Als die Europäische Grundrechtecharta am 4. Juni 1999 in Auftrag gegeben wurde, hätten die Erwartungen kaum größer sein können. Die Bürger sollten sehen, dass es in Brüssel nicht nur um Milchpreise und Stahlquoten, um Binnenmarkt und Währungsunion geht, wie der damalige SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen noch Jahre später formulierte:
"Mit der Grundrechtecharta wird die EU wirklich nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern eine Wertegemeinschaft."
"Mit der Grundrechtecharta wird die EU wirklich nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern eine Wertegemeinschaft."
"Visitenkarte der Europäischen Union"
Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union wurde ein Konvent einberufen. 16 Europa-Abgeordnete, 30 Abgeordnete der nationalen Parlamente und 15 Regierungsvertreter aus allen Mitgliedsländern diskutierten ein Jahr lang unter Leitung des deutschen Verfassungsrichters und Altbundespräsidenten Roman Herzog, auf welchen Werten dieses Europa stehen sollte. Das Ergebnis machte rechte und linke Abgeordnete gleichermaßen stolz. Jo Leinen von der SPD und Ingo Friedrich von der CSU:
"Dass diese Grundrechtscharta das modernste und umfassendste Dokument der Rechte und Freiheiten von Menschen ist, die es international und auch national gibt. Diese Grundrechtscharta ist auch die Visitenkarte der Europäischen Union nach Innen und nach Außen."
"Ich sehe auch den Text zugeschnitten auf das 21. Jahrhundert. Der Konvent kann sich sicher mit diesem Text sehen lassen."
Doch bis die Charta nach mehr als acht Jahre endgültig verkündet wurde, hatte sie alle Höhen und Tiefen durchgemacht: Hochgelobt und verwässert, für allgemeingültig erklärt und kastriert, ins Licht gestellt und dann in Fußnoten versteckt. Selbst die Feierstunde am 12. Dezember 2007 im Europäischen Parlament in Straßburg war geprägt von emotionalen Reden, von tosendem Applaus und von wütenden Protesten. Der portugiesische Ministerpräsident José Socrates kämpfte sowohl mit den eigenen Gefühlen als auch mit denen der Gegner:
"Das ist ein historisches Datum für die EU. Und auch wenn jetzt viele schreien und die anderen am Sprechen hindern wollen, es ist ein entscheidender Schritt in der Geschichte der Europäischen Union. Und das ist für mich die wichtigste Zeremonie in meinem ganzen politischen Leben und eine Ehre, diese Charta zu unterzeichnen."
Initiative aus Deutschland: Neustart für Europa
Dass die Initiative für die Grundrechtecharta von Deutschland ausging, das war kein Zufall. Kurz vorher war nach 16 Jahren unter Bundeskanzler Helmut Kohl zum ersten Mal in der Geschichte eine rot-grüne Regierung gewählt worden. Die neue Regierung wollte einen Aufbruch zu mehr Bürgernähe und einen Neustart auch in Europa.
So wie der französische Präsident Emmanuel Macron heute eine europäische Konvention fordert, eine Art Neugründung der Europäischen Union, wie er sagt, so ähnlich wollten vor 20 Jahren auch Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer die Europäische Politik auf eine neue Grundlage stellen. Der EU-Gipfel am 3. und 4. Juni 1999 in Köln sollte der Startschuss sein.
Die meisten EU-Regierungen ließen sich mitreißen, manche auch, weil sie vor der anstehenden Ost-Erweiterung noch schnell Pflöcke einschlagen wollten. Eine ganze Reihe von Regierungen hatte Bedenken, ob die zehn ehemals kommunistischen Diktaturen die Lektionen der Demokratie ausreichend gelernt hätten. Deshalb wollten sie den Boden noch einmal klipp und klar abstecken, auf dem die Europäische Union auch in Zukunft stehen sollte.
Revolutionär und vorausschauend: Datenschutz als Grundrecht
Artikel 1 wurde vom Deutschen Grundgesetz übernommen: "Die Würde des Menschen ist unanatastbar". Doch die Charta geht über das Grundgesetz hinaus, wie Sylvie Yvonne Kaufmann, Konventsmitglied und Europaabgeordnete der Linken, bei der Vorstellung des Textes betonte:
"Weil erstmals ganz klar die individuellen Rechte jedes einzelnen gegenüber der Europäischen Union formuliert worden sind. Die Grundrechtecharta ist das erste europäische Dokument überhaupt, was von der Gleichrangigkeit der bürgerlichen, der politischen und der sozialen Rechte ausgeht."
