"Meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger! Ich bin mir bewusst: Dies ist eine schwere Reise. Der Vertrag von Warschau soll einen Schlussstrich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit."
Warschau, am Abend des 7. Dezember 1970. Willy Brandt hatte einen bewegten Tag hinter sich: Am Vormittag war er vor dem Mahnmal für die Opfer des Warschauer Gettos auf die Knie gefallen, wenig später hatte er den Vertrag über die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen unterschrieben. Zentraler Punkt: Mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verzichtete die Bundesrepublik auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete. Nun wandte sich der Bundeskanzler in einer Fernsehansprache an die Deutschen.
"Was ich Ihnen im August aus Moskau gesagt habe, gilt auch für den Vertrag mit Polen: Er gibt nichts preis, was nicht längst verspielt worden ist. Verspielt nicht von uns, die wir in der Bundesrepublik politische Verantwortung tragen und getragen haben, sondern verspielt von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus."
Die Verbrechen der eigenen Elterngeneration
Während in den 50er-Jahren die Erinnerung an das eigene Leiden im und nach dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand, begann sich der Fokus in den Sechzigerjahren zu verschieben. Die Verbrechen der eigenen Elterngeneration wurden immer stärker zum Thema gemacht, so der ehemalige Direktor des Deutschen Polen-Instituts, Dieter Bingen:
"Deshalb war es ja überhaupt erst möglich, dass die sozialliberale Koalition also von Willy Brandt und Walter Scheel, die im Oktober 1969 an die Regierung kam, diese Ostvertragspolitik dann einleiten konnte, weil sie wusste, sie hatte hier eine zunehmende Mehrheit hinter sich, und bis zur Ratifizierung der Verträge im Frühjahr 1972 ist diese Mehrheit zugunsten dieser Ostpolitik dann gestiegen..
Für die polnische Regierung existierte keine deutsche Minderheit
Doch obwohl der Warschauer Vertrag die Vertreibung von Millionen von Ostdeutschen als Folge des verlorenen Krieges akzeptierte, waren doch Hunderttausende – aus den unterschiedlichsten Gründen - in Polen geblieben. Ihre Existenz wurde von Warschau jedoch geleugnet, sagt Dieter Bingen:
"Für die Volksrepublik Polen gab es Ende der Sechzigerjahre keine deutsche Minderheit mehr in Polen. Und andererseits wusste man, dass es sie doch gab. Man wollte es aber nicht zugeben." Und so fand sich im Warschauer Vertrag kein Wort zum Umgang mit dieser Minderheit. Allerdings ließ die polnische Regierung der Bundesregierung eine Information zukommen, in der sie sich aus humanitären Gründen zur Familienzusammenführung bereit erklärte. Personen mit einer "unbestreitbar deutschen Volkszugehörigkeit", hieß es in dem Papier, sollten nach Deutschland ausreisen können.
"Für die Volksrepublik Polen gab es Ende der Sechzigerjahre keine deutsche Minderheit mehr in Polen. Und andererseits wusste man, dass es sie doch gab. Man wollte es aber nicht zugeben." Und so fand sich im Warschauer Vertrag kein Wort zum Umgang mit dieser Minderheit. Allerdings ließ die polnische Regierung der Bundesregierung eine Information zukommen, in der sie sich aus humanitären Gründen zur Familienzusammenführung bereit erklärte. Personen mit einer "unbestreitbar deutschen Volkszugehörigkeit", hieß es in dem Papier, sollten nach Deutschland ausreisen können.
Friedland: das Vorzimmer der Bundesrepublik
Während Ausreiseanträge in den Jahren zuvor meist abgelehnt worden waren, ging es nun recht schnell. Am 24. Januar 1971 trafen die ersten Aussiedler aus Polen im Grenzdurchgangslager Friedland ein, bis Ende des Jahres waren es 25.000. Der Leiter des Lagers, Albert Schulz, nannte Friedland das Vorzimmer der Bundesrepublik:
"Es gibt sofort nach dem Empfang hier Frühstück oder Abendessen, nach der Tageszeit, es wird eine leise, ich möchte sagen, unauffällige Personalaufnahme gemacht, und dann hat jeder Übersiedler 24 Stunden Ruhe, um sich hier zu entspannen und an das neue Leben im Westen, und Friedland ist die erste Station, zu gewöhnen."
Nach wenigen Tagen zogen die Aussiedler an ihre späteren Wohnorte weiter, wo sie oft misstrauisch beäugt wurden – vor allem die jüngeren, die in den Schulen polnisch sozialisiert worden waren ." Das bedeutete, so Peter Bingen, "es kam eigentlich eine deutsch-polnische Gesellschaft und eine kulturelle Vielfalt, die nicht mehr ‚rein deutsch‘ war, in die Bundesrepublik, und das hat auch zu Friktionen geführt. Oder auch wurden sie nicht mit offenen Armen aufgenommen, weil vor allem das Sprachproblem bestand, weil viele, die gekommen sind, sehr gut polnisch sprachen, aber kaum Deutsch."
Die langsamen Mühlen der Integration
Für einige der alteingesessenen Deutschen galten die Neubürger schlicht als Polen oder - abschätzig - als "Polacken". Das führte dazu, dass die Aussiedler lieber unter sich blieben oder versuchten, nur nicht aufzufallen. "Eine unsichtbare Gruppe oder die sich unsichtbar machen wollte,", sagt Peter Bingen. Man habe eben voll in der deutschen Gesellschaft ankommen, Teil von ihr werden. wollen.
Von 1971 bis 1989 kamen über 800.000 Aussiedler aus Polen in die Bundesrepublik. Für manche gelten sie bis heute als vorbildlich integriert, doch der Preis für ihre Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft war hoch.