"Herzlich willkommen, wir begrüßen heute einen besonderen Gast an unserer Hochschule, willkommen Martin Mejstrik."
Der kleine Hörsaal platzt aus allen Nähten. Rund 100 Studenten der Prager Filmakademie haben sich in die engen Bankreihen gequetscht, um mit Martin Mejstrik ins Gespräch zu kommen. Im November 1989 war er selbst noch Student und einer der führenden Köpfe der Protestbewegung.
Martin Mejstrik hat einen Dokumentarfilm mitgebracht. Bilder vom 17. November 1989: Vor 20 Jahren demonstrierten Zehntausende Studenten friedlich im Zentrum von Prag für gerechtere Studienbedingungen und gegen die politische Zensur an ihren Hochschulen. Sie wurden von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Das war der Beginn der Revolution.
Ob das Vorgehen der Polizisten je untersucht worden sei, möchte eine Studentin anschließend wissen.
"Ich habe keine genauen Zahlen zur Polizei, insgesamt wurden im Zusammenhang mit der kommunistischen Diktatur 122 Leute angeklagt. Acht von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, die jedoch nicht mehr als drei Jahre betrugen. Die meisten wurden vorzeitig entlassen."
Die Diskussion dauert einige Stunden, erst am späten Abend lassen die Studenten ihren Gast sichtlich beeindruckt ziehen:
Student Marek: "Einerseits läuft einem da ein kalter Schauer über den Rücken, und man sagt sich: Gott sei Dank leben wir nicht mehr in einer solch barbarischen Zeit! Anderseits finde ich, dass man damals etwas hatte, wofür es sich lohnte zu kämpfen. Dieses Treffen war für uns eine große Inspiration."
Studentin Alena: "Unsere kommunistische Vergangenheit wird bei uns meist nicht mit besonders viel Tiefgang diskutiert. Die Leute vergessen schnell, und das ist das größte Problem. Wenn wir vergessen, wer die Kommunisten waren, dann wird es wirklich schlimm."
Student Tomáš: "Der größte Fehler war, dass wir damals nicht mit den Kommunisten und ihren Funktionären abgerechnet haben. Sie machen bis heute weiter Politik. Ich hoffe, dass wir irgendwann die Kraft haben, das zu ändern. Und überhaupt wäre es gut, wenn wir mehr junge Leute in der Politik hätten, dann würde einiges anders laufen."
Martin Mejstrik ist mit dem Abend zufrieden. Das Erbe der Samtenen Revolution darf nicht in Vergessenheit geraten – das ist seine Mission. Auch für ihn selbst ist der Jahrestag ein Anlass, sich zu erinnern. Zum ersten Mal nach 20 Jahren besucht Mejstrik den Ort, wo seine Geschichte als Studentenführer angefangen hat: Er macht sich auf den Weg in die Theaterakademie in der Prager Altstadt. Ein wenig befremdet steht er vor dem frisch renovierten Barockgebäude in der schmalen Retezova-Gasse und findet den Eingang nicht. Wenigstens einer weiß hier noch Bescheid, schmunzelt er: der Pförtner:
Mejstrik zu Pförtner: "Guten Tag, wo finden wir denn den Raum, wo damals das Streikkomitee saß? Er war irgendwo im zweiten Stock."
Pförtner: "Geradeaus, dann links durch die blaue Glastür und die Treppe rauf, dann werden Sie ihn schon finden."
Mejstrik: "Hier dieser lang gezogene Saal – das ist er. Und dann hatten wir noch einen größeren Seminarraum, wo wir tagsüber saßen und gearbeitet haben, hier waren die Telefone und so weiter. Und überall lagen Schlafsäcke herum, wir haben hier ja auch geschlafen, immer höchsten zwei bis drei Stunden am Tag - und das zwei Monate lang. Ich verstehe überhaupt nicht, wie wir das ausgehalten haben."
