Die Shoah werde im Zusammenleben zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen in Deutschland immer eine Rolle spielen, sagte Andrei Kovacs, Geschäftsführer des Vereins "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" im Deutschlandfunk. Zum Jubiläumsjahr 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland sei es aber wichtig, nicht nur Tränen zu vergießen, sondern auch gemeinsam zu lachen. Das schaffe Empathie und helfe damit auch, Antisemitismus zu verhindern.
Christoph Heinemann: Herr Kovacs, was gibt es im Rückblick zu feiern?
Andrei Kovacs: Wir feiern 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Das heißt, wir feiern, was wir feiern können, die Beiträge, die jüdisches Leben, die jüdische Menschen auch zur heutigen deutschen Gesellschaft geleistet haben. Aber wir feiern vor allem jüdisches Leben heute, ein geschichtliches Unikum, 76 Jahre nach der Shoah, dass es möglich ist, dass buntes jüdisches Leben in Deutschland heute in dieser Lautheit, in dieser Vielfalt möglich ist, und das wollen wir zeigen.
Heinemann: Warum gab es in 1700 Jahren kein normales Zusammenleben zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland?
Kovacs: Das liegt natürlich, wenn man geschichtlich darauf schaut, an einem stetig da gewesenen Antijudaismus, Antisemitismus, eigentlich seit 321, der sich bis heute durchzieht. Das ist natürlich damals, wie wir alle wissen, auch von der Kirche angefeuert worden, der Antijudaismus, und der hat sich durchgezogen. Wir hatten dann einige Blütezeiten jüdischen Lebens in Deutschland. Bis zu 500.000 jüdische Menschen lebten ja hier vor der Shoah. Das wurde jäh unterbrochen. Jüdisches Leben in Deutschland wurde vernichtet und leider befinden wir uns heute wieder in der Situation oder immer noch in der Situation, dass im Schnitt statistisch jeder vierte Mensch noch Stereotypen, noch Vorurteile im Kopf mit sich trägt. Genau da wollen wir etwas entgegensetzen.
"Auch darauf achten, dass wir diese Erinnerung nicht verlieren"
Heinemann: Das gilt auch für Politiker. – Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn der Vorsitzende einer Landtagsfraktion den Holocaust-Gedenkort in Berlin als "Mahnmal der Schande" bezeichnet?
Kovacs: Um es mal milde auszudrücken: Ich persönlich, I’m not amused. Ich bin nicht sehr glücklich über solche Aussagen, wie sehr viele in diesem Land. Ich glaube, die einzige Möglichkeit, diesen Tendenzen etwas entgegenzusetzen, ist wirklich, dass wir jüdisches Leben zeigen, dass wir gegen Rassismus angehen, gegen Vorurteile angehen, und dass wir immer noch der Shoah, was immer noch das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte ist, gedenken, mahnen und trotz allem Positiven auch darauf achten, dass wir diese Erinnerung nicht verlieren und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passieren kann.
Heinemann: Herr Kovacs, neben dem deutschen gibt es den importierten Antisemitismus. Bei den sogenannten Al-Quds-Demonstrationen gegen die israelische Besetzung von Ostjerusalem werden auch in Deutschland regelmäßig antisemitische und an die Sprache der Nazis erinnernde Parolen von Fanatikern gebrüllt. Das ist auch nur ein Beispiel. – Wie wirkt der islamisch geprägte Antisemitismus auf Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Kovacs: Er wirkt natürlich. Aber Antisemitismus ist kein islamisches Problem, sondern es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das zeigen auch die Statistiken, dass die antisemitischen Vorurteile, die Verschwörungsmythen in den Köpfen von vielen Menschen schlummern. Und wir dürfen auch nicht vergessen, wer die schrecklichen Anschläge verübt hat. Wir gedenken jetzt Hanau. Das war kein importierter Antisemitismus, kein importierter Rassismus, sondern der war hier in Deutschland zuhause.
"Nicht nur Tränen gemeinsam vergießen, sondern auch einmal gemeinsam lachen"
Heinemann: Welche Rolle sollte in diesem Zusammenhang der Holocaust im Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Menschen in Deutschland spielen?
