Tobias Armbrüster: Wir sind mittendrin in diesem Jahr 2018, und wir reden viel in diesem Jahr über 1968. 50 Jahre ist es jetzt her, die Studentenunruhen, die außerparlamentarische Opposition, und viele sagen im Rückblick, '68, das war das Jahr, in dem die Bundesrepublik erwachsen wurde. 1968, das war aber auch das Jahr, in dem sich Teile dieser Protestbewegung radikalisiert haben. Das endete dann im Terror der Baader-Meinhof-Gruppe und der RAF. Jetzt ist also ein halbes Jahrhundert das alles her, und was genau von diesen Protesten bleibt, das ist nach wie vor umstritten.
Wir wollen darüber jetzt sprechen mit einem, der mit dabei war und der immer wieder über dieses Jahr nachgedacht hat. Am Telefon ist Bahman Nirumand, der Germanist, Buchautor und Iran-Kenner. Schönen guten Morgen!
Bahman Nirumand: Guten Morgen, Herr Armbrüster!
Armbrüster: Herr Nirumand, wenn Sie heute an '68 zurückdenken, welcher Moment kommt Ihnen da zuerst in den Sinn?
Nirumand: Mir kommt vor allem zuerst der Tod von Benno Ohnesorg in den Sinn, das war allerdings schon '67, vor der Deutschen Oper in Berlin. Dieser tragische Fall markierte einen wichtigen Punkt innerhalb der damaligen Bewegung. Das hat, glaube ich, meiner Auffassung nach auch zu der Radikalisierung der 68er-Bewegung beigetragen.
"Das Schweigen musste durchbrochen werden"
Armbrüster: Da können wir vielleicht gleich noch drauf kommen. Wie sind Sie dann dazugestoßen zu dieser Protestbewegung? Was war für Sie der Beweggrund, da mitzumachen?
Nirumand: Ich kam ja aus dem Iran, und ich hatte ein Buch geschrieben über die Lage im Iran, und dieses Buch hat eine weite Verbreitung gefunden damals. Ich konnte die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik für das Land interessieren, und zufälligerweise fand auch nach dem Erscheinen des Buchs der Besuch des damaligen Schahs statt. Ich habe, gemeinsam mit deutschen Kommilitoninnen und Schriftstellern und Künstlern versucht, eine Gegenbewegung, also eine Protestbewegung auf die Beine zu stellen gegen diesen Besuch, und dabei klar zu machen, welche Politik die damalige Bundesregierung Iran gegenüber verfolgte, wie man einen Diktator unterstützte, der sein eigenes Volk unterdrückt.
So bin ich in diese Bewegung hineingekommen und habe dann natürlich auch über andere Themen mit den Deutschen zusammengearbeitet, zum Beispiel gegen den Krieg in Vietnam oder auch bei den Aktionen gegen die autoritäre Gesellschaft in der Bundesrepublik. Ich meine, die jungen Menschen heute können sich überhaupt nicht vorstellen, wie autoritär damals die bundesrepublikanische Gesellschaft war. Wir hatten Angst vor unseren Professoren, und ich habe nachträglich zu meinem Erstaunen festgestellt, dass die meisten Professoren, die ich damals in Tübingen hatte - ich habe in Tübingen studiert und danach in Berlin -, dass die alte Nazis waren. Es waren also von dem alten Regime viele noch tätig in der Bundesrepublik.
Aber es gab über die vergangene Zeit ein Schweigen, und dieses Schweigen musste durchbrochen werden. Eigentlich lebte die bundesrepublikanische Gesellschaft im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts, und es bedurfte eines Schocks, um wirklich sich zu einem demokratischen Land zu verwandeln.
"Ein Öffnen der Gesellschaft nach innen"
Armbrüster: Herr Nirumand, das müssen Sie uns kurz erklären. War 1968 tatsächlich der Punkt, an dem in Deutschland zum ersten Mal öffentlich über die Nazizeit in Deutschland gesprochen wurde und über die Ursprünge dieser Zeit?