Nach den Übergriffen der Polizei am 17.11. standen die Studenten unter Schock. Schon tags darauf besetzten sie die Universitätsgebäude und forderten Aufklärung.
"Schon am Samstag, also am 18. November, haben wir unsere erste Erklärung geschrieben, dass wir keinen Dialog mit der Macht mehr wollen. Unsere erste Forderung war, das Massaker auf der Narodní Trída, der Nationalstraße zu untersuchen. Und im Laufe des Sonntags haben wir weitere Forderungen formuliert, und zwar politische: den Rücktritt des Politbüros, die Auflösung der Kommunistischen Partei und freie Wahlen."
Den Dissidenten um Vaclav Havel, die seit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 gegen das Regime aufbegehrten, schlossen sich Zehntausende Studenten und Künstler an. Das war der Wendepunkt, sagt Simon Panek, der jüngste unter den damaligen Studentenführern:
"Die Kommunisten hatten schon bei vielen anderen Demonstrationen Gewalt eingesetzt. Der Unterschied war, dass der 17. November eine so große Studentendemonstration war. Die kommunistische Propaganda konnte diesmal einfach nicht mehr behaupten, das seien alles Westagenten, die unser schönes Leben hier stören sollten. Denn es waren 30.000 Studenten."
Am 19. November wurde unter Vaclav Havels Leitung das Bürgerforum gegründet. Und die Studenten um Panek und Mejstrik improvisierten eine abenteuerliche Kampagne, um die Arbeiter in den Fabriken und die Menschen in der Provinz zu mobilisieren:
"Unser erster Plan war, die Menschen außerhalb Prags zu erreichen. Deshalb haben wir jeden Tag Dutzende oder sogar Hunderte von Autos in die Provinz geschickt – mit Studenten, Schauspielern und Künstlern, die sich den Streiks angeschlossen hatten. Alle sollten erfahren, was am 17.11. in Prag geschehen war."
Die Ereignisse überschlugen sich: Am 25. November strömten 750.000 Menschen bei klirrender Kälte auf den Prager Letna-Hügel, um die Forderungen des Bürgerforums und seiner slowakischen Schwesterorganisation "Öffentlichkeit gegen Gewalt" zu unterstützen.
Die Kommunisten ergriffen regelrecht die Flucht. Am 10. Dezember zogen die Dissidenten in die neu gebildete Regierung unter dem Kommunisten Marian Calfa ein. Der leistete bei den Verhandlungen mit Havels Team keinen Widerstand mehr, erinnert sich Simon Panek.
"Das Überraschendste für mich war zu sehen, wie leicht es ist. Wir hatten die Bildung einer neuen Regierung gefordert, den Rücktritt von Präsident Husak, den Einzug von Kandidaten des Bürgerforums ins Parlament und die Wahl Havels zum Präsidenten. Und auf diese vier Hauptpunkte hat man sich praktisch innerhalb einer Stunde geeinigt. Calfa saß da nur und sagte, jaja, das machen wir so. 100 Abgeordnete austauschen – na klar. Es war unglaublich."
Innerhalb eines Monats hatte die Opposition den kommunistischen Machtapparat der CSSR demontiert. Am 29.12. wurde Vaclav Havel von der Bundesversammlung einstimmig zum Präsidenten gewählt. Der glanzvolle Schlusspunkt der Samtenen Revolution.
Wie die beiden einstigen Studentenführer Martin Mejstrik und Simon Panek, haben auch die übrigen Alt-89er in diesen Wochen einen vollen Terminplan. Plötzlich sind sie wieder gefragt. Die wenigsten von ihnen sind noch in der Politik aktiv. Da sind die Idealisten – wie auch andernorts in Europa - längst den Profis, den Experten der Macht, gewichen. Doch fast alle spielen bis heute eine herausragende Rolle in der tschechischen Gesellschaft – nicht anders als ihr einstiger Spiritus Rector Vaclav Havel. Martin Mejstrik hat sich zehn Jahre lang als parteiloser Abgeordneter im Senat für die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit eingesetzt, blieb aber ein argwöhnisch beäugter Einzelkämpfer; Simon Panek ist heute Chef der größten tschechischen Hilfsorganisation "Mensch in Not", die sich weltweit in humanitären Projekten engagiert, Vaclav Maly ist heute der Prager Weihbischof, Alexander Vondra war bis vor Kurzem noch Tschechiens Europaminister. Und dann ist da noch Michael Kocab: Der Rocksänger und Ex-Dissident ist dieses Jahr wieder in die Politik zurückgekehrt – als Minister für Minderheiten.
