150 Jahre nach Kriegsausbruch sind die Historiker der beiden Nationen noch immer uneinig:
"Bismarck und die preußische Regierung haben den Krieg nicht provoziert – wenn es da jemanden gibt, dann die französische Seite, also Napoleon III. und Olivier, sein Ministerpräsident, und Gramont, sein Außenminister, und seine Regierung, die innenpolitische Probleme hatten und einen außenpolitischen Prestigeerfolg suchten."
So sieht es Christoph Nonn, Professor für Neueste Geschichte an der Universität Düsseldorf. Und hebt hervor, dass die französische Gesellschaft in Republikaner und Monarchisten gespalten war und der Rückhalt für Napoleon III. schwand.
Frankreich fürchtete die Umzingelung
Was also ist geschehen? Die seit Jahren schwelende Rivalität der beiden Mächte führte zum Eklat, als die Regierung Spaniens einem Prinzen der Hohenzollern den spanischen Thron antrug. Da auch der preußische König Wilhelm I. zur Familie der Hohenzollern gehörte, sah Bismarck die Chance auf einen Machtzuwachs und unterstützte das Anliegen. Doch im Osten und im Süden von Hohenzollern-Monarchien umgeben zu sein – das konnte für Frankreich nicht akzeptabel sein: "Der große Unterschied für Frankreich war die Gefahr, dass man bei einem Konflikt sehr schnell von feindlichen Truppen umzingelt werden könnte."
"Bismarck hat diesen Krieg eigentlich nicht gewollt, aber als er ihm von den Franzosen quasi aufgedrängt wurde, hat er gesagt, dann nutzen wir das eben, um zu erreichen, was er eigentlich schon aufgegeben hatte, nämlich die süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund, hineinzubekommen."
Das war ja das große Ziel: ein deutscher Nationalstaat. Dafür mussten sich aber die Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg sowie die kleineren Fürstentümer mit dem Norddeutschen Bund – unter Führung Preußens – zusammenschließen. Und die zögerten.
Die "Emser Depesche"
Bismarck bekam seine Chance. Denn der französische Botschafter forderte vom preußischen König nicht nur den Verzicht des vorgesehenen Prinzen, sondern verlangte darüber hinaus, dass er auch künftig niemals einen Thronanwärter der Hohenzollern unterstützen werde. Dem konnte Wilhelm I. als Oberhaupt eines souveränen Staates nicht zustimmen. Aus dem Kurort Bad Ems teilte er die französische Forderung telegrafisch seinem Ministerpräsidenten in Berlin mit. Bismarck verschärfte die "Emser Depesche" und ließ sie veröffentlichen: Nun stand die französische Regierung in aller Welt als anmaßend da.
"Bismarck war natürlich nicht der einzige Akteur auf preußischer Seite. Was natürlich eine Rolle gespielt hat, die Mehrheit des Parlaments, die Nationalliberalen, die hätten eigentlich schon 1867 in der Luxemburg-Krise gern einen Krieg mit Frankreich gehabt und das als Gelegenheit genutzt, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen. Die waren mit Feuer und Flamme dabei, und das war für Bismarck und Wilhelm eine Möglichkeit, auch innenpolitisches Kapital herauszuschlagen." Damit endete das jahrelange Katz-und-Maus-Spiel. Napoleon III. erklärte Preußen am 19. Juli 1870 den Krieg.
Die Abfolge der Schlachten lässt sich in vielen deutschen Städten an den Straßennamen ablesen, mit denen das neu gegründete Kaiserreich deutsche Siege verherrlichte: Spichernstraße und Weißenburgstraße, Woerthstraße und Sedanstraße. In Sedan erlitten die französischen Truppen die entscheidende Niederlage – und die Gefangennahme des französischen Kaisers löste in Frankreich eine grundlegende politische Wende aus: die Gründung der dritten französischen Republik.
Zwei Republiken hatten die Franzosen seit der Revolution von 1789 bereits erlebt, beide kurzlebig – und auch diese stieß auf massive Opposition. Es dauerte Jahre, bis sich das neue System stabilisiert hatte. Eine Republik war im Europa dieser Zeit eben ein einzigartiges Experiment, wie Jakob Vogel zu bedenken gibt.
"Wir sollten uns klar machen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Monarchie in ihrer konstitutionellen Form eigentlich die Normalform darstellte. Und dass das französische republikanische System, das durch die Niederlage im Krieg von 1870 entstand, eigentlich die große Ausnahme darstellte."
Überschwang nationaler Begeisterung auf deutscher Seite
Auf deutscher Seite war nach dem militärischen Erfolg kein Halten mehr: Im Schwang nationaler Begeisterung stimmten die selbständigen Länder der seit mehr als hundert Jahren von vielen ersehnten Gründung eines gemeinsamen Staates zu: des ersten deutschen Nationalstaats, mit einem Kaiser an der Spitze. Und die Monarchie war 1871 durchaus keine überholte Regierungsform.
"Wir haben die längerfristigen Tendenzen in den europäischen Monarchien hin zu einer Verstärkung der konstitutionellen Momente, Stärkung des Parlaments, das sehen wir auch in der Verfassung des Deutschen Kaiserreiches, das ja im Bereich etwa des Wahlrechts durchaus außerordentlich fortschrittlich war, was ja auch zu innenpolitischen Veränderungen in Deutschland über die nächsten Jahrzehnte führte."
