Eine Selbstgedrehte in der Hand, schlendert Andreas Winter durch die Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain. Eine Straße, die ihn geprägt hat wie wenig anderes in seinem Leben.
"Ich hab hier das beste halbe Jahr meines Lebens verbracht - wie wir hier die Mainzer Straße, zehn Häuser am Stück, besetzt haben."
Heute eine ganz normale Straße im gentrifizierten Friedrichshain, mit Yoga-Shop, BMX-Laden und dem üblichen Späti.
"Diese Straße war auf der einen Seite von der 2 bis zur 13 komplett leer, weil die Absicht der DDR-Regierung war, die Häuser abzureißen und durch die "WBS-Platte 70" zu ersetzen - da ist ihnen aber der Mauerfall in den Weg gekommen."
"Man hat die Haustür einfach aufgemacht"
Winter ist noch am Abend der Wende aus dem Westberliner Kreuzberg in den Osten gegangen. Schauen, was los ist. Nach ein paar Monaten in der leerstehenden Wohnung eines Bekannten ist er in der Mainzer Straße gelandet. Mit einigen Freunden besetzte er hier das erste Haus.
"Das war relativ unspektakulär, weil die Straßenseite tot war. Man hat die Haustür einfach aufgemacht, die Wohnungstüren gelegentlich aufbrechen müssen, aber meistens war das auch kein Problem."
Während im Westen Berlins Wohnungen rar – und besetzte Häuser entweder voll oder längst geräumt waren – standen in Mitte, Prenzlauer Berg und hier in Friedrichshain ganze Straßenzüge leer.
"Das war wie so ein Damm, der bricht: Die Mauer ist gefallen, und alle möglichen Leute kamen auf die schlaue Idee, komm, wir gehen mal in den Osten, ob es da Wohnungen gibt – und davon gab's massenhaft."
Deren ehemalige Bewohner waren entweder kurz vor oder nach der Wende rüber in den Westen, ließen ihre Wohnungen oft mit Möbeln und allen Habseligkeiten zurück, erzählt Winter.
"Eine Zwei-Zimmer-Wohnung, von einem Junggesellen. Schrank aufgemacht - einmal der ganze Schrank voller Uniformen von einem Volkspolizisten. Da ist irgendein Volkspolizist abgehauen – und nicht wieder gekommen."
"Wir lebten in einem Staat, der sich auflöste"
Die nur 300 Meter kurze Mainzer Straße entlang geht's weiter, der Sozialarbeiter und Stadtführer öffnet sein Sakko, schiebt sich seinen schwarzen Hut tiefer über die Stirn. Die Frühherbst-Sonne blendet.
"Wir konnten damals machen, was wir wollten – wir lebten in einem Staat, der sich gerade auflöste."
Behörden, der staatliche Eigentümer der Wohnungen, die DDR-Wohnbaugesellschaft – niemand Staatliches interessierte sich zunächst für die Aktivitäten der Hausbesetzer. Überhaupt war ja der DDR-Staat in der Zwischenperiode vor der Einheit nur noch eine leere Hülle, erzählt der heute 55-Jährige. Für ihn, der sich auch heute noch als Anarchist bezeichnet, ein Paradies.
"So war das in der ganzen DDR: Es gab einfach keinerlei Institutionen mehr, die einen hätten aufhalten können."
Reporter: "Anarchie ist das Stichwort?"
"Ja, so wie der Ursprung ist des Anarchismus, Anarchae, nämlich ein Leben ohne Herrschaft, ohne Herrschaft leben, ohne Vermieter, ohne staatliche Aufsicht, was wir tun dürfen, was wir nicht tun dürfen – selbstorganisiert."
Reporter: "Anarchie ist das Stichwort?"
"Ja, so wie der Ursprung ist des Anarchismus, Anarchae, nämlich ein Leben ohne Herrschaft, ohne Herrschaft leben, ohne Vermieter, ohne staatliche Aufsicht, was wir tun dürfen, was wir nicht tun dürfen – selbstorganisiert."
