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20 Jahre Hochschulreform
"Viele vernachlässigte Zielsetzungen des Bologna-Prozesses"

Der Bologna-Prozess habe einiges Positive erreicht, aber auch einige Ziele verpasst, sagte Andreas Keller von der GEW im Dlf. Man sei noch nicht am Ziel der Reform und auch Studiengänge wie Medizin oder Jura sollten einige Aspekte von Bologna integrieren.

Andreas Keller im Gespräch mit Kate Maleike |
Totale von oben auf den Hörsaal mit Studierenden und dem Dozenten am Pult
Andreas Keller will den Bologna-Prozess nicht auf die Bachelor-Master-Umstellung reduziert wissen (picture alliance / Stefan Puchner/dpa)
Kate Maleike: Also es ist noch eine Menge möglich und der Bologna-Prozess kann sich und sollte sich weiterentwickeln. Wir sind verbunden mit Andreas Keller, der bei der GEW im Bundesvorstand für die Hochschulen und die Forschung zuständig ist und gerade in Bologna dabei ist bei dem Jubiläumstreffen der Konferenz, die heute beginnt und bei der man sich auch austauschen wird und debattieren wird, wie der Bologna-Prozess weiterentwickelt wird. Erst mal schöne Grüße nach Bologna!
Andreas Keller: Hallo Frau Maleike, ich grüße zurück!
"Mangelnde Durchlässigkeit vom Bachelor- zum Masterstudium"
Maleike: Herr Keller, Sie haben mit der GEW zusammen den Bologna-Prozess von Anfang an begleitet, auch kritisch begleitet. Wo, sagen Sie denn, steht er heute, 20 Jahre danach?
Keller: Also der Bologna-Prozess hat einiges Positive erreicht, weil man redet heute über die Qualität von Lehre und Studium. Das war vor 20 Jahren nicht der Fall, und man kann auch ein Stück weit darauf vertrauen, dass Studienabschlüsse, Studiengänge in anderen Ländern mit denen in Deutschland vergleichbar sind, und das erleichtert die Mobilität.
Aber auf der anderen Seite wurden auch Fehler gemacht, gerade bei der Umsetzung der Bologna-Reform in Deutschland haben die Länder einiges auf Bologna draufgepackt, was eigentlich vor 20 Jahren gar nicht verabredet war. Also ein großes Problem ist zum Beispiel die mangelnde Durchlässigkeit vom Bachelor- zum Masterstudium.
Solange man nicht in allen Bachelorstudiengängen sichergehen kann, dass man auch wirklich einen Job kriegt auf dem Arbeitsmarkt, ist es verantwortungslos, dann die Studierenden mit dem Bachelorzeugnis auf die Straße oder auf den Arbeitsmarkt zu schicken. Deswegen ist es ein ganz zentrales Defizit und eine Forderung der GEW, wir brauchen einen freien Zugang zum Masterstudium für alle, die weiterstudieren wollen.
Maleike: Also 2019 ist der Gedanke des gemeinsamen Hochschulraums ja auch in einer Zeit unterwegs, in der Europa selbst vor der Zerreißprobe steht. Was sind denn jetzt die wichtigsten Weichen, die gestellt werden müssen, damit wir wirklich von einem gemeinsamen Hochschulraum sprechen können?
Keller: Das, was Sie jetzt ansprechen, ist in der Tat auch Thema, was hier in Bologna an den zwei Tagen Feierlichkeit eine große Rolle spielt, nämlich gibt es so etwas wie Grundwerte des europäischen Hochschulraums, die dann in Zukunft stärker weiterentwickelt und gepflegt werden müssen, auch um die europäische Identität zu stärken.
Interessanterweise werden hier Grundwerte genannt, nicht nur die Wissenschaftsfreiheit oder die Hochschulautonomie, sondern auch die Mitbestimmung von Studierenden und Beschäftigten an Hochschulen. Das ist ein Grundwert des Hochschulraums, wo wir es als GEW auch begrüßen würden, wenn man das stärker in den Mittelpunkt stellt, damit es hier eine gemeinsame Identität, auch ein Miteinander aller Hochschulmitglieder gruppenübergreifend in Zukunft gibt und so auch Europa zusammengehalten werden kann
"Eine Herausforderung, eine gemeinsame Entwicklung hinzukriegen"
Maleike: Gestartet ist der Bologna-Prozess ja mit 29 Staaten, inzwischen sind es 49, also allein an Mitgliedern ist da auch eine positive Bilanz zu verzeichnen, aber kann man denn zum Stand heute davon ausgehen, dass in diesen 49 Mitgliedsländern ein gemeinsamer Hochschulraum tatsächlich existiert? Sie hatten es vorhin gesagt, dass man zum Beispiel – das waren ja die Werte, die vereinbart waren – Mobilität fördert, dass man die Anerkennung der Studienabschlüsse von Land zu Land anerkennt und dass man gemeinsam unterwegs ist. Ist das gegeben?