Neben dem Recht auf soziale Unterstützung, dem Recht auf unternehmerische Freiheit und dem Recht aller Kinder auf Fürsorge, wurde auch der Schutz der persönlichen Daten festgeschrieben. Datenschutz als Grundrecht, das war revolutionär und vorausschauend. Das Recht auf unternehmerische Freiheit war vor allem für die Beitrittsländer gedacht, als Erinnerung, dass die Marktwirtschaft ein unverrückbarer Grundpfeiler der Europäischen Union ist.
Diskussion um Grundwerte: Gewinn für die EU
Allein die Diskussion um die europäischen Grundwerte sei ein Gewinn für die EU gewesen, meint Almut Möller von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, DGAP, die den Konvent damals beobachtet hat:
"Die Debatten, die man zu dieser Zeit geführt hat, gerade eben über die Fragen der Grundrechte, der Werte, was ist die Basis der Union, die zählten für mich zu den spannendsten. Denn da ging es tatsächlich ja auch schon um Fragen von Religiosität: Hat das einen Platz oder nicht? Und das sind genau die Fragen, die uns auch umtreiben müssen und die in der heutigen Europadebatte, in dem, was Menschen in den Mitgliedsstaaten bewegt, auf einmal sehr viel kontroverser wieder auf dem Tableau sind."
Großbritannien lehnt Charta ab
Doch die britische Regierung hatte von Beginn an Probleme mit der Grundrechtecharta. Seit die Europäische Union in den 80er-Jahren immer enger zusammengewachsen ist, seitdem hat London eine Reihe von so genannten Opt-Out-Regeln in Anspruch genommen. Großbritannien ist bei Schengen nicht dabei, nicht bei der Währungsunion und auch nicht bei den gemeinsamen Sozialgesetzen. Die Labour-Regierung unter Tony Blair fürchtete, über die Grundrechtecharta wieder stärker in die EU hineingezogen zu werden.
Zudem hat Großbritannien selbst keine geschriebene Verfassung und auch kein Verfassungsgericht. Die Vorstellung, dass britische Bürger vor dem europäischen Gerichtshof ihre Grundrechte einklagen könnten, das ging London zu weit. Europäische Gerichte dürften nicht wichtiger sein als britische, so Blair.
Britische Mitglieder des Konvents mühten sich, die Charta der Grundrechte möglichst vage zu halten. Am Ende lehnte Tony Blair die Charta dennoch ab. Als die anderen EU-Regierungen die Grundrechte im Dezember 2000 gegen den britischen Widerstand beschlossen, erklärte Blair, dass die europäische Grundrechtecharta nicht in Großbritannien gelte.
Erhoffte Symbolkraft bleibt aus
In Brüssel hofften damals viele, dass sich das irgendwie einrenken werde, wie die Abgeordnete der Linken, Sylvie Yvonne Kaufmann betonte:
"Großbritannien hat Vorbehalte hinsichtlich der Gerichtsbarkeit, der nationalen Gerichte und des Europäischen Gerichtshofes, angemeldet. Aber die Charta gilt erst mal, und wir werden ja dann sehen, wie die Rechte künftig ausgelegt werden."
Doch die erhoffte Symbolkraft als Herzstück der Europäischen Union konnte die Grundrechtecharta so kaum entfalten. Eine Charta, die nicht in allen EU-Ländern gleichermaßen anerkannt wird, hat wenig Kraft. Vorerst jedenfalls.
Zweite Chance für die Grundrechtecharta
14 Monate später, im Februar 2002, bekam die Grundrechtecharta eine zweite Chance. Für die anstehende Erweiterung der EU von 15 auf 27 Mitgliedsstaaten waren umfassende Strukturreformen nötig, damit die Europäische Union überhaupt handlungsfähig bleiben konnte. Doch die Regierungen konnten sich auf mehreren EU-Gipfeltreffen weder auf schlankere Entscheidungsverfahren, noch auf die Verteilung und Abgrenzung der neuen Aufgaben einigen.
In ihrer Not beauftragten sie erneut einen Konvent aus Parlamentariern und Regierungsvertretern. Diesmal unter Leitung des ehemaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d´Estaing. Der Auftrag an den "Konvent über Zukunft der Europäischen Union" war sehr allgemein gefasst, erinnert sich der damalige Sprecher des Konvents, Nikolaus Meyer-Landrut, heute deutscher Botschafter in Paris:
"Die Debatte hat ja dann sehr früh angefangen, dadurch, dass man eine eben öffentliche Debatte hatte, dass Parlamentarier daran beteiligt waren, die Themen nicht nur technisch zu diskutieren, sondern eben auch zu überlegen, was das für die zukünftige Europäische Integration bedeutet: Deswegen Debatten um Symbole, deswegen Debatten um den Charakter des Dokuments und dann auch relativ früh die Vereinbarung, von einem Verfassungsvertrag zu sprechen."
