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20 Jahre nach dem Kosovo-Krieg
Entschädigung für die Opfer sexueller Gewalt

Vor 20 Jahren endete der Krieg im Kosovo. Während des Krieges kam es zu Vergewaltigungen von schätzungsweise 20.000 Kindern, Frauen und Männern. Die Überlebenden schwiegen - sexuelle Gewalt ist ein Stigma im Kosovo. Das könnte sich ändern, denn nun können Betroffene eine Entschädigung beantragen.

Von Sonja Ernst, Serbeze Haxhiaj, Hilma Unkic |
Männer und Frauen sitzen, nur halsabwärts fotografiert, im Kreis
Bei der Frauenrechtsorganisation Medica Gjakova treffen sich Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt und sprechen über eine Entschädigungsrente (imago images / ZUMA Press / Le Pictorium / Chris Huby)
Arta sitzt auf einem Sofa. Fast versinkt sie darin. Sie ist schmal, Mitte 50. Wirkt ruhig und bedacht. In Wahrheit heißt sie anders. Auch die anderen sechs Frauen, die neben ihr sitzen, wollen ihre Namen nicht nennen. Es braucht genug Mut, um zu reden.
Die Frauen treffen sich regelmäßig hier bei Medica Gjakova – einer Frauenrechtsorganisation im Kosovo. Zurzeit sprechen sie oft über eine Sache: die Anerkennung als Überlebende sexualisierter Kriegsgewalt – und eine damit verbundene Rente. Diese Entschädigung gibt es erst seit gut einem Jahr: 19 Jahre nach Kriegsende.
Arta erhält die Rente. 230 Euro im Monat, das entspricht dem mittleren Einkommen von Frauen im Kosovo. Sie weiß noch, als Medica Gjakova anrief und sagte: Dein Antrag ist bewilligt. "In dem Moment war ich schockiert, aber auch froh. Ich dachte, hoffentlich siegt jetzt die Gerechtigkeit – und endlich erhalten wir Unterstützung. Aber immer, wenn wir diese Rente bekommen, erinnern wir uns an das, was wir erlebt haben. Alles kommt dann wieder zurück."
Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe
Arta wurde während des Kosovo-Krieges Opfer sexueller Gewalt. So wie schätzungsweise insgesamt 20.000 Mädchen, Frauen und auch Männer. Sexuelle Gewalt wurde zur Kriegswaffe – wie zuvor im Bosnien-Krieg.
Im Kosovo brach der Konflikt 1998 aus. Kosovo gehörte als Provinz zu Restjugoslawien, dazu gehörten noch Serbien und Montenegro. Die Mehrheit im Kosovo wollte Unabhängigkeit. In Belgrad wollte man keinen souveränen Kosovo. Das serbisch-jugoslawische Militär reagierte mit Terror und Vertreibung. Tausende Zivilisten wurden getötet; Hundertausende waren auf der Flucht. Im März 1999 intervenierte die NATO mit Luftangriffen. Im Juni endete das Bombardement und damit der Kosovo-Krieg. Belgrad zog die Streitkräfte zurück.
Vergewaltigung gilt als Schande
Seit Ende des Krieges haben die Opfer sexueller Gewalt geschwiegen. Oft wissen nicht einmal ihre Familien von ihrem Trauma. Denn Vergewaltigung gilt als Schande. In den vergangenen 20 Jahren wurden die Taten weitestgehend tabuisiert. Das könnte sich mit dem Entschädigungs-Programm ändern.
Blerta hofft auf einen Wandel. "Für uns Frauen ist es wichtig, dass die Aufarbeitung weitergeht. Und dass alle Frauen im Kosovo eine Wiedergutmachung erfahren. Sie sollen nicht mehr diese "Enge" spüren müssen – und dass über sie geredet wird. Sie sollen ihre Rechte erhalten und ordentlich behandelt werden."
Auch Edona hofft auf ihr Recht. Doch ihr Antrag wurde abgelehnt. Nach 20 Jahren ist es schwierig, Beweise vorzulegen. Die Opfer gingen damals nicht zur Polizei und stellten Strafanzeige. Edona war für ein Gespräch bei der Kommission, doch ihre Geschichte konnte sie nicht erzählen. "Als ich vor der Kommission sprechen sollte, war da ein Mann. Aber was ich erlebt habe, davon weiß kein Mann – außer meinem Ehemann. Und auch meinem Mann habe ich nicht alles erzählt, weil ich es nicht kann. 19 Jahre lang habe ich es für mich behalten und mit niemandem darüber geredet."
Edona hat Widerspruch gegen die Entscheidung eingelegt und vermutlich wird sie damit durchkommen: Es gibt Zeugen der Vergewaltigung.
Bisher über 1.000 Anträge eingegangen
Die Kommission hat ihren Sitz in Pristina, der Hauptstadt des Kosovo. Sie untersteht dem Ministerium für Arbeit und Soziales – und prüft alle Anträge auf Anerkennung als Opfer sexualisierter Gewalt während des Kosovo-Krieges.
Minire Begaj leitet die Kommission. Sie sitzt am Schreibtisch in ihrem Büro. Das Prüfen der Anträge, die Details der Taten, sei hart, sagt sie. Aber dass es nun endlich Entschädigung gebe, stärke sie. "Unsere Arbeit läuft gut. Trotz der Komplexität der ganzen Sache, trotz des sensitiven Themas. Wir als Kommission versuchen sehr professionell zu arbeiten und sehr ehrlich und objektiv alle Fälle zu behandeln, die bislang eingegangen sind."
Bislang sind es über 1.000 Anträge. Das ist ein Erfolg – auch im Vergleich zu Bosnien-Herzegowina. Viele Opfer werden aber wohl nie einen Antrag stellen – die Angst ist zu groß, dass ihr Umfeld von ihrem Trauma erfährt. Auch deshalb werden alle Anträge absolut vertraulich behandelt. Dabei helfen auch Organisationen wie Medica Gjakova: Die Überlebenden können alle Dokumente dort lassen.
"Noch etwas ist von großem Interesse. Anders als in Bosnien haben wir die Administration und Anerkennung von der strafrechtlichen Verfolgung getrennt. Das ist vielleicht der Schlüssel zum Erfolg."
20 Jahre Schweigen
Das heißt: Alle, die einen Antrag stellen, entscheiden, ob es einen Strafprozess geben soll. Und viele wollen das nicht: 20 Jahre Schweigen ist eine lange Zeit. Und wie erfolgreich ist es, nach 20 Jahren solch einen Prozess zu gewinnen? Doch das heißt auch, dass die Verbrechen nicht aufgeklärt werden.
Zurück bei Medica Gjakova. Das Gruppentreffen ist vorbei. Besnik sitzt nun auf einem der Sofas. Auch er wurde während des Krieges vergewaltigt. Dass jemand davon erfährt, macht ihm große Angst. Deshalb will er seinen echten Namen nicht nennen und seine Stimme soll nicht zu hören sein.

