"Dass es gerade der siebte Tag ist, hängt mit unserer Verwurzelung im Judentum zusammen. Da war es der Sabbat", sagt die Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg. "Bei den Christen wurde der erste Tag der Woche der Tag der Auferstehung nach dem Sabbat. Diesen Rhythmus hat man übernommen. Das Entscheidende ist die Regelmäßigkeit in einem Takt, der geeignet ist, das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft zu prägen und diese Gemeinschaft als Gemeinschaft auch zusammenzuhalten."
Gesetz von Kaiser Konstantin
Der Überlieferung zufolge wurde Jesus an einem Freitag gekreuzigt. Der dritte Tag, der Tag der Auferstehung, war der Sonntag – er wurde zum "Herrentag" oder auch "Tag des Herrn". Das jüdische 7-Tage-Prinzip behielten die Christen also bei.
Der römische Kaiser Konstantin erließ sogar ein Gesetz und machte den Sonntag zu einem freien Tag. Das war vor 1700 Jahren, am 3. März 321. Denn zu seiner Zeit war die Verehrung der Sonne populär:
"Weil dieser sol invictus, dieser unbesiegte Sonnengott, vor allem von den Soldaten verehrt wurde", sagt Ralf Stroh. Er ist evangelischer Theologe und Experte für Wirtschafts- und Sozialethik bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. "Diese 1700 Jahre sind ja gerade nicht religiös motiviert, sondern das ist eine rechtliche Einrichtung des Kaiser Konstantin, der einen rechtlichen Rahmen gesetzt hat für eine Vielfalt von ganz unterschiedlichen Gestaltungen des Sonntags."
Ausgewogenheit von Arbeit und Muße
Zwar soll nach jüdischem wie christlichem Verständnis der freie Tag vor allem dem Lob Gottes dienen. Der freie Sonntag aber sei eine soziale Errungenschaft, von der auch Nichtgläubige profitierten, sagt Pfarrer Stroh: "Sonntagskultur in diesem 1700-Jahre-Jubiläum ist erstmal eine Kultur im Plural. Dieses Edikt des Kaisers Konstantin sprach von dem verehrungswürdigen Tag der Sonne. Also da ist gerade nicht vom christlichen Glauben die Rede, dass Menschen Freiräume brauchen, dass unterschiedliche Menschen und weltanschauliche Gruppierungen Ruhe finden konnten, um zu sich selbst zu finden, weil offensichtlich für ihn als römischen Herrscher klar war: Zu einem friedvollen Zusammenleben gehört es, dass Menschen sich auf ihre eigenen weltanschaulichen Wurzeln besinnen können."
Dieses Prinzip der Ausgewogenheit von Arbeit und Muße im 7-Tage-Rhythmus habe sich bewährt. Alle Versuche einer anderen Wocheneinteilung seien gescheitert, sagt Dorothea Wendebourg: "Es hat im Laufe der Geschichte auch Versuche gegeben, dass alle acht Tage zu machen oder alle zehn Tage. Die Französische Revolution beispielsweise hat den Wochenrhythmus durch einen Zehner-Rhythmus ersetzt. Auch die russische Revolution hat Ähnliches versucht. Man ist dann doch immer wieder auf den Siebener-Rhythmus zurückgekommen. Das scheint für das Lebensgefühl der Menschen ein besonders gesunder Rhythmus zu sein."
Der freie Tag für möglichst alle
Doch welche Bedeutung hat dieser Rhythmus in kapitalistischen Gesellschaften? Die Arbeitswelt verlangt Flexibilität und Verfügbarkeit möglichst rund um die Uhr. Sonntagsarbeit gehört für viele Menschen längst zum Alltag. Auch deshalb hat die evangelische Kirche zusammen etwa mit der Katholischen Arbeitsnehmerbewegung KAB und der Gewerkschaft ver.di die Allianz für den freien Sonntag geschmiedet.
"Der Sonntag ist ein Wert an sich. Er ist die Säule des Gemeinwohls und der Tag für die Gemeinschaft. Und aus unserer Sicht ist es ganz wichtig - und da sind wir uns mit den Gewerkschaften sehr einig - dass es ein extrem wichtiger Tag für die Gesellschaft ist, um gerade einen gemeinsamen Tag zur freien Verfügung zu haben. Das finden Sie auch begründet in der Psychologie, der Medizin oder Soziologie, dass es wichtig ist, einen gleich getakteten Tag zu haben und all die Menschen, die schon mal Schichtarbeit gemacht haben, und ich gehöre auch dazu, wissen, wie die Tage ablaufen, wenn man am Montag, am Mittwoch oder am Donnerstag frei hat, wenn alle anderen arbeiten gehen und man am Sonntag aber auf Schicht ist", sagt Sozialpsychologin Gudrun Nolte, Sprecherin des evangelischen Verbandes "Kirche – Wirtschaft – Arbeitswelt".
Sie weiß, wovon sie spricht, hat sie doch selbst mehr als zehn Jahre im Schichtdienst im Krankenhaus gearbeitet. Der freie Tag für möglichst alle ist und bleibt wichtig, so Nolte: "Das sehen Sie auch an der sogenannten Generation Y, die nicht mehr so sehr bereit ist, sich ausbeuten zu lassen, sondern eher darauf achtet, dass sie eine gute Work-Life-balance hat und eher mal sagt zu Ihrem Chef: Nö, am Sonntag arbeite ich jetzt nicht. Da habe ich frei; und da will ich auch was mit meiner Familie, mit meinen Freunden machen. Da ist Gemeinschaft angesagt."