Nirumand: Ich meine, es hat schon Stimmen gegeben, schon vor '68. Aber im Grunde war diese Bewegung, die 68er-Bewegung, ein Öffnen der Gesellschaft nach innen. Man hat versucht zu fragen, was ist denn da passiert, was war das für ein Regime, wie haben sich die Deutschen damals verhalten? Was waren die Ideologien, die dazu geführt haben, dass diese Katastrophe in Deutschland passieren konnte.
Ich glaube, es bedurfte dieser Bewegung. Ohne diese Bewegung wäre diese Aufklärung über die Vergangenheit Deutschlands nicht möglich gewesen. Und es wäre auch nicht möglich gewesen, dass wenige Jahre später Willy Brandt ausrief: Wir können jetzt mehr Demokratie wagen.
Armbrüster: Da gibt es Leute, die das inzwischen etwas anders sehen. Ich erinnere mich an einen Artikel im "Spiegel" in diesen Tagen. Da hat der Publizist Jan Fleischhauer gesagt, wenn er sich mal die Kursbücher, das war ja damals eine sehr populäre intellektuelle Zeitschrift ansieht, dann findet er darin kaum einen Verweis über die Nazizeit. Dass das Ganze sozusagen der 68er-Bewegung erst nachträglich zugute geschrieben wurde, diese Debatte über Nazideutschland endlich zu beginnen. Was sagen Sie dazu?
Nirumand: Ich denke, soweit ich weiß und soweit ich dabei war, war das ein sehr wichtiges Thema, wie die Vergangenheit Deutschlands aussah. Und außerdem, dieser Kampf gegen die Autorität, autoritären Mechanismen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft hing doch zusammen mit dem vergangenen Regime. Das kam ja daher, und insofern denke ich, dass das auch damals eine Auseinandersetzung mit dem Faschismus war.
"Eher eine kulturelle Bewegung als eine politische"
Armbrüster: Sie müssen uns vielleicht ein bisschen noch die Hintergründe erklären. Sie haben es ja gesagt, dass sich viele junge Leute das heute wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen können, wie das damals gelaufen ist. Wie einfach war das denn für Sie zum Beispiel damals, Mitstreiter zu finden? Wie lief da die Kommunikation?
Nirumand: Die Kommunikation war zunächst nicht einfach. Es war schwer, die Bevölkerung für diese Fragen zu interessieren, zu engagieren. Und es war, glaube ich, mehr unter den Intellektuellen, Studenten, Akademikern und so weiter. Wir hatten damals kaum Möglichkeiten, andere Schichten der Bevölkerung zu erreichen, zum Beispiel die Werktätigen, worum wir uns sehr bemüht hatten. Aber die intellektuelle Schicht oder Teile der Mittelschicht waren interessiert an unseren Argumenten, und wir haben sie engagieren können.
Armbrüster: Was haben Sie, Herr Nirumand, dann gesagt, als im April '68, also vor so ziemlich genau 50 Jahren, Andreas Baader und Gudrun Ensslin zwei Kaufhäuser in Frankfurt angezündet haben?
Nirumand: Es war, glaube ich, der Beginn eines Irrwegs. Und die 68er-Bewegung, die ich als eine eher kulturelle Bewegung bezeichnen möchte, nicht als eine politische, die hat, glaube ich, gedauert von dem Schah-Besuch '67 bis zum Attentat auf Rudi Dutschke. Dann war es aus. Dann gab es verschiedene Zweige. Dann hat sich die Bewegung sehr radikalisiert bis hin zum bewaffneten Kampf. Das hatte dann meiner Auffassung nach mit der 68er-Bewegung überhaupt nichts mehr zu tun.
Armbrüster: Und Sie waren da von Anfang an dagegen.
Nirumand: Ja, eindeutig war ich dagegen.
"Die ganze Gesellschaft hat sich total verändert"
Armbrüster: Wenn wir jetzt heute zurückblicken, erkennen Sie in Deutschland noch irgendetwas, was geblieben ist von diesem Jahr 1968?
