
Dublin, im Herbst 1920. Seit fast zwei Jahren führt die IRA, die Irisch-Republikanische Armee, einen Guerillakrieg gegen die britische Krone, die Irland seit Jahrhunderten beherrscht, aber am Leben der Iren wenig interessiert ist. Die irische Kultur und Sprache werden als rückständig betrachtet. Der Kampf um die Unabhängigkeit wird mit großer Härte geführt. Die irischen Kämpfer greifen Polizeistationen und britische Sicherheitskräfte an, diese antworten mit brutaler Gegengewalt. In dieser Situation beschließt die IRA, zwölf hochrangige britische Agenten zu töten: Sie werden in den frühen Morgenstunden des 21. November 1920 in Dublin erschossen, erinnerst sich der irische Journalist Pádhraic Ó Dochartaigh:
„Am wichtigsten war die Tatsache, dass durch die Ermordung der Geheimagenten die geheimdienstlichen Aktivitäten der Krone ganz empfindlich gestört wurden, und dass zum ersten Mal in der langen, langen Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen England und Irland die republikanischen Kräfte die nachrichtendienstliche Hoheit in der Hauptstadt der Kolonie plötzlich gewannen.“
Befehl, das Feuer auf die Menge zu eröffnen
Und die britischen Sicherheitskräfte sannen auf Rache. Als symbolischer Ort wurde das Croke Park Stadion in Dublin ausgewählt. Dort fand am Nachmittag ein Hurling-Spiel statt; das traditionelle Ballspiel gilt in Irland bis heute als Nationalsport. Das Stadion wurde umstellt, an den Ausgängen wurden zwei gepanzerte Fahrzeuge postiert, und auf ein Leuchtsignal hin fielen kurz nach Beginn des Spieles erste Schüsse, so Pádhraic Ó Dochartaigh:
„Und dann brach natürlich Panik aus. Und die Menschen stürmten zum einen Ausgang, aber da waren bereits die beiden gepanzerten Fahrzeuge in Stellung gegangen, und die Besatzungen bekamen plötzlich den Befehl, das Feuer zu eröffnen, und sie eröffneten auch das Feuer auf die in ihre Richtung stürmende Menge, und die wich dann zurück und versuchte, überall über die Umrandungen und über die Mauern, die um das Feld aufgestellt waren, zu entkommen.“
Auf dem Weg zum Bürgerkrieg
14 Menschen wurden erschossen, 65 verwundet. Der „Blutsonntag“, wie der Tag bald genannt wurde, zog zahllose weitere Anschläge und Vergeltungsmaßnahmen nach sich. Militärisch waren die Briten überlegen, aber ihre kaum zwischen Kämpfern und Zivilbevölkerung unterscheidenden Racheaktionen brachten Großbritannien international zunehmend in die Kritik. Und so kam es Ende 1921 zum Anglo-Irischen Vertrag zwischen der britischen Regierung und den irischen Republikanern: Der Süden und die Mitte der Insel wurden als Irischer Freistaat zu einem eigenständigen Herrschaftsgebiet innerhalb des British Empire, während der wohlhabende Norden, in dem viele englische und schottische Zuwanderer lebten, rein britisch blieb. Doch vielen Iren ging der Vertrag nicht weit genug, sagt Pádhraic Ó Dochartaigh:
„Irland war immer noch letztendlich unter der Oberhoheit der Krone, sie mussten den König anerkennen, und sie mussten den oath of allegiance leisten, den Eid auf die Krone, und das war natürlich unverständlich und unvorstellbar für einen großen Teil der Bevölkerung, und daran entzündete sich dann die Auseinandersetzung, die zu dem Bürgerkrieg führte.“
Der Bürgerkrieg endete im Mai 1923 mit der Niederlage der Vertragsgegner. Vollständig unabhängig von der Krone wurde Irland erst 1949, durch die Ausrufung der Republik und den Austritt aus dem Commonwealth. Aber die Unterdrückung durch Großbritannien ist in Irland sehr präsent. So erinnerte der irische Präsident Michael Higgins vor Kurzem in einer Rede an die Vergeltungsmaßnahmen der Briten während des Unabhängigkeitskrieges. Hinter ihnen stehe ein tief verwurzeltes Gefühl von Überlegenheit, das sich zum Beispiel in den Schriften des Philosophen David Hume zeige, der die Iren als Barbaren bezeichnete. Eine Versöhnung setze die Benennung von Unrecht voraus. Doch genau daran hapere es in Großbritannien, sagt Ó Dochartaigh.
„Es ist so lange so erfolgreich totgeschwiegen worden, dass es eigentlich nicht mehr existiert. Vielleicht ist es gar nicht geschehen. Das ist einfach die Macht des Vergessens, genau das Gegenteil von Erinnerungskultur und Gedächtniskultur. Man muss sich nicht entschuldigen für das, was nach unserer Erinnerung gar nicht geschehen ist. Das ist das Endstadium des Erfolges der Verdrängung.“

Eine Entschuldigung hat es bis heute nicht gegeben, nur zaghafte Schritte, sich den dunklen Flecken der Geschichte zu stellen: Als die Queen vor neun Jahren zu ihrem ersten Staatsbesuch seit der Unabhängigkeit des Landes in Irland war, stand auch das Croke-Park-Stadion auf dem Programm – in Erinnerung an den Blutsonntag von 1920.