Zeiten der Erholung schaffen
Klar ist, dass bei Polizei und Feuerwehr, in Krankenhäusern oder Pflegeheimen auch sonntags gearbeitet werden muss. Doch ist die Vorstellung eines freien Sonntags für alle anderen nicht eine sozialromantische Vorstellung aus längst vergangenen Jahren? Muss die Wirtschaft, wenn sie global wettbewerbsfähig sein will, nicht rund um die Uhr arbeitsfähig bleiben?
Eben nicht, meint Gudrun Nolte: "Dass wir genau ein Gegengewicht haben dagegen, dass der Rubel 24 Stunden am Tag rollen muss, sondern dass Zeiten geschaffen werden, wo sie Erholung haben. Und da haben wir uns auf den Sonntag geeinigt, in anderen Gesellschaften ist es der Sabbat oder der Freitag, wo Menschen sich versammeln, ob es zum Gebet ist oder zu gemeinschaftlichen Unternehmungen. Aber sich auf einen Tag zu verständigen, an dem Ruhe einkehrt. Dass sich diese Gesellschaft nach Entschleunigung, nach Ruhe und geistlicher Inspiration sehnt."
Schichtarbeit kann einsam machen
Aber was ist mit denen, die gerne sonntags arbeiten und antizyklisch leben - genau dann arbeiten, wenn alle die Parks oder Badeseen bevölkern und dafür wochentags die Ruhe genießen.
Gudrun Nolte hält davon auf Dauer wenig: "Man kann natürlich auch sagen, dass die Menschen, die in Schichtarbeit arbeiten oder antizyklisch arbeiten das vielleicht so lange gut finden, solange sie vielleicht keine Familie haben oder keine Freunde, die ähnlich arbeiten. Es kann ganz schön einsam um jemanden werden, wenn er komplett antizyklisch arbeitet. Die sagen: Ich find das gar nicht gut, dass ich derjenige bin, der mittwochs alleine im Park sitzt."
Und was ist mit dem Online-Handel? Ist die auch christliche Forderung nach Sonntagsschutz nicht eine Wettbewerbsverzerrung? Der Einzelhandel muss sonntags schließen, Amazon & Co. aber machen Umsatz?
"Der Online-Handel funktioniert 24/7, aber ausgeliefert wird am Montag. Es wird nicht Sonntag ausgeliefert. Und das ist das, was wir ankreiden. Es muss nicht am Samstag oder am Sonntag gearbeitet werden im Online-Handel."
"Auch Online-Händler haben sonntags zu"
"Da gibt es genügend Rechtsurteile. Es darf bei Amazon in den Logistikunternehmen nicht am Sonntag gearbeitet werden. Das ist keine Tätigkeit, die trotz des Sonntags wie beispielsweise Feuerwehr oder Pflegedienste sein müssen, die müssen natürlich auch am Sonntag arbeiten. Online-Händler haben sonntags zu", ergänzt Pfarrer Ralf Stroh.
Und das nicht etwa, weil Kirchenleute oder Gewerkschafter die Wirtschaft behindern wollten. Vielmehr sei es auch im Interesse der Unternehmer, dass es möglichst für alle einmal in der Woche einen freien Tag gebe.
Auch im Interesse der Unternehmen
Ralf Stroh: "Unter anderem geht das zurück auf die soziale Marktwirtschaft, die von einem Theoretiker der sozialen Marktwirtschaft in den 50er-Jahren gegründet wurde, Wilhelm Röpke. Und dieser Wilhelm Röpke hat in einem Werk, das nennt sich ‚Jenseits von Angebot und Nachfrage‘ darüber gesprochen, dass die Wirtschaft darauf angewiesen ist, dass sie eingebettet ist in einen Lebenszusammenhang, der mehr ist als Wirtschaften. Und genau dafür ist der Sonntagnachmittag prädestiniert, dass man sich gegenseitig erlebt als jemand, der nicht nur konsumiert und arbeitet, sondern sich aufeinander einlässt."
Und das gelte auch für den Einzelhandel, der jetzt im Lockdown geschlossen ist. Die Verluste später durch Rund-um-die-Uhr-Öffnungszeiten auch sonntags wieder ausgleichen zu können, hält Stroh für eine schlechte Idee: "Die Leute können auch in Corona-Zeiten nur so viel Geld ausgeben, wie sie haben. Und dass man sieben Tage Geld ausgeben kann, ist ja nicht der Fall. Sondern man kann nur das ausgeben, was man hat."
Sonntagseinnahmen eher niedrig
Gudrun Nolte aus der evangelischen Nordkirche ergänzt: "Dann gibt es ganz viele Untersuchungen, und das sagt auch der Einzelhandelsverband manchmal: die Gewinne sind extrem niedrig. Weil die Kosten, am Sonntag zu öffnen, für das Personal und für den Erhalt des Geschäftes, die sind vergleichbar höher als die Einnahmen, die am Sonntag sind."
Daher sei der freie Sonntag seit 1700 Jahren eine sehr gute Erfindung. Und daran sollte man so lange wie möglich auch festhalten. So wie es im vorletzten Artikel unserer Verfassung steht. "Dass in Deutschland nicht in irgendeinem Gesetz, sondern im Grundgesetz verankert ist. Und da ist es so, dass es um eine seelische Erhebung geht. Dass wir gemeinsam nach einer Auszeit suchen. Ob ich den ganzen Tag zu Hause im Schlafanzug sitze und Bücher lese oder ins Museum gehe, das ist mir selber überlassen. Ich muss niemanden darüber Rechenschaft abgeben."