Die Sieger triumphieren
Die Sieger zelebrierten demonstrativ ihren Triumph. Am 18. Januar 1871 wurde der preußische König Wilhelm I. zum deutschen Kaiser gekrönt – ausgerechnet an einem Ort, der den Franzosen heilig war: dem Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, in dem schon der "Sonnenkönig" Ludwig XIV. Hochzeit gefeiert hatte.
"Dass man einen deutschen Kaiser in Versailles krönte, war ein außerordentlicher Affront", hält Laurent Thurnherr fest. Und das war nicht die letzte Demütigung für die Franzosen. Während auf dem Land ein grausamer Volkskrieg tobte, beschossen deutsche Armeen Paris, bis sich die französische Regierung gezwungen sah, um einen Waffenstillstand nachzusuchen. Am 1. März marschierten Soldaten mit Pickelhauben in die Stadt ein. "Das hatte man noch nie erlebt. Feindliche Truppen in der Hauptstadt!"
In Paris begann es zu brodeln. Seit langem forderte die nationalistische Linke einen radikalen Wandel, eine gerechtere Ordnung. Dazu kam die Bewaffnung der Bevölkerung, die Anwesenheit des Feindes und der politische Umschwung: Viele Bürger fühlten sich von der republikanischen Regierung verraten - und der Aufstand brach los. Doch die roten Fahnen der "Pariser Commune" wehten nicht lange. Nach dem Abzug der Deutschen marschierten französische Armeen gegen ihre eigenen Landsleute und schlugen die Rebellion in einer "Blut-Woche" nieder.
Bitterkeit nach Abtretung von Elsass-Lothringen
Der Krieg mit Deutschland endete am 10. Mai 1871 mit einem Friedensvertrag, Jakob Vogel hält aber fest: "Die Friedensbedingungen, die von Kaiser Wilhelm I. und Bismarck den Franzosen aufgedrückt wurden, waren in der Tat außerordentlich hart. Mit der Abtretung von Elsass und Lothringen und vor allem der Zahlung von fünf Milliarden Goldfranken, eine extrem hohe Summe…" fühlten sich viele Franzosen erneut gedemütigt. Christoph Nonn erläutert:
"Dass Elsass-Lothringen erzwungenermaßen abgetreten wurde an das neu gegründete Deutsche Reich, hat ja diesen deutsch-französischen Gegensatz noch mal massiv gesteigert, war von daher ein politischer Fehler. Das ist im Wesentlichen auch auf Drängen der Nationalliberalen und des Militärs passiert. Also die politische Führung, Bismarck, hat das eigentlich nicht gewollt und die politischen Folgen waren auch ziemlich fatal. Die Möglichkeit, sich mit Frankreich zu arrangieren, war damit nicht mehr gegeben."
Unter den Franzosen hielt sich für Jahre das bittere Gefühl, dass der Frieden zu teuer erkauft worden wäre und dass ein weiterer Krieg folgen müsste. In Deutschland baute man indessen den Nationalstaat aus. Die Basis für einen einheitlichen Markt der verschiedenen Länder war schon 1834 mit dem Deutschen Zollverein gelegt worden. Nun folgten einheitliche Standards im Münzwesen, für Post und Telegrafie, für die Eisenbahnen und die Rechtsprechung. Die Widerstände gegen einen gemeinsamen Staat unter preußischer Führung waren geschwunden, resümiert Christoph Nonn:
"Die wichtigste Wirkung des Kriegs von 1870-71 ist eine mentale, eine kulturelle. Weil er dazu führt, dass diese nationale Begeisterung durchbricht, auch in Süddeutschland, in der Bevölkerung durchbricht: Es ist eine fundamentale Nationalisierung der Preußen, der Bayern, der Badener, der Rheinländer – die sich nach wie vor als Preußen, Badener, Rheinländer, aber auch immer mehr als Deutsche verstehen."
Der Erste Weltkrieg hatte andere Ursachen
Eine Generation später, um die Jahrhundertwende, hatten sich beide Länder wieder angenähert. Als 1914 tatsächlich der nächste Krieg folgte, waren nicht die Friedensbedingungen von 1871 die Ursache. Darüber sind sich die Historiker einig. Museumsleiter Thurnherr: "Man führt den Ersten Weltkrieg immer gern auf französischen Revanchismus zurück, auf den Wunsch, Elsass-Lothringen zurückzugewinnen, aber in der Realität war es nicht so. Der Erste Weltkrieg wurde durch eine diplomatische Krise ausgelöst, die in diesem Moment ganz Europa erfasste."
Der Krieg, der zur ersten deutschen Vereinigung führte, war praktisch vergessen, als es 1990 zu einer neuen deutschen Einheit kam. Er wird in der kollektiven Erinnerung von den beiden Weltkriegen und der erneuten Spaltung des Landes überlagert. So wandert kaum jemand wegen der Schlacht von Spichern über die einst so heftig umkämpften Hügel, die heute auf französischem Boden liegen, stellt Dr. Simon Matzerath fest, der Leiter des Historischen Museums Saar.
"Der Ort ist sehr wohl bekannt, ich habe aber den Eindruck, dass sich die Natur das Areal so langsam zurückerobert, es gibt noch Trampelpfade zu den einzelnen Denkmälern, es gibt noch eine Gastronomie, die seit 150 Jahren fast besteht - Spichern ist heute auch mehr als der Deutsch-Französische Krieg, weil die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte immer auch den Ersten und Zweiten Weltkrieg umfasst. Und deshalb finde ich dieses Schlachtfeld auch ein Thema in der gesamten Auseinandersetzung mit allen drei Kriegen."