Als der Eiserne Vorhang seine ersten Risse bekommt, geht ein Bild um die Welt: Es zeigt zwei Männer in feinem Anzug, die bei strahlendem Wetter mit Bolzenschneidern Löcher in einen Stacheldrahtzaun zwicken. Die Außenminister Alois Mock aus Wien und Gyula Horn aus Budapest sind an diesem 27. Juni 1989 an die österreichisch-ungarische Grenze aufgebrochen, um ein Signal zu setzen: Die Teilung Europas soll ein Ende haben.
Die Idee zu der Aktion kam aus dem österreichischen Außenamt, das auch die Pressearbeit übernahm. Als die beiden Politiker im Dienstwagen des Österreichers vorfahren, erwarten sie bereits mehrere Busladungen Journalisten. Während Alois Mock den Draht mit einem glatten Schnitt durchtrennt, erweist sich das Stückchen Zaun seines Kollegen als ungleich widerspenstiger.
"Ich danke Ihnen, Herr Minister, Ihnen und Ihrer Regierung für diesen großartigen Akt. Und wir haben einen großen Respekt vor der ungarischen Nation und vor Ihrer Entschlossenheit, auch schwierige wirtschaftliche und politische Reformen durchzuführen."
Was das Foto verschweigt: Beim für das Shooting erwählten Grenzübergang Klingenbach musste ein Zaunstück erst provisorisch wieder aufgestellt werden. Denn die Grenzanlagen passten schon länger nicht mehr in Ungarns neues Selbstverständnis: Bereits im Februar 1989 war ein Mehrparteien-System beschlossen worden, und im September sollten freie Wahlen folgen. Schon seit Anfang 1988 durften alle Ungarn ganz legal ins westliche Ausland reisen. Als reine Geldverschwendung erschien daher die Instandsetzung der maroden Grenzanlagen im grünen Gürtel zu Österreich. Also strich man kurzerhand diesen Etatposten. Am 2. Mai 1989 berichtete der Rias:
"Heute früh um acht rückten Spezialisten an, Stacheldrahtzäune werden beseitigt, und elektronische Grenzsperren abgebaut. Bis Ende 1990 will Ungarn auf der gesamten Grenzlänge zu Österreich den „Eisernen Vorhang" aufrollen."
Ein paneuropäisches Picknick
Die DDR-Bürger erfahren aus dem Westfernsehen von dieser Demontage. Viele machen sich daraufhin auf den Weg nach Ungarn in der Hoffnung, dass sich hier die Tür nach Westen für sie öffnen würde. Als dann auch noch das Bild der beiden Stacheldraht-bezwingenden Außenminister um die Welt geht, schwillt der Strom noch einmal gewaltig an. Am Plattensee und in Budapest füllen sich in den folgenden Wochen Campingplätze, Parkanlagen und Kirchen mit Zehntausenden DDR-Bürgern. Viele warten erst mal ab, andere probieren sofort ihr Glück und scheitern meist.
"Wir waren bei einem Fluchtversuch dabei, das war ganz schön aufregend. Die haben da scharf geschossen über die Köpfe, Tränengas eingesetzt, eben auch Schlagstöcke, obwohl Kinder dabei waren. Also die haben ganz hart durchgegriffen."
Am 19. August findet im Grenzgebiet das sogenannte Paneuropäische Picknick statt, ein Begegnungscamp von Friedensaktivisten aus Ost und West. 900 DDR-Bürger nutzen die Veranstaltung zur Flucht und stürmen im Pulk einfach an den verdatterten Grenzsoldaten vorbei auf die österreichische Seite. Die Nerven liegen zusehends blank. Als am 21. August ein junger Soldat einen flüchtenden Architekten aus Weimar erschießt, will Ungarn die angespannte Lage endlich beenden. Am Abend des 10. September 1989 gibt Außenminister Gyula Horn im Fernsehen eine kurze Erklärung ab: Die Grenze nach Österreich werde vom folgenden Tag an für DDR-Bürger offen sein. 'Ab Mitternacht' und 'bis auf weiteres':
"Sind Sie sofort aufgebrochen, als Sie gehört haben, dass ab 0 Uhr die Möglichkeit besteht?"
- "Ja, Koffer eingepackt, Sachen eingepackt und dann ging's los."
"Wie lange haben Sie im Lager gewartet auf die Ausreise?"
- "Wir haben drei Wochen im Lager gewartet und in der Zwischenzeit vier missglückte Fluchtversuche..."
"Vier?!"
- "Vier, ja." - "Das Gefühl der Freiheit, das ist herrlich." - "Wir müssen erst mal dazu sagen: Ein ganz, ganz großes Danke an das ungarische Volk, an die Behörden, an die Regierung."
Zehn Jahre später sagte Gyula Horn in einem Interview:
"Wir haben weder Moskau noch Ostberlin noch die anderen Bündnispartner um Erlaubnis gefragt. Die damalige ungarische Führung strebte danach, die Bündnispartner vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie sollten weder Grund noch Zeit haben, sich einzumischen. Natürlich muss ich hier hinzufügen: Zu Zeiten Breschnews hätte ein solcher Schritt nicht vollzogen werden können. Doch in Moskau gab es eben einen Gorbatschow. Wir konnten also darauf aufbauen, dass in Moskau ein neuer Wind wehte..."