Wer den Mann bei seinen Rockkonzerten auf der Bühne herumspringen sieht, kann sich kaum vorstellen, dass er sich am Kabinettstisch besonders staatstragend benimmt. Da wird der Geist von 1989 wieder lebendig: Als Vaclav Havel und seine Mitstreiter – eine bunte Truppe von Schauspielern, Schriftstellern und Musikern - in die Prager Burg einzogen, war es eine Art Landung auf dem Mond. Die kalte Machtzentrale der Kommunisten füllte sich mit Leben. Um sich in dem Labyrinth der Flure und Säle zurechtzufinden, waren die Dissidenten mit Wollfäden unterwegs, die ihnen immer wieder den Weg zurück wiesen.
Michael Kocab gehörte 1989 zum engsten Kreis um Havel. 1991 verhandelte er mit den sowjetischen Generälen über den Abzug der russischen Soldaten. Ein junger Typ in Jeans und T-Shirt und die versteinert wirkenden Sowjets: Dieses Bild hat sich ins Gedächtnis der Tschechen eingebrannt.
"Ich war der Vorsitzende der Kommission, die den Abzug der russischen Truppen kontrollieren sollte, und das war das größte Abenteuer meines Lebens. Aus historischer Sicht meine größte Aufgabe. Wenn eine Besatzungsarmee abziehen muss, die einem 20 Jahre lang das Leben schwer gemacht hat, und man selbst steht an der Spitze dieses Prozesses - das ist nicht zu übertreffen. Damals hat sich Politik gut angefühlt, egal wohin ich kam, überall gab es große Unterstützung. Davon kann ich heute nur träumen."
Für Michael Kocab ist der Prager Letna-Hügel über den Ufern der Moldau der wichtigste Ort der Erinnerung. "Erst als die Proteste hier oben angekommen waren", sagt er, "waren die Kommunisten faktisch entmachtet." Jetzt entsteht hier ein gigantischer Autotunnel. Die größte Baustelle Tschechiens – das passt, meint der Minister:
"Unsere Demokratie ist eine Dauerbaustelle. Und der riesige Tunnel hier wird schneller fertig sein, als wir eine wahrhaftige Demokratie bekommen und uns von Klientelismus und Korruption befreien. Die 20-jährige Entwicklung zeigt, dass das Erbe von Sozialismus und Totalitarismus tiefer in uns steckt, als wir erwartet haben."
Michael Kocab hat auch heute kein Problem damit, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Er ist ein bunter Vogel im Prager Politikbetrieb, das findet auch er selbst.
"Ich kombiniere Politik und Musik - wir spielen weiter, ich hüpfe weiter auf der Bühne herum, und es ist mir völlig egal, ob irgendwer das komisch findet. Wenn ich auftrete, werde ich als Musiker wahrgenommen. Und im Konzert interessiert es niemanden, ob ich Minister bin oder nicht. Jetzt kümmere ich mich als Minister für Menschenrechte um die Relikte aus dem Jahr 1989 –, Menschenrechte und Minderheiten, das sind zwei wichtige Themen. Ich verstehe das als Dienst am Volk, ich brauche weder Geld noch Ruhm. Berühmter werde ich ohnehin nicht mehr."
Tschechiens originellster Minister hat nicht resigniert. Er verficht die Ideale von damals und sieht die Probleme von heute.
