Umbauten sind normal und eingeplant im Plenarsaal des Bundestages. Handwerker in Arbeitshose und grauem T-Shirt hieven die kobaltblauen Sitze in Schlitze am Boden: "Die sind ja immer vorbereitet. Die brauchen wir bloß rauszuschrauben und dann neu zu bestuhlen."
Sie montieren Tische, schaffen Gänge zwischen den Blöcken, in denen ab Dienstag die Fraktionen Platz nehmen werden. Es ist die Routine jeder neuen Legislaturperiode. Die beginnt nicht etwa mit der Wahl, sondern erst sobald in der konstituierenden Sitzung die Abgeordneten des 19. Deutschen Bundestages zum ersten Mal im neuen Plenarsaal tagen. Was das bedeutet, sagt der Berliner Staatsrechtsprofessor Christoph Möllers:
"Der alte Bundestag ist so lange, wie der neue nicht konstituiert ist, noch da. Der alte Bundestagspräsident ist dann erstaunlicherweise derjenige, der die neuen Abgeordneten zusammenruft. Die neuen Abgeordneten müssen sich sozusagen namentlich vorstellen. Die Beschlussfähigkeit muss festgestellt werden. Dann wird ein Alterspräsident gewählt. Und dann ist im Grunde erst der neue Bundestag da. Das ist eigentlich ein ganz faszinierendes Phänomen, dass in diesem Verfahren auf einmal etwas Neues entsteht, und damit die Politik im Grunde sich einmal neu aufstellt."
"Der alte Bundestag ist so lange, wie der neue nicht konstituiert ist, noch da. Der alte Bundestagspräsident ist dann erstaunlicherweise derjenige, der die neuen Abgeordneten zusammenruft. Die neuen Abgeordneten müssen sich sozusagen namentlich vorstellen. Die Beschlussfähigkeit muss festgestellt werden. Dann wird ein Alterspräsident gewählt. Und dann ist im Grunde erst der neue Bundestag da. Das ist eigentlich ein ganz faszinierendes Phänomen, dass in diesem Verfahren auf einmal etwas Neues entsteht, und damit die Politik im Grunde sich einmal neu aufstellt."
19. Bundestag wird größer denn je
Neu ist dabei diesmal besonders viel. Der Bundestag ist mit 709 Abgeordneten größer denn je. Sechs Fraktionen gab es außerdem seit 1957 nicht mehr. Noch etwas ist neu im Bundestag: Die AfD. Und obwohl alle anderen Parteien betonen, sie wollten den Rechtspopulisten nicht ohne Not eine Bühne bieten, ist der AfD Aufmerksamkeit von Anfang an garantiert. Selbst da, wo sie nicht spricht. Der Alterspräsident, der die Sitzung eröffnet, so erklärt es der FDP-Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann, wird aus seiner Fraktion kommen:
"Das wird der neu gewählte Abgeordnete Dr. Hermann Otto Solms sein. Herr Solms hat dem Deutschen Bundestag schon früher mehrere Jahrzehnte angehört und hat in seiner Eigenschaft auch als Bundestagsvizepräsident alle Erfahrung und Souveränität, die man sich für die Leitung einer solchen Sitzung wünschen kann."
Anders als andere, so dachte man offenbar im alten Bundestag. Der änderte noch vor der Wahl mit den Stimmen der Großen Koalition seine Geschäftsordnung – aus Sorge, sonst würde ein AfD-Politiker als Alterspräsident sprechen. Statt des Lebensalters ist nun das Dienstalter maßgeblich. Da steht Solms an zweiter Stelle – nach Wolfgang Schäuble. Der CDU-Mann hat aber mit Blick auf seine Kandidatur als Bundestagspräsident darauf verzichtet, die Sitzung zu leiten, in der er – aller Voraussicht nach – gewählt wird, so kommt Solms zum Zug. Die "Lex AfD" zum Alterspräsidenten, wie Medien sie nennen, hat Kritiker nicht nur in der bisherigen Opposition. Auch Justizminister Heiko Maas (SPD) sagt, er hätte nicht so entschieden:
"Denn das verschafft der AfD immer die Möglichkeit, sich in diese Opferrolle hineinzuinterpretieren. Das ist alles Wasser auf das Politikmodell der AfD."
