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175 Jahre Fotografie
Die Macht der Bilder

Seit der Geburtsstunde der Fotografie am 19. August 1839 hat das Medium gleich mehrere weitreichende Veränderungen durchgemacht; von Schwarz-Weiß auf Farbfilm, von analog zu digital. Heute überschwemmt uns eine regelrechte Bilderflut. Trotzdem repräsentieren Fotos eine der wirkmächtigsten Formen der Kommunikation.

Von Mirko Smiljanic |
    Ein Flugzeug steuert auf den zweiten Turm des World Trade Centers zu. Der erste Turm brennt bereits.
    Weitere Infos sind quasi unnötig: Jeder kennt das Bild, jeder versteht es. (picture alliance / dpa)
    New York, 11. September 2001. An diesem strahlend blauen Morgen rasen zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers und töten 3.000 Menschen. Ein terroristischer Massenmord, der nicht nur den Gang der Geschichte in eine andere Richtung lenkte; in dramatischer Weise zeigte er auch, was es heißt, wenn Medien Großereignisse in Echtzeit begleiten.
    CNN und Hunderte andere Fernsehstationen berichten live von den Ereignissen; viele tausend Fotografen schießen Fotos, von denen einige sich mittlerweile zu Ikonen entwickelt haben; Bilder, die "9/11" in unerhörter Intensität auf ein paar Pixel verdichten. Das Foto mit den meterhoch aufragenden Fassadenteilen eines der Türme inmitten schwarz-blau rauchender Trümmerlandschaften etwa, keine Menschen, nur Zerstörung! Jeder kennt das Bild, jeder versteht es. Vergleichbar mit Robert Capas 1936 aufgenommenem Foto "Loyalistischer Soldat im Moment des Todes" aus dem Spanischen Bürgerkrieg.
    Robert Capas "Tod des Milizionär Federico Borrel Garcia, bei Cerro Muriano"
    Robert Capas "Tod des Milizionär Federico Borrel Garcia, bei Cerro Muriano" (Robert Capa, 2001 Cornell Capa / Magnum Photos)
    Der Soldat taumelt, der Kopf fällt in den Nacken, das Gewehr gleite ihm aus der Hand. Auch dieses Bild kennt fast jeder und hat im Laufe der Jahrzehnte eine enorme Wirkung entfaltet – unabhängig von den immer wieder aufkeimenden Zweifeln an seiner Echtheit. Was ist das Besondere an diesen Fotos? Was zeichnet Fotografie aus?
    "Das Besondere an Fotografie ist die Bindung ans Reale, wie es Roland Barthes nennt, also, sie sind immer an das Reale gebunden ... "
    PD Dr. Aida Bosch, Soziologin an der Universität Erlangen-Nürnberg ...
    "Durch den Apparat gibt es den Abdruck einer realen Situation, also durch die Lichtspur aufgenommen, und erweckt den Eindruck einer Unbestechlichkeit. Ich sage bewusst "Eindruck", denn das muss man im nächsten Zug gleich problematisieren, denn sie enthalten noch viel mehr Informationen. Sie enthalten immer auch eine Wahl des Fotografen, eine Wahl für eine Perspektive, für einen Standort, für die technischen Mittel, sodass man immer fragen muss, was will der Fotograf uns zeigen mit diesem Bild?"
    Fotos zu "lesen" will gekonnt sein
    Eine wichtig Frage vor allem bei Fotos aus Krisenzeiten: Fröhlich feiernde deutsche Soldaten an einer Front des Ersten Weltkrieges signalisieren: Uns geht es gut! Wir sind die Sieger! Gleiches gilt, wenn auch abgemildert, für Fotos aus dem Rumänien Anfang des 20. Jahrhunderts, die vor kurzem veröffentlicht wurden: Junge in der Öffentlichkeit rauchende Frauen in lasziver Pose rufen dem Betrachter zu: Wir sind emanzipiert! Wir sind frei! Fotografien transportieren Botschaften vom Fotografen zum Betrachter. Diese Botschaften zu "lesen" setzt voraus, dass der Betrachter die verwendete Bildsprache versteht. Das klingt einfacher, als es tatsächlich ist.