Nirumand: Schauen Sie mal, die ganze Gesellschaft hat sich doch nach meiner Auffassung total verändert, die bundesrepublikanische Gesellschaft. Aus der damaligen Bundesrepublik ist ein demokratisches Land geworden. Wir leben in einem demokratischen Land heute, und das gehört zu den Errungenschaften der 68er-Bewegung. Ohne die 68er-Bewegung hätte es diese demokratischen Mechanismen in Deutschland nicht gegeben. Schauen Sie mal auf die Frauenemanzipation, auf die Situation an den Schulen und Universitäten, auch in den Fabriken, die Entwicklung der Gewerkschaften. All das ist doch damals in Bewegung geraten.
Armbrüster: Herr Nirumand, jetzt lesen wir in diesen Tagen allerdings auch und hören das und erfahren das, dass sich Intellektuelle in Deutschland inzwischen zusammenschließen, um gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik zu protestieren. Können wir sagen, dass Protestbewegungen heute im Jahr 2018 rechts ticken?
Nirumand: Ich kann sagen, es ist wieder eine Gefahr in Deutschland - weil wir nicht so lange reden können -, die Gefahr von rechts. Ich sehe, dass diese Seuche längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Es geht nicht nur um die AfD oder diese radikal rechten Gruppen, sondern es geht um ein Umdenken in der Gesellschaft, das, wie ich fürchte, nicht zugunsten Deutschlands sein wird.
"Mir fehlt wieder die Stimme jener Intellektuellen"
Armbrüster: Kann es denn nicht sein, dass auch das einfach eine Protestbewegung ist, die sich auflehnt gegen Grundsätze, an die man sich in Deutschland vielleicht allzu lange gewöhnt hat?
Nirumand: Eine Protestbewegung - eigentlich Protestbewegung rückwärts gerichtet, kann ich sagen. Mir fehlt wieder die Stimme jener Intellektuellen, die - ich kann überhaupt nicht verstehen, ich kann diese Lethargie bei den Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern überhaupt nicht nachvollziehen. Es passiert doch jetzt etwas in Deutschland, und vieles passiert jetzt in Deutschland.
Man muss sich doch jetzt mit dieser nahenden Zukunft auseinandersetzen, mit diesen Fragen. Diese rechte Bewegung, die sich immer mehr verbreitet. Man muss sich fragen, was passiert mit dieser Digitalisierung, richtige Analysen liefern über Segen und Fluch der Digitalisierung. Man muss aus Deutschland hinausschauen und sehen, überall gibt es Kriege. Schauen Sie mal, wie viele Länder sich jetzt im Krieg befinden. Über all das wird mehr oder weniger geschwiegen.
Armbrüster: Wird darüber wirklich geschwiegen? Ich habe den Eindruck, wir werden zum Teil eher überflutet von Informationen über diese ganzen Entwicklungen.
Nirumand: Die Informationen gibt es schon. Ich meine "geschwiegen" als Protestbewegung, als Alternative. Man muss Alternativen anbieten. Was passiert denn, wie ist die deutsche Außenpolitik zum Beispiel im Nahen Osten. Damals hat man darüber sehr viel geredet. Damals gab es eine Gegenbewegung gegen die Politik der Bundesrepublik.
Heute gibt es keine Bewegung. Es gibt einzelne Stimmen, es gibt hier und dort Zeitungskommentare oder Rundfunkkommentare. Aber eine Bewegung gegen eine Politik sowohl nach innen als auch nach außen, die meiner Ansicht nach nicht weitsichtig genug denkt, eine Bewegung dafür gibt es nicht.
Armbrüster: Sagt hier bei uns in den "Informationen am Morgen", 50 Jahre nach 1968, der Schriftsteller, Autor und Iran-Kenner Bahman Nirumand. Vielen Dank, Herr Nirumand, für Ihre Zeit heute Morgen!
Nirumand: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.