Schon die Präsidiumswahl könnte kompliziert werden
Keine Sonderrolle für die Neurechten, so vertreten es heute fast alle. Wie schwierig die Gratwanderung ist, kann sich trotzdem schon in dieser konstituierenden Sitzung erweisen. Denn da soll das Präsidium gewählt werden – neben Wolfgang Schäuble auch seine sechs Stellvertreter. Mindestens einer steht jeder Fraktion zu, so bestimmt es die Geschäftsordnung. Der AfD steht also auf jeden Fall ein Stellvertreter zu. Nur: Der muss vom Plenum gewählt werden. Erst im dritten Wahlgang reicht statt der absoluten Mehrheit die der abgegebenen Stimmen. Ob die der Kandidat der AfD bekommt, ist offen. Der frühere Frankfurter Stadtkämmerer Albrecht Glaser ist umstritten wegen seiner Haltung zum Islam, dem er das Grundrecht auf Religionsfreiheit abspricht. Der Islam sei eine Konstruktion, die selbst die Religionsfreiheit nicht kenne, so sagte er etwa auf einer Parteiveranstaltung:
"Und die da, wo sie das Sagen hat, jede Art der Religionsfreiheit im Keim erstickt. Und wer so mit der Religionsfreiheit umgeht, dem muss man das Grundrecht entziehen." (Applaus)
Natürlich gälten für die AfD die gleichen Rechte wie für alle anderen, natürlich habe sie einen Anspruch auf einen Vizeposten, sagt – ähnlich wie andere – die grüne parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann:
"Aber die Fraktionen sind auch in der Verantwortung, Menschen vorzuschlagen, die dann die Unterstützung der breiten Mehrheit des Parlamentes finden können. Denn schließlich repräsentiert das Präsidium auch das Parlament. Und dass man da sagt: Ich halte es für abwegig, jemanden vorzuschlagen, der das Grundrecht auf Religionsfreiheit für Muslime nicht anerkennen will – das finde ich, da muss sich eher die AfD erklären und nicht die anderen Fraktionen."
Das tat für die AfD deren Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann. Und blieb dabei: "Wir haben uns das gut überlegt, bevor wir Herrn Glaser nominiert haben. Wir wissen, was gesagt wurde. Die Inhalte, die Worte - wir stehen dahinter. Also, Herr Glaser bleibt unser Kandidat."
Parlamentspräsident muss gewisse Zurückhaltung üben
Der Eklat ist mindestens möglich – und wäre doch keine Premiere. Fast ein halbes Jahr lang stellte vor zwölf Jahren die damalige Linkspartei PDS keinen Vertreter im Präsidium – so lange hatte sie an Lothar Bisky als Kandidaten festgehalten. Der Vizepräsident repräsentiert das Parlament, wie Britta Haßelmann erklärt. Das bedeutet konkret zum Beispiel, dass er in Vertretung des Präsidenten Reden oder Schirmherrschaften übernimmt. Allgemein verpflichtet es zu einer gewissen parteipolitischen Zurückhaltung, sagt der ehemalige Vizepräsident Wolfgang Thierse (SPD):
"Und darüber hinaus – natürlich – ein Vizepräsident amtiert, er leitet Sitzungen. Und er muss das im Sinne des Gesamtparlaments tun. Und das ist halt die Gefahr, das muss man wissen. Wir wissen ja nicht, wie die AfD als Fraktion agieren wird."
Und ob dann ein Vizepräsident von der AfD vielleicht Provokationen aus den eigenen Reihen duldet. Ganz unabhängig von der Person Glaser sagt der Staatsrechtsprofessor Christoph Möllers, bekomme das Präsidium durch den Einzug der AfD ins Parlament eine größere Bedeutung:
"Denn es geht jetzt darum, gegenüber einer Partei, die vielleicht das System tendenziell in Frage stellt, das parlamentarische System vorzustellen und attraktiv zu machen. Das heißt auch, eine Beratungskultur und Diskussionskultur zu ermöglichen. Dafür ist natürlich das Präsidium absolut zentral."
