Gefühle sind nichts dauerhaftes, das weiss jeder, dem schon einmal, wie es Erich Kästner unübertrefflich ausgedrückt hat, die Liebe über Nacht abhandenkam "wie andern Leuten ein Stock oder Hut". Auch Wut, Furcht oder Trauer verblassen und verschwinden irgendwann. Aber das ist es nicht, was der Titel von Ute Freverts Betrachtung meint. Als Historikerin beschäftigt sie sich mit größeren Zeitspannen. In denen verändern sich nicht nur die menschlichen Einrichtungen, sondern auch ihre Empfindungen. Natürlich gibt es affektive Universalien, haben Ethnologen bei Menschen auf der ganzen Welt ein ähnliches mimisches Repertoire etwa für Zorn, Angst oder Ekel gefunden. Aber die Anlässe sind andere, sie ändern sich nicht nur mit den Breitengraden, sondern auch mit den Jahrhunderten. Es gibt, so Ute Freverts These, historische Konjunkturen für Gefühle. Wie will man das belegen? Naturgemäß nicht mit der Messung von Hirnströmen, aber durch kulturelle Repräsentanz.
Menschen früherer Jahrhunderte "tickten" ganz anders als wir
Gefühle sind schließlich vor allem eine kulturelle und soziale Realität; erst dadurch, dass sie benennbar, ausdrückbar und mitteilbar sind, existieren sie überhaupt. So stützt Ute Frevert historische Befunde in sehr plausibler Weise auf theoretische und literarische Schriften, auf Philosophie, Belletristik und Lexika. Manchmal helfen auch Dokumente des Unverständnisses: So sagte die Schauspielerin Hanna Schygulla, die die Effie Briest in Fassbinders Fontane-Verfilmung spielte, sie verstehe nicht, was Ehre einmal gewesen sei, und die im Roman geschilderten Gefühle und Konflikte seien ihr völlig fremd. Das kann natürlich auch an Hanna Schygulla liegen - sind doch Romane früherer Jahrhunderte geeignet wie nichts sonst, uns in die Seelenlage von Menschen zu versetzen, die eben "ganz anders tickten" als wir.
Es geht um Scham- und Ehre
Um Ehre also geht es in Ute Freverts Darstellung, sie und ihr Komplementärgefühl, die Scham, haben an Bedeutung erheblich eingebüßt, bis zum Unverständnis eben, während Mitleid und Empathie ins Zentrum des Gefühlshaushaltes gerückt sind, wie man ihn sich heute idealiter vorstellt. Um mit Letzterem fortzufahren: Das Mitleid hat schon länger einen guten Ruf unter den Gefühlstheoretikern, die sich dabei nicht einmal auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter berufen müssen. Nur fehlte diesem Ruf die Entsprechung in der Realität. Adam Smith bezeichnet 1759 in seiner bahnbrechenden "Theory of Moral Instincts" die Sympathie - sein Wort dafür - als Grundlage menschlicher Vergesellschaftung, Shaftesbury pflichtet ihm bei, ebenso Rousseau, Mendelssohn und Lessing: Alles Mitleidspropagandisten, die sich höchstens darin uneins waren, ob der Mensch von Natur aus oder durch Erziehung mit seinem Mitmenschen mitfühle.
Flut von Rührstücken
Wie auch immer: "Der mitleidige Mensch ist der beste Mensch", erklärte Lessing und wollte durch Theaterstücke mehr von dieser Sorte heranziehen. Das führte bekanntermaßen zu einer Flut von Rührstücken und tränenseligen Briefromanen, die Reaktion auf die Gefühlshuberei blieb nicht aus. Ute Frevert zeichnet sie nach, verfolgt die Verschiebung zum tätigen Mitgefühl, etwa bei den amerikanischen Quäkern, zur fraternité der Französischen Revolution und zur Solidarität der Arbeiterbewegung, die auf Augenhöhe funktioniert und sich gerade von der bürgerlichen Wohltätigkeit abgrenzen will.