Wichtiger Bestandteil der Europäischen Verfassung
Eine Verfassung für die Europäische Union? Das war nicht das, was sich die EU-Regierungschefs vorgestellt hatten. Doch der Konvent entwickelte seine eigene Dynamik, angetrieben von einem fast 80-jährigen Giscard d´Estaing, der die EU bei dieser Gelegenheit vom Kopf auf die Füße stellen wollte:
"In den Römischen Verträgen steht kein Wort über Außenpolitik. Also darf man sich nicht wundern, dass es keine gemeinsame Außenpolitik gab. Wir werden zwei Dinge in die Verfassung einführen: Die Schaffung eines Außenministers und die Organisation des Rates im Hinblick darauf, die gemeinsame Außenpolitik zu definieren."
Unter den europäischen wie auch unter den nationalen Abgeordneten setzte sich rasch die Ansicht durch, dass die Grundrechtecharta in dieser Verfassung einen zentralen Platz bekommen müsse. Sie wurde gleich hinter Präambel und institutionellem Regelwerk als Kapitel II eingebaut.
Widerstand aus Frankreich und den Niederlanden
Bis Mai 2005 wurde die Europäische Verfassung in zehn der inzwischen 25 EU-Ländern ratifiziert. In den meisten Mitgliedsstaaten reichte die Zustimmung der Parlamente. Beim Referendum in Spanien sprachen sich 77 Prozent für die EU-Verfassung aus, eine überwältigende Mehrheit. Doch dann kippte die Stimmung. Vor den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden wurden die Proteste immer lauter:
"Wir müssen die Verfassung niederstimmen, das ist nicht die Verfassung für die arbeitende Mehrheit in Europa. Da steht nichts von einem Recht auf Arbeit sondern nur vom Recht eine Arbeit zu suchen. Diese Verfassung garantiert nicht das soziale Minimum in Europa."
"Das Verfassungsprojekt schreibt eine unerträgliche Situation fest. Da geht es nur um die Werte des Marktes und nicht um die menschlichen Werte, auch nicht um die kulturellen Werte."
Am 29. Mai 2005 lehnten 55,7 Prozent der Franzosen die EU-Verfassung ab[*], drei Tage später votierten auch die Niederländer dagegen. Während den meisten Franzosen die Verfassung zu rechts war, empfanden die Niederländer sie mehrheitlich als zu links, zu internationalistisch.
EU-Verfassung tot – aber nicht beerdigt
Die Verfassung war an vielen Stellen halbherzig, meint der ehemalige Sprecher des Verfassungskonvents und heutige Botschafter in Paris, Nikolaus Meyer-Landrut, auch das habe zu den Niederlagen beigetragen. Schon das Wort Verfassungsvertrag statt einfach nur Verfassung, sei ein Kompromiss gewesen:
"Die Rücksicht auf Großbritannien, die über keine geschriebene Verfassungstradition verfügen, hat natürlich dazu geführt, dass wir nicht so weit gegangen sind, wie wir hätten gehen können: Zu einer wirklichen Verfassung, die dann auch in den kontinentaleuropäischen Ländern vielleicht besser verstanden worden wäre. Die Botschaft wäre klarer gewesen."
Nach der deutlichen Ablehnung in zwei EU-Gründerstaaten war die Verfassung tot. Aber nicht beerdigt, wie der damalige Chef der Sozialdemokraten im Europaparlament, Martin Schulz, betonte:
"Plan B kann nur so aussehen wie bei allen europäischen Krisen. Da wird von vorne wieder ein neuer Anlauf genommen."
Die Grundrechtecharata und der Vertrag von Lissabon
Die Regierungen verordneten sich eine Denkpause, bevor über einen neuen Anlauf gesprochen werden sollte. Gleichzeitig schalteten sie die Europäische Union in den Notfallmodus. Damit die zu diesem Zeitpunkt bereits um 10 Länder vergrößerte Europäische Union überhaupt weiter funktionieren konnte, wurden die wichtigsten Artikel der Verfassung in einfache Verträge gepackt und beim EU-Gipfel in Lissabon von den Regierungen beschlossen.
Aus dem allgemein verständlichen Verfassungstext wurden wieder umständliche und auf verschiedene Dokumente verstreute Paragraphen. Die Grundrechtecharta wurde wieder ausgegliedert und in Fußnoten und Querverweise gepackt. Und aus klaren Begriffen wurden bürokratische Wortmonster. Der Europäische Außenminister etwa wurde zum "Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik."
[*] Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle haben wir im Text Fehler beim Datum und beim Ergebnis der Abstimmung korrigiert. Die fehlerhafte Audiofassung wurde gelöscht.