Und das, fügt er hinzu, sei wohl auch verstanden worden - angesichts der Kandidatur des politischen Schwergewichts Wolfgang Schäuble als Präsident: "Ich mach mir natürlich schon Gedanken. Zu den Gedanken gehört, dass ich darüber jetzt nicht rede."
So gab der sich noch vor wenigen Tagen beim Treffen der Europäischen Finanzminister in Luxemburg geheimnisvoll. Um dann ebenfalls den Parlamentarismus als solches zu benennen:
"Aber ganz sicher ist die Rolle des Parlamentspräsidenten dafür zu sorgen, dass das Parlament, das vom Souverän des Landes gewählt wurde, von den Wählerinnen und Wählern, mit gleichen Rechten und Pflichten für jeden Abgeordneten, dass das Parlament diese Aufgabe im Rahmen dieses grundgesetzlichen Auftrags und im Rahmen dieser demokratischen Legitimation erfüllt."
Auch die FDP hat mit Wolfgang Kubicki einen durchsetzungsstarken Kandidaten nominiert. Für die CSU tritt Hans-Peter Friedrich an, für Linke und Grüne bisher Petra Pau und Claudia Roth. Die SPD tut sich schwer. Sie hatte auf zwei Posten gehofft, wie sie CDU/CSU und SPD tatsächlich bis jetzt noch haben. Ein ohnehin siebenköpfiges Präsidium könne man nicht noch weiter aufblähen, so dagegen die Union. Am Montagabend treten deshalb Thomas Oppermann und die Noch-Bundestagsvize Ulla Schmidt in der Fraktionssitzung gegeneinander in einer Kampfkandidatur an.
Bund der Steuerzahler beklagt Riesenparlament
Dass das Präsidium dann dem größten Deutschen Bundestag seit Bestehen der Bundesrepublik vorstehen wird, hat konkrete Folgen. Nicht nur für die Männer, die viele Stühle zu montieren hatten. 709 Abgeordnete, das sind 111 mehr als die gesetzliche Sollgröße von 598 Parlamentariern.
Für den Bund der Steuerzahler ist das schon aus finanziellen Gründen ein Ärgernis. Sein Präsident Rainer Holznagel berechnet die Differenz zu dieser Sollgröße; nicht zu den 631 des alten Bundestages, der heute noch im Amt ist:
"Dann werden wir im nächsten Jahr eine Kostensteigerung nur für die Abgeordneten und die Mitarbeiter von 75 Millionen haben, das heißt insgesamt werden wir dann 517 Millionen Euro für den Bundestag ausgeben. Hier reißt der Bundestag die Fenster auf und dreht die Heizungen hoch."
"Wir sind ja erstmal alle sehr skeptisch gegenüber der Größe des Bundestages, dafür gibt es sicherlich auch gute Gründe", gesteht Christoph Möllers zu. Trotzdem urteilt der Rechtswissenschaftler deutlich milder als der Bund der Steuerzahler:
"Auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch sagen, dass die Abgeordneten hochspezialisiert sind, und damit auch sehr gut ausgelastet werden und man sich natürlich auch die Frage stellen kann, ob eine Vergrößerung des Bundestages nicht auch – nicht nur, aber auch – Vorteile hat. Weil diese Arbeitsteilung vielleicht auch nochmal ein bisschen besser organisiert werden kann."
Platznot – ein Dauerthema im Bundestag
So könnten größere Ausschüsse, die eigentlichen Arbeitsgremien der Fachleute also, der Regierung besser Paroli bieten. Der Haushaltsausschuss zum Beispiel dem Finanzminister. Und größer müssen die Ausschüsse wohl werden, denn jeder Abgeordnete hat einen Anspruch darauf, in einem der Gremien zu sitzen.
Die Größe des 19. Bundestages ist auf das Wahlrecht zurückzuführen. Noch-Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte sich intensiv um eine Reform des Wahlrechts bemüht, auch wenn sein Vorschlag das Problem wohl nicht gelöst hätte. Auch Wolfgang Schäuble hat angekündigt, dass ihm das Thema wichtig ist. Letztlich geht es um Überhangmandate und die Frage, wie man mit ihnen umgeht. Sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate bekommt, als ihr nach der Zahl der Zweitstimmen zusteht. Bemerkenswerterweise ist das besonders dort der Fall, wo die stärkste Partei schwach ist. Die große Mehrheit der Überhangmandate haben CDU und CSU bekommen. Um zu vermeiden, dass das Ergebnis verzerrt wird, werden seit der letzten großen Wahlrechtsreform alle Überhangmandate ausgeglichen. Die anderen Fraktionen bekommen also zum Ausgleich entsprechend mehr.