Protestkultur hat sich erhalten
Winter wurde Sprecher der Hausbesetzer in der Mainzer Straße – er organisierte mit seinen Mitbewohnern Dinge, die eigentlich der Staat erledigt. Als rechtsradikale Hooligans eines der Häuser der Mainzer Straße angreifen wollten, beließ es die DDR-Polizei dabei, die Besetzer zu informieren.
"Da stand dann der stellvertretende Polizeichef von Friedrichshain bei uns vor der Tür und meinte, wir kriegen am Samstag 250 Hooligans an die Hacken, und wir sind ja aus dem Westen und können das selber regeln."
Um die Ecke in der Rigaer Straße leben alternative Wohnprojekte bis heute weiter, manche Häuser wurden den 90er-Jahren von den Anarchisten gekauft, andere in normale Mietverhältnisse überführt.
Dann geht's in den Norden dieses Kiezes - zum "Abenteuerspielplatz" – ein Freiraum für Kinder und Erwachsene, mit Baumhäusern, Feuerstelle und allerlei selbstgebautem Spielzeug aus Möbelresten. Kai Rühmann, ein Freund aus alten Besetzerzeiten, arbeitet hier – führt hier auf kleinem Raum das fort, was sie nach der Wende überall in Friedrichshain gemacht haben. Überhaupt hat sich der Geist der Hausbesetzer im Kiez erhalten, meint Rühmann:
"Das ist eine Kultur, die hier was bewirkt hat und die immer noch wirkt in punkto Mietendiskussion, bezahlbarer Wohnraum, immer noch da Zeichen setzt - und wichtig ist in unserer Gesellschaft, gerade hier im Innenstadtbereich mit der ganzen Verdrängung."
Winter und Rühmann setzen sich auf ein paar Gartenstühle, rauchen und sprechen über die alten Zeiten.
Gemischte Erinnerungen an die Räumung
Doch Rühmann denkt nicht nur mit Wehmut an dieses Jahr der Selbstermächtigung zurück, denn es sei nicht nur schön gewesen, sagt er. Die Räumung der Mainzer Straße im November 1990 verfolgt ihn bis heute.
Kai: "Es ist nicht nur der aufregende Charakter, es ist auch geprägt durch Angst und Bedrohung - die Räumung der Mainzer Straße, da waren 3.500 Polizisten im Einsatz, um 400 Hausbesetzer aus den Häusern zu kriegen. Wenn ich heute Hubschrauber durch die Stadt fliegen sehe – dann kommt in mir, es ist ein gewisser Bedrohungszustand."
Andreas: "Es war Bürgerkrieg. Die Bullen hatten auch so blöde Ideen gehabt, mit Pressspanplatten auf dem Kopf – so wie bei Asterix und Obelix die Legionäre - durch die Straße zu laufen, und wurden dann von oben mit Molotowcocktails beworfen – die liefen dann wie brennende Fackeln durch die Gegend."
"Ich bin froh, dass ich diese Zeit erleben durfte"
Der wiedervereinte und wieder vorhandene Staat räumte die Häuser in der Mainzer Straße mit aller Macht. Aus den Fenstern flogen Molotowcocktails, die Polizei setzte Wasserwerfer und Knüppel ein.
"Alle Ex-Mainzer hatten regelmäßig unsere Novemberdepression - also nicht nur die normale Depression, sondern obendrein noch die Räumungsdepression. Mittlerweile ist mein Leben soweit in die Reihe gekommen, dass ich – ja, nostalgisch beschreibt es ganz gut. War eine schöne Zeit, und ich bin froh, dass ich sie erleben durfte."
Das lange Jahr der Anarchie - im November 1990 war es zu Ende. Zwar lebten Winter und Rühmann auch danach noch jahrelang in besetzten Häusern in anderen Straßen Friedrichshains. Doch der Zauber der absoluten Freiheit – der war verflogen.