"Ich möchte meine Geschichte gerne erzählen, aber das geht nicht. Sie würden mich verurteilen und mit dem Finger auf mich zeigen. Ich wäre dann nichts mehr wert – so wie Müll."
Sie, das sind die eigene Familie und die Nachbarn aus dem Dorf. Besnik rutscht ungeduldig hin und her. Steht auf, setzt sich wieder. Er ist mehrfach traumatisiert. Als sein Dorf überfallen wurde, sah er Häuser brennen; Menschen wurden getötet, erzählt er. Und dass er selbst vergewaltigt wurde, lässt ihn auch nicht los. Auch Besnik hat einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Für ihn ist die Rente wichtig, er kann schon lange nicht mehr richtig arbeiten. Aber zugleich hat der Antrag wieder alles hochkommen lassen.

"Wenn Leute über die Renten reden, dann habe ich sofort Angst, dass ich auffliege. Dass doch jemand etwas weiß. Seit ich den Antrag gestellt habe, bin ich sehr gestresst. Ich warte. Das geht alles viel zu langsam. Und wir brauchen das Geld."
Besnik wünscht sich, dass sich die Überlebenden sexueller Kriegsgewalt nicht mehr verstecken müssen – Frauen wie Männer. Die Kommission und die Rente sind ein wichtiger Schritt, aber deutlich wird auch, dass Aufarbeitung und Entschädigung früher beginnen müssen – wenn der Krieg endet.
*Diese Reportage entstand im Rahmen des "Reporters in the Field"-Programms, das von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt wird.