Iggy Pop: "Ich wollte etwas machen, das aus dem Rahmen fällt – aus dem Rock-Rahmen. Und auf gewisse Weise hatte ich das ja schon mit meinem letzten Album versucht, das ebenfalls kein richtiger Rock war. Aber es hat dafür gesorgt, dass ich endgültig ausgesorgt habe. Ich meine, mir ging es schon vorher gut, doch dieser Erfolg hat dafür gesorgt, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Wem das nicht passt, der kann mich mal."
Diese neue Freiheit genießt Iggy Pop in vollen Zügen. Mit einem Album, das genauso heißt, wie er sich auf seine alten Tage fühlt: "Free" im Sinne von frei: Zwar ein bisschen verlebt, mit dicker Hornbrille, leicht gebeugter Körperhaltung und dezent schwerhörig, aber auch frei, verstanden und künstlerisch respektiert. Seine Alben verkaufen sich besser denn je, seine Radio-Sendung auf BBC6 hat eine Traumquote und sorgt für interessante Kontakte. Wie zum New Yorker Jazz-Trompeter Leron Thomas.
"Der Jazz-Kritiker der "New York Times", Ben Ratliff, ist ein alter Freund von mir. Er weiß, dass ich Trompeter mag. Und Leron ist eine Koryphäe, die etliche HipHopper und R&B-Sänger begleitet hat. Er hat mir einige von seinen Stücken geschickt, die ich in meiner Show bringen wollte. Dann habe ich eine Korrespondenz mit ihm angefangen, wir haben Songideen ausgetauscht und irgendwann schlug ich ihm vor, auf seinen Stücken zu singen. Ich wollte ihm helfen, einen Plattenvertrag zu bekommen, damit er ein eigenes Album machen kann."
Musik: "Sonali"
Aus Lerons Solo-Plänen und Iggys Schützenhilfe ist eine richtige Kooperation geworden. Fünf Stücke steuert Leron bei und schlüpft zudem in die Rolle des Produzenten. Sämtliche Saiteninstrumente übernimmt Avantgarde-Gitarristen Noveller. Das Ergebnis ist Iggy Pop, wie man ihn noch nie gehört hat: Free-Jazz und düstere Industrial-Sounds statt Punkrock, Trompeten- statt Gitarren-Soli, sphärische Beats statt durchgetretenem Gaspedal. "Free" ist anspruchsvoller, reifer, erwachsener - und doch wieder nicht. In den Texten, die von Internet-Pornographie, ausgefallenen Sexpraktiken und weiblichen Agentinnen handeln, ist er nämlich ganz der Alte – selbst, wenn die Worte nicht aus seiner Feder stammen.
"Leron hat mir dieses Demo geschickt, das nur eine Songskizze mit Gesang war. Und beim Hören dachte ich: ´Wie sage ich ihm, dass er hier glatten Karriere-Selbstmord begeht´? Schließlich ist er ein Jazzer, und diese Leute sind sehr konservativ. Da kann man nicht über wilden Sex singen. Aber: Der Song brachte mich auch zum Lächeln. Und obwohl ich erst nicht vorhatte, mich daran zu versuchen, meinte ich irgendwann zu Leron: ´Scheiß drauf. Spiel 'Dirty Sanchez' und ich singe es.´ Dabei hatte ich so viel Spaß. Ich war wieder mein altes Ich."
Musik: "Dirty Sanchez"
Doch das Anarchische, Frivole, Provokante ist nur die eine Seite von "Free". Die andere ist eine kritische Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Politik und Staat. Damit bringt Iggy seine Unzufriedenheit mit der Regierung in Washington und der Rückkehr zu Rassenhass, Polizeigewalt sowie Sexismus und Homophobie zum Ausdruck. Deshalb hat er auch "We The People" vertont. Ein Gedicht von Lou Reed, aus dessen posthumen Gedichtband "Do Angels Need Haircuts?".
"Es ist der allererste Text in dem Buch, direkt auf der ersten Seite. Ich habe es gelesen und dachte: "Das ist ja der Hammer." Es ist unglaublich, dass ein Mann, der so jung war wie er und der in einer Avantgarde-Rock-Band gespielt hat, so etwas schreiben konnte. Ich war schwer beeindruckt – und habe es sofort verstanden, weil ich es selbst gelebt habe. Außerdem fiel mir auf, wie aktuell es ist. Lou hat es 1970 verfasst, aber es könnte auch von heute sein. Also habe ich Leron nach einem sphärischen Track gefragt und das Gedicht dazu zitiert."
Musik: "We The People"
Iggy Pop als Spoken Word-Künstler. Auf "Free" zitiert er zudem den walisischen Dichter Dylan Thomas und glänzt mit einer Eigenkreation unter dem Titel "The Dawn". Das alles sorgt für ein mutiges Spätwerk, auf dem der Proto-Punk selbst mit 72 noch musikalisches Neuland betritt und sein Publikum positiv überrascht. Wie sich die zehn Stücke letztlich verkaufen, ist ihm dagegen egal. Iggy geht eher um kreative Selbstverwirklichung. Auch bei der Live-Präsentation.
"Ich habe vor, das gesamte Album auf die Bühne zu bringen. Nicht für ein zahlendes Publikum, sondern zunächst einmal im Rahmen von zwei Showcases in Europa und in Amerika. Aber ich habe keine Ahnung, was danach passiert. Schließlich habe ich immer noch ein starkes Rock-Ensemble und ein gutes Set mit alten Songs, die die Leute nach wie vor hören wollen. Gleichzeitig bekomme ich immer mehr Einladungen von Jazz- und Klassik-Festivals - was ich sehr interessant finde. Vielleicht ist "Free" das perfekte Repertoire dafür. Ich würde es jedenfalls nicht auf der Reeperbahn spielen."
Iggy Pop goes Kulturbetrieb. Die wundersame Wandlung eines Mannes, der über Jahrzehnte hinweg auf die Rolle als Bürgerschreck, Rock-Rebell und Skandalnudel festgelegt war. Und der jetzt eindrucksvoll beweist: Es steckt noch so viel mehr in ihm.