    "Man kann ein Experiment machen, wenn man historische Fotografien betrachtet. Die sind nicht ohne weiteres verständlich, man braucht Kontextwissen, um sie zu verstehen, man braucht in gewisser Weise auch Wissen über die visuellen Konventionen dieser Zeit, um sie richtig zu verstehen und einzuordnen. Und das zeigt, dass diese Bildsprache nicht universell ist, sondern sich verändert im Laufe der Zeit und auch kulturell verschieden sein kann."
    Ein Paar sitzt herausgeputzt im Studio und schaut steif in die Kamera; schwedische Jugendliche spielen vor einer Holzhütte; eine Frau steht vor dem Waschtrog, während Kinder heißes Wasser bereiten – Alltagsszenen, wie sie millionenfach aufgenommen werden. Trotzdem "verstehen" heutige Betrachter die drei Fotos aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch oberflächlich. Welchen sozialen Status die Frau am Waschtrog hat, erschließt sich nicht; wir wissen nichts über den Bildungsstand der Jugendlichen; und ob das herausgeputzte Paar arm oder reich ist, weiß ebenfalls niemand.
    "Ein Bild, sagt man auch im Alltag, sagt mehr als 1.000 Worte, man sagt aber auch, ein Bild lügt mehr als 1.000 Worte."
    Jürgen Raab, Professor für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau.
    "Bilder können nicht gelesen und interpretiert werden, wie man Texte interpretiert oder liest. Von daher gesehen ist die Rede von der eigenen Sprache, von der eigenen Fähigkeit, den Sinn auf eine spezifische Form darzustellen, die Texte nicht möglich machen, schon eine korrekte, wenngleich alltagsmäßiges Verständnis der Bilder."
    Die Fähigkeit, Bilder zu verstehen und zu interpretieren, hängt auch mit der Verfügbarkeit von Fotos zusammen. Und die ist in den letzten Jahren dramatisch gestiegen. War die Masse der Bilder bis Anfang der 1990er-Jahre technisch an Papier gebunden, so ergießt sich heute eine gigantische Foto-Flut aus dem Internet in die Computer der Betrachter. Fotos lassen sich zu minimalen Kosten produzieren und verbreiten, sie sind immer und überall und für jeden verfügbar: Fotos sind im digitalen Zeitalter inflationär! Trotzdem repräsentieren sie eine der wirkmächtigsten Formen der Kommunikation, so Aida Bosch.
    Fotoapparat s/w
    Eine analoge Mess-Sucher-Kamera (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    "Zunächst hat man das Haptische als Sinn, der da leitend ist, dann das Visuelle, und schließlich bildet sich auch das Sprachliche aus, als die komplexeste Form der menschlichen Kommunikation, aber das Visuelle liegt tiefer. Und wenn man es anspricht ohne Umwege über die Sprache, kann man nachhaltige Wirkungen entfalten. Deshalb sind Fotografien so wirkmächtig. Und wenn Fotografien ein starkes Punktum enthalten – das ist ein Ausdruck von Roland Barthes – dann können sie den Betrachter berühren, sie können ihn auch verändern als Person, sie können also sehr starke Wirkungen hinterlassen"
    Und Jürgen Raab fügt hinzu:
    "Bilder vermögen Sinn und Bedeutung zu vermitteln ohne zeitliche und räumliche Entwicklungen. Der gesamte Sinn der Aussage ist bereits vorhanden, kann mit einem Blick wahrgenommen werden. Also dieses Moment der Fixierung, von Verdichtung von Raum und Zeit ist das, was die Wirkungsmacht der Bilder ausmacht."
    Ein Vorgang, der sich mittlerweile täglich milliardenfach wiederholt. Schon deshalb – so der Verdacht – müsse sich eine globale Bildsprache entwickeln, eine Lingua franca der Fotografie. Ein Verdacht, der sich aber nur teilweise bestätigt.
