Der Aktivist Jonas Holldack hat mit einer Gruppe junger Menschen den Verein Interbrigadas gegründet und von 2007 an in Venezuela Fabrikbesetzer, landwirtschaftliche Kooperativen und andere Initiativen unterstützt. Die Faszination gesamtgesellschaftliche Politisierung habe damals den Ausschlag gegeben, sich dort zu engagieren, sagte er im Dlf. Der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts karibischer Couleur" habe einen harten Bruch gezeigt mit anderen vorangegangenen sozialistischen Experimenten. Es habe sich nicht um ein Regierungsprojekt gehandelt, sondern auch um ein Projekt "der Basis der Bevölkerung oder der absoluten Mehrheit der Bevölkerung". In Venezuela seien unglaubliche viele verschiedenste Initiativen emporgeschossen und es gebe nach wie vor einen großen Anteil der Bevölkerung, der politisch aktiv sei.
Korruption tief in der Gesellschaft verankert
Jonas Holldack halte es für naiv zu glauben, dass linke Projekte nicht anfällig für Korruption oder autoritäre Führungsstile seien. Doch in Venezuela sei Korruption nicht erst im Laufe der bolivarischen Revolution aufgekommen, sondern schon "wesentlich älter und länger in der Gesellschaft verankert". Und die Anti-Korruptions-Kampagne der Chávez-Regierung seit 1998 habe diese Strukturen nicht durchbrechen können. Gleichzeitig seien durch den extremen großen Anstieg der Erdöleinnahmen und die Konzentration auf die Erdölexporte Korruptions- Anreize geschaffen worden. "Das hat aber nichts an und für sich mit einem linken Projekt oder der Regierung selber zu tun, sondern eher mit mangelnden Strukturen, die nicht geschaffen worden sind."
Durchwachsene Bilanz
Die Bilanz der bolivarischen Revolution bezeichnet Jonas Holldack als "durchwachsen". Es gebe "eine Glorifizierung der ersten Amtsjahre" bis etwa 2012, in denen die venezolanische Regierung unglabuliche Erfolge verzeichnet habe. Die Armutsrate sei zwischenzeitlich auf unter 20 Prozent gedrückt word, die extreme Armutsrate auf unter sieben Prozent. Es habe auch Alphabetisierungskampagnen gegeben, international anerkannt von der UNO und von der Welternährungsorganisation. Ein großer Kritikpunkt auch innerhalb der venezolanische Bevölkerung sei, dass man nicht darüber hinaus gedacht habe. So seien beispielsweise Währungsreserven nicht im ausreichenden Maße angelegt, sondern auch wieder weiterhin verprasst worden.
Mangelnde Diversifizierung der Wirtschaft
Eine wichtige Ursache für die derzeitige Lage in Venezuela sieht Jonas Holldack in der mangelnden Diversifizierung der Wirtschaft. Die nationale Wirtschaft sei niedergewirtschaftet worden, weil sie dem Druck des Weltmarktes nicht standhalten konnte. "Durch die billigen Importe, die möglich waren, war es eben schwierig für nationale Unternehmen, zu einem konkurrierenden Preis produzieren zu können und die sind damit im Endeffekt bankrott gegangen zum Teil." Die Abhängigkeit vom Erdöl gebe es nach wie vor und sei unter Umständen noch größer, als sie vor der ersten Wahl von Hugo Chávez gewesen sei. "Ich glaube, es hat nicht unbedingt mit einer sozialistischen Ausrichtung der Politik oder eine neoliberalen Ausrichtung zu tun, sondern eher mit der Rolle in der Weltwirtschaft des Landes."
Die Regierung hätte früher Schlüsse ziehen müssen
Die venezolanische Regierung hätte bei den Wahlen zum Parlament 2010 Schlüsse ziehen müssen, meint Jonas Holldack. Zum ersten Mal sei die absolute Stimmenverteilung etwa 50:50 gewesen. "In diesem Moment hätte eine gewisse Revision der Politik stattfinden müssen und man hätte gucken müssen, warum es überhaupt dazu kommt, dass die Opposition so nah rankommt, während bei Präsidentschaftswahlen der Unterschied zwischen Opposition und Regierung immer sehr, sehr deutlich war." Und spätestens ab der Krebsdiagnose bei Chávez "hätte man anfangen müssen, auch die Politik sozusagen selber zu diversifizieren". Man hätte anfangen sollen, Nachfolgerinnen aufzubauen und die Machtposition auf verschiedene Schultern zu verteilen.
Regierung mit dem Rücken zur Wand
Unter den momentanen Verhältnissen halte Jonas Holldack es für sehr schwer, aus diesen Lektionen Lehren zu ziehen. Die venezolanische Regierung stehe extrem unter Druck, quasi mit dem Rücken zur Wand und werde eher dazu aufrufen, dass man sich geschlossen hinter sie stelle, sich geschlossen verteidige gegen Angriffe vor allen Dingen von außen und dass man erst mal Ruhe ins Land bringe, bevor man überhaupt politische Projekte wieder durchführen könne.
Der Druck auf die Maduro-Regierung von außen sei im Laufe der Zeit immer stärker geworden. Doch man sehe auch in anderen Bereichen der Welt, dass es in der Regel nicht funktioniere, "dass man durch Sanktionen eine Regierung dazu bringt, auf seinen politischen Weg einzuschwenken".
Medialer Fokus dient politischen Interessen
Trotz all der derzeitigen unhaltbaren Zustände in Venezuela, die ein extremes Leiden der Bevölkerung hervorriefen, habe Jonas Holldack den Eindruck, dass die mediale Fokussierung auf Venezuela sehr stark eher politischen Interessen diene und weniger real der notleidenden Bevölkerung. "Wenn wir uns da anschauen, welche Zustände zum Beispiel in Haiti herrschen, zum Beispiel im Jemen herrschen, die in den Medien überhaupt nicht vorkommen, dann ist das ein bisschen ambivalent, davon zu sprechen, dass es in Venezuela eine humanitäre Krise gibt."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.