Archiv


20.5.1854 - Vor 150 Jahren

Die Geschichte kann ungerecht sein. Da gibt jemand einer ganzen Epoche ihren Namen – und stürzt doch selbst in tiefstes Vergessen. "Restauration der Staatswissenschaften" heißt das ab 1816 erschienene Werk des Schweizer Rechtsgelehrten Karl Ludwig von Haller, das einer politisch-philosophischen Grundströmung jener Jahre, eben der "Restauration", ihren Namen gegeben hat. Auf gut 3000 Seiten schrieb sich Haller darin seinen Unmut gegen den Geist der Zeit vom Herzen; und was ihn so aufbrachte, darüber gibt bereits der vollständige Titel seines Werks Auskunft.

Von Kersten Knipp | 20.05.2004
    Restauration der Staatswissenschaften oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands, der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt.

    Die Chimäre des bürgerlichen Zeitalters. Man sieht: Haller irrte, historisch lag er ganz und gar daneben. Querschläger seiner Zeit, Streiter gegen alles, was irgendwie zukunftsfähig war, suchte er das Heil bei den Alten, stritt für das Sterbende, eine todgeweihte Ständeordnung, an deren Spitze er sich nur eine Gruppe vorstellen konnte: die Fürsten.

    Die Fürsten … herrschen nicht aus anvertrauten, sondern aus eigenen Rechten. Es ist ihnen keine Gewalt vom Volk übertragen worden. … Sie sind also nicht vom Volk gesetzt oder geschaffen, sondern sie haben im Gegenteil dieses Volk nach und nach um sich her versammelt, in ihren Dienst aufgenommen, sie sind die Stifter und Väter dieses wechselseitigen Verbandes. Das Volk ist ursprünglich nicht vor dem Fürsten, sondern im Gegenteil der Fürst vor dem Volk, gleichwie der Vater vor seinen Kindern, der Herr vor den Dienern, überall der Obere vor den Untergebenen, die Wurzel und der Stamm vor den Ästen und Zweigen und Blättern existiert.

    Woher der Hang zur alten Ordnung, der Unmut über die Gegenwart? Sie mag in der Erfahrung nationaler Demütigung gründen. Genau 30 Jahre ist Haller alt, als die Schweizer Kantone 1798 vor den Truppen Napoleons kapitulieren. Die Schweiz bleibt zwar unabhängig, wird aber zur französischen "Schwesterrepublik". Streitereien zwischen Föderalisten und Unitariern stürzen das Land 1802 in einen kurzen Bürgerkrieg. Die französischen Revolutionäre haben die Schweiz verdorben; und mit seiner "Restauration der Staatswissenschaften" tritt Haller darum an, …

    … der Schlange des Jakobismus den Kopf zu zertreten, und auf den Trümmern von Menschen-Grillen die Ehrfurcht für Gottes Macht und sein Gesetz herzustellen

    Das geht eine Weile lang gut. Seit 1792 steht Haller im diplomatischen Dienst, nach kurzem, kriegsbedingtem Exil wirkt er ab 1806 als Professor für Staatsrecht an der Berner Akademie, 1814 wird er Mitglied des Großen Rats der Stadt. Einfach macht er es sich freilicht nicht, denn seine Ansichten haben es in sich, schrecken nicht nur liberale Geister ab. Wie etwa hat man sich das Verhältnis des Mannes zur Frau zu denken? Nichts einfacher als das.

    Der Mann herrscht über sein Weib, weil er es angeworben, in seinen Schutz angenommen hat, weil es gewöhnlicher Weise von ihm ernährt wird, und weil er im Allgemeinen auch der Stärkere an Geist und Körperkraft ist.

    Klare Verhältnisse findet Haller auch im Katholizismus, zu dem er sich 1820 bekennt – selbstverständlich aus guten Gründen. Die Konversion, so Haller, war …

    … die natürliche Frucht eines guten Herzens, einer ruhig prüfenden Vernunft und der besonderen Gnade Gottes

    Mehr noch als dieses mag ihn aber etwas anderes getrieben haben: die Abneigung gegen die protestantische Reformation. Denn es gibt ja wohl keinen Zweifel, dass…

    …die kirchliche Revolution des 16. Jahrhunderts, welche wir Reformation nennen, nach ihrem Grundsatz, ihren Hülfsmitteln und Resultaten das vollkommenste Bild und der Vorläufer der politischen Revolution unserer Tage war, und mein Widerwille gegen die letztere verleidet mir auch die erstere.

    Doch es hilft alles nichts: Hallers Ideen kommen nicht an in ihrer Zeit. Den Staat denkt er sich aufgebaut und geregelt wie eine große Familie, als frühen und zugleich exzessiven Kommunitaristen könnte man Haller darum bezeichnen. Nicht allzu genau nimmt er es darum mit der Unterscheidung zwischen Staats- und Privatrecht. Entsprechend wenig anfangen können mit ihm die deutschen Burschenschaften, die die "Restauration der Staatswissenschaften" auf dem Wartburgfest 1817 ins Feuer werfen.

    Der Gesell will, dass Deutschland keine Verfassung habe.

    Das sehen auch die Schweizer so. Nach seiner Konversion zum Katholizismus schließt der Große Rat von Bern Haller für alle Zeiten aus. 1822 zieht der Jurist für einige Jahre nach Paris, wo er inmitten der Restaurationsphase eine Anstellung im Außenministerium erlangt. 1830 dann zieht er nach Solothurn, wo er weitere antirepublikanische Schriften verfasst, sich 1848 aber endgültig geschlagen geben muss: Die liberale Revolution hat er nicht aufhalten können. Eine persönliche Niederlage ein paar Jahre vor seinem Tod am 20. Mai 1854, auf den dann der völlige Niedergang der wissenschaftlichen Reputation folgte.