    "In dieser Hinsicht haben wir es tatsächlich mit einer neuen Entwicklung zu tun. Die Bildsprache wird sich auf der einen Seite mit Sicherheit aneinander angleichen, es wird auch kulturübergreifend, international, transnational lesbare Bilder geben, das hat es aber auch schon immer gegeben. Zugleich ist es aber auch immer so, dass die größere Zugänglichkeit zu Bildern immer auch stärker informiert über lokale Sonderformen, also über Abweichungen, über Spielformen, über Gegenentwürfe, die sich eben dieser allgemeinen Bildsprache und ihrer Kanonisierung, ihrer Standardisierung entziehen oder sogar gezielt dagegen arbeiten."
    Was auch seinen Grund darin hat, dass Fotos im Internet mittlerweile das wichtigste Kommunikationsmedium sind. Ohne Bilder ließen sich die gigantischen Informationsmengen nicht mehr transportieren; ohne Bilder gäbe es aber auch den hohen Grad an Emotionalisierung in der Kommunikation nicht. So wie Magazine wie "Stern" und "Life" unentwegt außergewöhnliche Fotos suchen und drucken – seien sie nun besonders schockierend oder besonders künstlerisch – so buhlen Internetportale ebenfalls mit Fotos um ihre Kunden. Mit einem Unterschied: Im Netz tendiert die Halbwertzeit von Fotos wegen des ständigen Nachschubs gegen Null.
    "Das führt dazu, dass sie noch flüchtiger wahrgenommen werden, was wiederum dazu führt, dass die Konkurrenz auch stärker wird. Das heißt, ein Bild, das wahrgenommen werden will, muss in irgendeiner Weise besonders sein oder extremer sein, es hat eine forciertere Ästhetik, in irgendeiner Art soll es authentischer sein oder stärker Emotionen berühren."
    Was zum Beispiel zu einer "Ästhetisierung des Horrors" führt. Beim World-Press-Photo-Wettbewerb werden mittlerweile eher überästhetisierte Aufnahmen mit Preisen bedacht, als halbwegs reale Abbilder der Wirklichkeit. Seien es nun die mit Smartphones in den Himmel leuchtenden Bootsflüchtlinge in Afrika oder das tote Paar, das sich nach dem Einsturz des Rana Plaza-Buildings in Bangladesch noch in den Trümmern umarmte. Viele Betrachter können mit solchen Fotos nur wenig anfangen, sie möchten ...
    " ... solche Fotos mehr im dokumentarischen Sinne haben, weniger ästhetisiert, um einen authentischen Abdruck aus der Situation zu bekommen, der ihm eine Einschätzung ermöglicht."
    Bilder der ungeschminkten Realität weniger erfolgreich
    Es sei aber unwahrscheinlich, so Jürgen Raab, dass Fotos von ungeschminkter Realität auf Dauer erfolgreich seien. Sie verletzten die Betrachter, außerdem schütze die ästhetische Überhöhung die Würde der Opfer. Hinzu komme, dass der offensichtliche und augenscheinliche Widerspruch zwischen Inhalt und Form gezielt eingesetzt werde."
    "... als Provokation, als Reiz, als Apell. Eine Art Paradox wird erregt, das bindet wiederum die Aufmerksamkeit, und eine Fotografie, die so vorgeht, macht sich selbst gewissermaßen zum Ereignis."
    Eine andere Möglichkeit, Bilder stärker wirken zu lassen, ihnen ein besonderes "Punktum" zu geben, sei der Wechsel vom allgegenwärtigen Farbfoto zum Schwarz-Weiß-Bild. Die Schwarz-Weiß-Fotografie sei abstrakter und intellektueller, so Aida Bosch.
    "Vilém Flusser, ein großer Medienphilosoph, hat es so formuliert, dass man der Schwarz-Weiß-Fotografie das Begriffliche noch ansieht, bei der Farbfotografie ist das nicht mehr der Fall, da sind wir geneigt, das für einen authentischeren Abdruck der Realität zu halten, weil das Rot und das Grün und das Blau ebenso aussehen eben wie in der Realität und wir nicht mehr wahrnehmen, dass eine Reihe von Codierungsprozessen eigentlich dazwischen liegt."
    Schwarz-Weiß-Fotografien haben allerdings einen großen Nachteil: Sie bauen eine Distanz auf zwischen dem Abbild und dem Betrachter, so Jürgen Raab.