Keller: Nein, das ist, glaube ich, noch nicht gegeben. Das ist eine Herausforderung, hier auch eine gemeinsame Entwicklung hinzukriegen. Es gibt da sehr unterschiedliche Länder, die da zusammengeführt werden. Um gerade noch mal auf das Beispiel der Wissenschaftsfreiheit oder der akademischen Freiheit zurückzukommen: Wir haben Länder wie die Türkei oder Ungarn im europäischen Hochschulraum im Bologna-Prozess mit drin, ie die Wissenschaftsfreiheit nicht ernstnehmen, wo Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler etwa in der Türkei entlassen werden, wenn sie sich für Frieden einsetzen oder in Ungarn, wo man versucht, die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken.
Das ist ein Beispiel, das deutlich macht, dass es hier ganz unterschiedliche Verständnisse auch der gemeinsamen Verabredungen gibt. Es ist extrem wichtig, dass man hier nicht zwei unterschiedliche Geschwindigkeiten in der Hochschulreform hat, sondern alle mitnimmt, und daher begrüßen wir es, dass man sich nicht immer neue Ziele vornimmt in Bologna, sondern jetzt auch erst mal eine Phase hat, wo man Ziele in den Mittelpunkt rückt, die bisher vernachlässigt worden sind.
Also etwa die Grundwerte, aber auch Fragen wie die Unterstützung der Lehrenden, denn in der Vergangenheit hat man über Studierende, über Hochschulleitungen, über Regierungen geredet, dass es aber auch Lehrende gibt, Beschäftigte, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber auch Professorinnen und Professoren, die diese Form umsetzen müssen. Das hat man vergessen, und darum ist für uns ein wichtiger Punkt, der auf die Agenda gehört, wie unterstützen wir die Lehrenden, damit sie alle diese zusätzlichen Aufgaben auch schultern und qualitätsvoll erledigen können.
"Bei einigen Studiengängen mit der Brechstange vorgegangen"
Maleike: Sie hatten das ja angedeutet, dass die einzelnen Bundesländer sehr viel in den Bologna-Prozess reingepackt haben. Wo stehen wir denn in Deutschland, was den Bologna-Prozess angeht, gerade?
Keller: In Deutschland haben wir eigentlich, meines Erachtens, einen Widerspruch gehabt bisher, dass man bei einigen Studiengängen mit der Brechstange vorgegangen ist. Also es konnte nicht schnell genug gehen, Bachelor und Master einzuführen und, wie gesagt, auch nicht mit der Garantie verbunden, dass alle weiterstudieren können, die wollen. Man hat das zum Beispiel im Lehramt eingeführt ohne Rücksicht auf Verluste in einigen Bundesländern.
Kein Land stellt einen Bachelor-Lehrer ein, zum Glück, aber auf der anderen Seite werden Bachelor-Lehrer ausgebildet und können unter Umständen nicht weiterstudieren.
Das ist das eine, aber auf der anderen Seite gibt es Fächer, die man ganz selbstverständlich außen vorlässt: Medizin, Pharmazie, Rechtswissenschaft. Es ist gar keine Diskussion, ob hier nicht auch bestimmte Aspekte der Bologna-Reformen ihren Sinn hätten. Man hat hier so eine Gleichzeitigkeit von zwei Entwicklungen, und meines Erachtens wäre es wichtig, hier einfach besonnener vorzugehen, das heißt, dort, wo es Probleme bei der Umsetzung gibt, dann vielleicht auch das Tempo ein bisschen rauszunehmen, mit Studierenden und Lehrenden zu reden, aber auf der anderen Seite gewisse Vorteile, wie Qualitätssicherungssysteme, die wir über die Akkreditierung haben, dann auch auf Studiengänge zu übertragen, die bisher davon verschont geblieben sind.
Maleike: Was würden Sie denn denjenigen sagen, die sagen, na ja, der Bologna-Prozess, also der ist doch eigentlich abgeschlossen, wir haben doch fast alles umgestellt? Das hat vor 20 Jahren angefangen, und im Moment merken wir davon nichts mehr.
Keller: Wenn man den Bologna-Prozess auf Bachelor, Master verkürzt, dann mag das sein, dass das, abgesehen von einigen Inseln, einigen großen Inseln, wo man Bachelor, Master nicht hat, mag das sein, dass das so ist, aber es gibt viele vernachlässigte Zielsetzungen des Bologna-Prozesses, wo wir ganz am Anfang stehen: etwa – das hatte ich jetzt noch nicht angesprochen – die soziale Dimension. Das ist eine ganz wichtige Vision von Bologna, die Mission, dass die Studierendenschaft die soziale Diversität der Gesamtgesellschaft widerspiegeln soll, dass also genauso viele Arbeiterkinder oder Studierende mit Familie oder Studierende mit Berufserfahrungen an den Hochschulen sind, wie wir sie auch draußen haben. Da steht auch Deutschland ganz am Anfang, ist Schlusslicht, was die Entwicklung angeht, und deswegen ist mein Plädoyer, dass wir diese Zielsetzungen jetzt endlich verbindlich in Angriff nehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.