Kovacs: Der Holocaust, die Shoah wird immer eine Rolle spielen. Er ist nicht wegzudenken. Und man darf nicht vergessen, auch zum Beispiel meine Großeltern waren im Konzentrationslager, und das schwingt natürlich immer mit, auch in den Gedanken. Das macht das Zusammenleben nicht einfacher, aber ich glaube, wir müssen genauso wie in einer guten Beziehung auch in die Zukunft schauen. Wir müssen schauen, dass wir jetzt nicht nur Tränen gemeinsam vergießen, sondern auch einmal gemeinsam lachen, denn nur so ist eine gute Beziehung möglich. Nur so kann man den Nachbarn kennenlernen und mit ihm zusammenleben und auch eine gewisse Empathie schaffen, um genau diesen Antisemitismus damit zu bekämpfen.
Heinemann: Welchen Blick auf 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland möchten Sie vermitteln?
Kovacs: Wir möchten zeigen, dass jüdisches Leben eine Rolle gespielt hat für das heutige Deutschland, dass jüdisches Leben schon seit sehr, sehr langem auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zugegen ist, dass es einen positiven Einfluss gehabt hat, auch durch jüdische Persönlichkeiten natürlich, die wir auch zur Geltung bringen, dass jüdisches Leben heute existiert, blüht, lauter wird und in all seiner Vielfalt, und dass wir auch möchten, dass wir in einer pluralen Gesellschaft respektiert werden als Juden, und wir uns wünschen, dass wir hier bleiben, dass wir ein normaler Bestandteil der Gesellschaft werden und ein ganz normales Leben hier in Deutschland führen können.
Heinemann: Genau das ist ja der Fall. In Deutschland leben Jüdinnen und Juden und sie wollen in Deutschland leben. Ist das nicht bereits ein riesen Erfolg?
Kovacs: Ein Erfolg ist es, ja. Es ist, glaube ich, auch im europäischen Vergleich schon erstaunlich, denn die Statistiken zeigen auch, dass jüdisches Leben eigentlich abnimmt in Europa, gerade in Osteuropa. In Deutschland hatten wir sehr erfolgreiche 76 Jahre, kann man sagen, mit der Vergangenheitsbewältigung. Und man darf nicht vergessen: Wir hatten in den 70er-, 80er-Jahren unter 30.000 Menschen jüdischer Abstammung hier in Deutschland. Mittlerweile sind es cirka 150.000. Das ist schon ein riesen Erfolg, auch dank der Migration aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und der offenen Kultur hier in Deutschland, muss man ja auch sagen. Ich glaube, es ist eine Erfolgsstory und wir müssen jetzt meiner Ansicht nach gemeinsam dafür sorgen, dass es auch eine Erfolgsstory bleibt.
"Diskurs, der oft verkrampft ist zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, entkrampfen"
Heinemann: Stichwort Erfolg. Was müsste erreicht werden, damit Sie im Dezember sagen können, dieses Jubiläumsjahr war erfolgreich?
Kovacs: Ich glaube, wenn wir ein bisschen den Diskurs, der oft verkrampft ist zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, entkrampfen könnten, wenn wir es schaffen könnten, jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen, so wie es ist, und wenn wir auch jüdische Menschen und die Gesellschaft an sich den jüdischen Teil als normale Menschen wahrnehmen, ohne Stereotypen in den Köpfen, ohne ständig die Bilder einer Synagoge, der Orthodoxie im Kopf zu haben, sondern einfach so, wie es ist, dann wäre das schon ein riesen Erfolg und ein Weg auch zum Abbau der Verschwörungsmythen.
Heinemann: Wie erleben Sie diese Verkrampfung?
Kovacs: Persönlich erlebe ich diese Verkrampfung natürlich oft wie viele, mit denen ich gesprochen habe. Wenn ich sage, ich bin Jude, dann scheint mein Gegenüber erst mal schockiert, entweder sehr glücklich oder sehr traurig. Es ist selten so, dass es normal angenommen wird hier in Deutschland, wie vielleicht es in anderen Ländern der Fall ist, beispielsweise in den USA, und das nimmt man dann schon auch persönlich wahr.
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