    "Wir kennen das beispielsweise aus Bildern aus Nachrufen, wenn etwa in den Nachrichten über eine verstorbene Person berichtet wird, haben wir im Hintergrund ein Schwarz-Weiß-Bild, eine Porträtaufnahme dieser Person. Das zeigt immer auch die Distanz, die jetzt eingenommen werden muss zu dieser Person an, während Farbe immer auch etwas von Nähe, von Unmittelbarkeit zum Hier und Jetzt hat."
    Moderne kompakte Digitalkameras
    Moderne kompakte Digitalkameras (picture alliance / dpa - Oliver Berg)
    Welche enorme Wirkung der Wechsel von Schwarz-Weiß nach Farbe haben kann, zeigen nachkolorierte Fotos aus dem Ersten Weltkrieg. Das Geschehen rückt näher an uns heran, ist weniger abstrakt, der Soldat gewinnt Persönlichkeit. Vor dem Hintergrund von Computerprogrammen wie "Photoshop" bekommt das Bearbeiten von Bildern eine völlig neue Dimension. Wurden Fotografien im analogen Zeitalter nur optimiert, so beginnt heute die Produktion des Fotos häufig erst am Computer.
    "Was nun durch die Digitaltechnik hinzukommt, ist die Möglichkeit, jedes Pixel, jedes winzige Detail im Bild in Farbe und in Helligkeit zu bearbeiten und damit das Bild zu optimieren für die Kommunikation."
    Was das Foto aber immer weiter wegrücken lässt von der Realität. Fotografien bilden nicht die Wirklichkeit ab, sie sind nachträglich gestaltete Abbilder einer Realität, wie sie der Fotograf transportieren möchte. Damit verschwimmen aber die Grenzen zwischen Fotografie und Malerei immer mehr.
    "Manche Künstler experimentieren auch damit, weil es ein neues Feld der Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet, aber es enthält natürlich auch sehr problematische Elemente für die öffentliche Kommunikation, weil, wie vorhin gesagt, wir sind geneigt, Fotografie für einen Abdruck von der Realität zu halten, sie sind ja auch in der Regel stärker an das Reale gebunden, nur gibt es dann eben auch Möglichkeiten, Fotografien zu gestalten, also nicht nur in der Situation, in der Handlung des Fotografierens, sondern heute auch vielfach im Nachhinein."
    "Bilder sagen mehr als 1.000 Worte; Bilder lügen aber auch mehr als 1.000 Worte." Wer heute Fotos konsumiert – also wir alle – kommt an dieser simplen Erkenntnis nicht mehr vorbei. Wer nicht untergehen will in der gigantischen Bilderflut, der muss Bilder lesen können.
    "Walter Benjamin hat einmal sehr schön gesagt, dass der Analphabet der Zukunft eigentlich der Bildunkundige sein wird, also es wird zusehends von uns verlangt, dass wir Bildlesekompetenzen kennen, dass wir lernen, Bilder zu lesen, und sie auch gerade in ihrer Mehrdeutigkeit zu lesen, also in ihrem Symbolcharakter, also Darstellungskompetenz und Deutungskompetenz werden sicherlich mit neuen Anforderungen versehen ... "
    ... die schon deshalb enorm sein werden, weil die technische Entwicklung rasant voranschreitet. "Google Glass" zum Beispiel, der in einem Brillenrahmen getragenen Miniaturcomputer, kombiniert aufgenommene Bild mit Informationen aus dem Netz. Bildkommunikation total! Überfordert sich der Mensch damit? Nein, sagt Aida Bosch.
    "Zum einen kommt es zu einer Beschleunigung des Virtuellen, auch zu einer Vervielfältigung, die enorm schnell im Gange ist, zum anderen zu einer besonderen Kopräsenz des Leiblichen. Und ich denke, die Entwicklung der Zukunft wird sein, beides gewissermaßen klug zu kombinieren und souverän zu kombinieren, also zu ergänzen real leibliches Geschehen und virtuelles Geschehen, und nicht die ständige Gleichzeitigkeit, das kann es nicht sein, sondern eine kluge Kombination beider Elemente!"