Sind diese Abgeordneten mit Ausgleichsmandat nicht irgendwie zweitklassig? Auf keinen Fall, sagt Christoph Möllers. So wenig, wie über die Landesliste Gewählte zweitklassig gegenüber denen seien, die Direktmandate bekommen hätten:
"Wir haben immer sowohl Proportionalität als auch Direktwahl gehabt. Und deshalb hatten wir eigentlich auch nie ein konsistentes Leitbild, wer der Mensch eigentlich ist, der da für uns im Bundestag ist, was der eigentlich repräsentiert."
Das soll keine Kritik sein – im Gegenteil: "Damit sind wir eigentlich gut gefahren. Es gibt politikwissenschaftliche Forschung darüber, ob Abgeordnete, die direkt gewählt oder über die Listen in den Bundestag gekommen sind, deswegen unterschiedliche Reputation haben oder unterschiedliche Möglichkeiten und das lässt sich eigentlich nicht feststellen. Letztlich zählt am Ende doch so etwas wie die persönlichen Fähigkeiten des Abgeordneten."
Ganz konkrete Folgen hat die neue Größe des Bundestages für die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter. Platznot sei ein Dauerthema im Bundestag, sagt Petra Sitte, bis vor wenigen Tagen Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Die Linke – trotz Neubauten, von denen einer wegen Baumängeln vorerst nicht bezogen werden kann. Fünfzehn neue Räume hätte man gebraucht für die fünf Abgeordneten, um die die Fraktion gewachsen ist, drei habe man bekommen:
"Das heißt, wir werden bei uns einer ganzen Reihe von Abgeordneten was nehmen müssen – Sonderwünsche gibt’s gar nicht. Man muss ja immer rechnen – im Schnitt: Ein Abgeordneter, eine Bürochefin oder ein Bürochef und zwei Referenten, die direkt inhaltlich mit zuarbeiten."
An sich brauche deshalb jeder Abgeordnete drei Räume.
Eine Abgeordnete muss ins Praktikantenzimmer
Besonders für die Neuen ist das noch unerhörter Luxus. Margit Stumpp ist eine von ihnen. Der Weg zu ihrem Büro führt über Flure, in denen vor etwa jedem vierten Büro Umzugskisten stehen. Die Grüne aus Ost-Württemberg versucht gerade, zwischen den vielen Verpflichtungen in der Heimat auch in Berlin heimisch zu werden:
"Ich bin ja hier in Berlin auch noch nicht richtig angekommen. Ich sitze hier im Provisorium, ich übernachte im Hotel. Also ich versuche gerade, den Kopf oben zu halten und zu schwimmen."
Sie sei gut aufgenommen worden in der Fraktion, sagt sie. Räumlich gilt das mit Abstrichen. Sie sitzt im Praktikantenzimmer, kahl, karg und klein:
"Ein bisschen unwirtlich. Und wenn ich irgendwo anrufe, dann fragen die meisten erst: Sind Sie Praktikantin? Und dann muss ich sagen: Nein, ich bin neu gewählte Abgeordnete. Ich weiß nicht, wie lange ich hier sein werde. Das wird man alles sehen. Aber ich hab wenigstens einen Schreibtisch, kann arbeiten, habe einen Internetzugang, ein funktionierendes Laptop."