Rechte sind handfester als Gefühle
Wenn man doch die christliche Nächstenliebe als kulturelle Wurzel des Mitleids annehmen will: Wie weit ist der Kreis dieser Nächsten zu ziehen? Ute Frevert zitiert hier Nietzsche, der den Nationalismus aufkommen sah und seine entsprechenden Schlüsse zog: "Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen miteinander seid, muss immer ein sechster sterben." Selbst die Sozialwerke der modernen Staaten, die die Empathie institutionalisieren und formalisieren, müssen Grenzen ihrer Zuständigkeit ziehen. Wer noch Gelegenheit hatte, einen Anhänger der Baghwan-Bewegung kennenzulernen, die in den 70er-Jahren viele junge westliche Erwachsene erfasst hatte, wird sich erinnern, wie lächerlich deren Behauptung erschien, sie liebten jeden einzelnen Menschen auf der Welt. Realistischer, wenn auch noch weit von echter Realisierung entfernt, wirkt es da, wenn internationale Institutionen sich auf Menschenrechte konzentrieren und für deren allgemeine Geltung kämpfen. Rechte sind handfester und verlässlicher als Gefühle.
Es galt ein strenger Verhaltenskodex
Genossen Mitleid und Empathie also mindestens seit dem 18. Jahrhundert ein hohes Ansehen, so sieht es bei Ehre und Scham anders aus. Die heute immer wieder auftretenden Fälle sogenannter Ehrenmorde zeigen, in konflikthafter Gleichzeitigkeit zusammengedrängt, was moderne westliche Gesellschaften nicht mehr verstehen und schon gar nicht dulden, obwohl es sie über Jahrhunderte ebenso geprägt hat wie heute manche Familienverbünde ethnischer Minderheiten. Auch in den damals ständisch verfassten Gesellschaften Europas galt ein strenger Verhaltenskodex, von dem abzuweichen den sozialen Tod bedeutete. Entscheidend ist, dass die Ehre immer in den Augen der anderen liegt bzw. dass der Betroffene diesen Blick vorwegnehmen kann. Eng verbunden mit der Ehre ist die Scham - darüber, den Ehranforderungen nicht genügt zu haben. Ein Lexikon des 18. Jahrhunderts definiert Scham dann auch als "Unlust, welche wir über das Urteil anderer von unserer Unvollkommenheit empfinden".
Bei Frauen ging es um sexuelle Reinheit
Ute Frevert, die auch Standardwerke über Militarismus und das Duell geschrieben hat, zeigt dann, wie sich die Ehr- und Schamvorstellungen im 19. Jahrhundert verengten: Bei Männern konzentrierte sie sich gewissermaßen auf die Degenspitze, also darauf, auf eine Beleidigung mit der Bereitschaft zu reagieren, zu töten oder getötet zu werden. Bei den Frauen ging es allein, und überaus zwanghaft, um sexuelle Reinheit, wobei die Ehre des Mannes, wenn es um seine Ehefrau, Schwester usw. ging, gleich mitbetroffen war.
Konzept der Würde
An Versuchen, dem ständisch, sexuell und jedenfalls sehr Korsetthaft verfassten Ehrbegriff andere Konzepte entgegenzusetzen, hat es nicht gefehlt, wie Ute Frevert belegt. Der Philosoph Fichte und der Soziologe Simmel wollten jeder auf seine Weise eine innengeleitete, "wahre" Ehre konstituieren, die eben nicht vom Urteil anderer abhängig wäre und die für jeden gelten könnte, unabhängig von Stand und sozialer Rolle. Heute scheint dies Ziel erreicht zu sein, da das Konzept der Würde, die jedem Menschen eigen ist, das der Ehre ersetzt hat.
Wissenschaftlich auf eine Goldmine gestoßen
Erstaunlich, welche Vielfalt an Aspekten die Autorin ihrem Thema auf den wenigen Seiten abgewinnen kann, wozu dann noch all die Aspekte kommen, die ein aktiver Leser aus eigener Erfahrung und Reflexion hinzufügen kann. Etwa, dass in mancher Jugendgang mit dem aggressiv eingeforderten "Respekt" etwas gemeint sein könnte, das Würde mit Ehre in kruder Weise vermischt. Oder das mit dem Konzept der Zivilcourage, die heute so hoch im Kurs steht, durchaus auch Aspekte des physischen Mutes verbunden sind, was Ute Frevert meiner Meinung nach unterbewertet: Wer sich an einer U-Bahn-Haltestelle für einen attackierten Rentner einsetzt, riskiert ja nun doch einiges.
Mit "Vergängliche Gefühle" hat Ute Frevert ein dicht, aber flüssig geschriebenes, lesenswertes Denkstück vorgelegt. Wissenschaftlich gesehen ist sie mit dieser historischen Gefühlsexploration auf eine Goldmine gestoßen, aus der noch manche Erkenntnis gewonnen werden wird.
Ute Frevert: "Vergängliche Gefühle". Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 96 Seiten, 9,90 Euro (Frankfurter Vorträge 4).