Das Chaos ist nicht nur durch Raumnot begründet. Das Provisorium wird wohl andauern, bis der Zuschnitt der neuen Regierung steht und damit auch der Ausschüsse, die sich nach ihr richten. Petra Sitte von der Linken:
"Solange sie nicht wissen, welche Ausschüsse es gibt, können Sie nicht abschließend ihre Arbeitskreise bilden. Und das bedeutet, sie können nicht abschließend den Umzugsplan gestalten, weil man ja auch keiner Abgeordneten oder keinem Abgeordneten samt ihrer Mitarbeiter zumuten möchte, zwei, drei Mal umzuziehen …"
Frist für Bildung einer Bundesregierung gibt es nicht
Für die Grüne Margit Stumpp, wie für sehr viele andere, bedeutet das Provisorium außerdem: Sie weiß noch nicht, in welchem Themenbereich sie arbeiten wird:
"Meine Schwerpunkte waren außer dem breiten kommunalpolitischen Spektrum immer schon die Energiewende, also Energiepolitik und Mobilität. Da bin ich im Moment in der Vorbereitung verortet. Aber vom Beruflichen her kann ich mir immer auch noch Bildung ganz gut als Fachgebiet vorstellen, vor allem die berufliche Bildung", sagt die Ingenieurin und Berufsschullehrerin, die also ganz unterschiedliche Perspektiven hat.
Und zwar über Monate. Denn eines ist klar: die Jamaika-Verhandlungen zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen werden lange dauern. Im Vorgriff darauf hatten die Fraktionsgeschäftsführer schon einmal für die Konstituierung des Bundestages den spätestmöglichen Termin gewählt. Das Grundgesetz gibt eine Frist von höchstens dreißig Tagen nach der Wahl vor – irgendwann muss es ja losgehen. Eine Frist für die Regierungsbildung gibt es dagegen nicht, sagt der Staatsrechtler Christoph Möllers:
"Im Prinzip ist es tatsächlich so, dass die Pflicht, eine neue Bundesregierung, einen neuen Bundeskanzler vorzuschlagen, dem Bundespräsident ohne Frist obliegt. Der beobachtet im Prinzip den politischen Prozess im neu konstituierten Bundestag, konsultiert die Fraktionen und bildet sich dann eine Meinung, wer am ehesten in der Lage sein könnte, eine Mehrheit als Kandidat für das Amt des Bundeskanzlers, der Bundeskanzlerin zu finden."
Das ist nicht selbstverständlich. Landesverfassungen wie die brandenburgische oder die niedersächsische regeln die Regierungsbildung anders:
"Es gibt Landesverfassungen, gar nicht so wenige, in denen es eine Frist gibt. In denen also dem Landtag gesagt wird: Wenn Ihr nicht innerhalb von dreißig Tagen oder von drei Monaten, nachdem Ihr Euch konstituiert habt, einen Ministerpräsidenten oder eine Ministerpräsidentin gewählt habt, dann werdet Ihr aufgelöst. Dann seid Ihr von Verfassungswegen aufgelöst. Warum ist das anders als beim Grundgesetz? Meine Vermutung wäre: Weil es keinen Präsidenten gibt. Weil es also im Grunde kein Organ gibt, das diesen Prozess moderiert, und das im Grunde darauf dringt, dass eine Mehrheit eine Regierung wählen kann."
Gemeint ist hier der Bundespräsident – ein solches Organ, das unabhängig von Legislaturperioden wirkt, gibt es tatsächlich in den Bundesländern nicht. Es gibt also – ohne Frist – ein Parlament ohne Regierung, eine Übergansphase, die gestaltet sein will. Was machen die Abgeordneten eigentlich in der Zwischenzeit?
Opposition sein ohne Sparringspartner: "Das ist nervig!"
"Das ist nervig!", sagt die voraussichtliche Oppositionspolitikerin Sitte:
"Und da sind wir nicht anders als andere Gremien oder Einrichtungen. Wenn Menschen über einen längeren Zeitraum keine konkrete Aufgabe dann haben, ist es wie eine Autoimmunerkrankung. Sie beschäftigen sich zu sehr mit sich selbst!"
Das Problem hat die Grüne Stumpp, Mitglied einer sondierenden Fraktion, beileibe nicht – auch wenn sie selbst nicht in der ersten Reihe steht:
"Wenn die Sondierungen positiv verlaufen, dann gehen wir in Koalitionsverhandlungen. Und meine Erfahrung aus Baden-Württemberg, wo ich auch an den Koalitionsverhandlungen beteiligt war, ist, das ist eine sehr intensive und anstrengende Zeit! Man hat ja da immer so eine Art Back-Office, also Leute, die dann mitbeteiligt sind und zuarbeiten. Also, da sitzt man, denke ich, nicht da und dreht Däumchen."
Däumchen drehen will auch die an keinen Verhandlungen beteiligte Petra Sitte von der Linkspartei nicht. Ohnehin stellen alle Fraktionen, vor allem die der Opposition, immer kleine Anfragen. Das genügt Sitte nicht: Sie will das Parlament unabhängiger sehen von der Regierung, selbstbewusster und mit den eigenen Institutionen.
Für sie – und übrigens auch für die mitsondierenden Grünen – gehören dazu unbedingt Ausschüsse, in denen Entscheidungen vorbereitet werden. Mindestens die vier, die das Grundgesetz vorsieht: Auswärtiges, Verteidigung, EU und Petitionen. Die gibt es nicht automatisch, sie müssen konstituiert werden – und bisher sieht es nicht so aus, als sollte das bald geschehen:
"Wir hatten in der letzten Legislatur am Ende wohl, wenn ich mich richtig erinnere, über siebentausend Petitionen, die unbearbeitet in dieser Zeit aufgelaufen sind. Und deshalb müssen wir nicht nur im Plenum arbeiten, sondern sollten im Kontext des Plenums auch die entsprechenden Ausschüsse, die notwendig sind, um die wichtigsten Anträge zu bearbeiten, schaffen."
Bis zur Regierungsbildung gibt es nur einen Hauptausschuss
Daraus wird wohl erst mal nichts. Für die Übergangszeit, bis die Regierung und damit der Zuschnitt der Ressorts steht, soll es statt der einzelnen Ausschüsse nur einen so genannten "Hauptausschuss" geben, darauf haben sich Union und SPD geeinigt. Ein Ausschuss für alle Fragen. Es wäre – nach der vergangenen Legislaturperiode – das zweite Mal. Es wäre damit gleichzeitig die Etablierung einer neuen Staatspraxis.
Der Jurist Christoph Möllers hält die für problematisch. Weil andere Abgeordnete als die wenigen Privilegierten im Hauptausschuss von der Entscheidung ausgeschlossen wären. Weil mindestens diese vier Pflichtausschüsse - für Auswärtiges, Verteidigung, EU, Petitionen - im Grundgesetz stehen. Als Übergangslösung mag das trotzdem gehen, sagt er. Nur: Wenn dieser Haupt- Ausschuss dann über Bundeswehrmandate entscheiden würde oder anderes, was grundgesetzlich vorgesehenen Ausschüssen zukommt, würde es fraglich:
"Weil man sagen muss, dass der Zuschnitt des Ausschusses halt in dem Fall ausnahmsweise durch das Grundgesetz vorgegeben wird und damit eine Logik vom Grundgesetz erwartet wird, in dem da Leute, die das machen, aber nichts anders machen, drin sitzen."
Der letzte Hauptausschuss, sagt Petra Sitte, wurde deshalb mit diesen Fragen gar nicht befasst – sondern direkt das Plenum. Auch das sei nicht die feine parlamentarische Art.
Erste Anträge und Gerangel um die Sitzordnung
In jedem Fall aber gibt es das Plenum. Das wird sich – auch eben wegen der Auslandseinsätze der Bundeswehr – nach der Konstituierung in diesem Jahr noch mindestens zwei Mal treffen. Die voraussichtliche Opposition wird diese Sitzungen nutzen, um schon eigene Anträge vorzulegen, und sei es auch, um die noch nicht handlungsfähigen anderen Parteien vorzuführen. SPD, Linke und AfD denken schon über konkrete Punkte nach.
Auch ein anderes Thema wird Gegenstand der Parlamentsbefassung sein. FDP, Linke und Grüne sind unglücklich über die Sitzordnung im Plenarsaal. Die FDP säße lieber statt weit rechts zwischen AfD und CDU/CSU in der Mitte. Grüne und Linke hätten für ihre Doppelspitze gern mehr als einen Platz in der ersten Reihe.
Es sind auch solche kleinen Fragen, mit denen sich das Parlament beschäftigt. Bis die Regierung steht – und es dann wieder regelmäßig heißt:
(Gong) "Nehmen Sie bitte Platz, die Sitzung ist eröffnet!"