"Wir müssen zur Botschaft von Václav Havel zurückkehren. Havel wusste, dass mit dem Umbruch vom totalitären Sozialismus zur Demokratie auch eine Wiederkehr geistiger Werte kommen muss. Diesen Prozess hat unser jetziger Präsident Václav Klaus mit seinem Ausspruch 'das Geld steht an erster Stelle' vernichtet - ein mörderischer Satz."
Dem Prager Bischof Vaclav Maly spricht der Minister aus der Seele. Die beiden waren 1989 enge Weggefährten. Auch Maly, damals ein junger Priester, gehörte zum harten Kern der Dissidenten. Er moderierte im November 1989 die großen öffentlichen Versammlungen auf dem Wenzelsplatz und ist für viele Tschechen bis heute die Stimme der Revolution geblieben:
Tschechien ist das atheistischste Land Europas. Doch wenn Vaclav Maly predigt, ist die Kirche voll. Heute hält er die Messe in einer nüchternen Betonkirche in einer Prager Plattenbausiedlung. Er spricht von Toleranz, Freiheit und Verantwortung und beklagt die wachsende soziale Kluft im Land – das alles klingt noch ein bisschen wie damals.
Den Rebellen sieht man dem Bischof nicht mehr an, doch wenn er über die aktuelle tschechische Politik spricht, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Ein entscheidendes Thema für ihn – und für alle anderen früheren Dissidenten - ist ihr ewiger Gegenspieler Vaclav Klaus mit seiner umstrittenen Europapolitik:
"Ich kritisiere Vaclav Klaus, ich verstehe das nicht, er ist ein gebildeter Mann, aber er ist ein Demagoge. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist eine Chance für uns, ein bisschen mit zu entscheiden und sich nicht auszuschließen aus diesem Bund. Ich muss sagen, wesentlich bin ich nicht mit Präsident Vaclav Klaus einverstanden."
Dabei sind der Präsident und der Bischof Nachbarn. Das erzbischöfliche Palais, in dem Maly sein Büro hat, befindet sich direkt am Prager Burgplatz, neben dem Amtssitz von Vaclav Klaus. Nicht unbedingt die beste Nachbarschaft, lächelt Maly.
"Wirklich, das ist peinlich. Er ist Präsident und er muss das Interesse des ganzen Staates und der ganzen Gesellschaft verteidigen. Nicht nur seine Privatanschauungen."
Dem würden wohl alle früheren Dissidenten zustimmen – nicht nur der musikalische Minister Michel Kocab:
"Václav Klaus erschreckt die Leute immer wieder damit, dass wir durch die EU angeblich unsere Freiheit verlieren. Natürlich erfordert jeder Bund auch den Verzicht auf ein Stück Freiheit – zugunsten höherer Werte. So ist es ja auch in der Ehe: Sie können sich nicht mehr so frei auf Partys bewegen und die Sau rauslassen wie früher. Dafür haben sie Familie und Kinder, und das Leben zeigt Ihnen wichtigere Werte. Ähnlich ist es mit der Europäischen Union: Wir verzichten auf etwas – zum Beispiel inkompetente Entscheidungen zu den Menschenrechten und der Sozialpolitik zu treffen – dafür bekommen wir Know-How und Impulse für unsere weitere Entwicklung."
Und in einem weiteren Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Man hat 1989 auch Fehler gemacht. Der Entscheidende war, mit den Kommunisten nicht härter ins Gericht zu gehen, sagt der frühere Studentenführer Simon Panek:
"Das entsprach nun mal der Stimmung in der Gesellschaft damals: Lasst sie laufen. Aber das war ein entscheidender Fehler. Nicht weil die Kommunisten nicht bestraft worden sind, und auch nicht, weil sie bei uns immer noch im Parlament sitzen. Der entscheidende Aspekt ist, dass der Gerechtigkeitssinn der Bürger dadurch gelitten hat - durch diese große Geste des Verzeihens. Und das war ein Fehler."
Martin Mejstrik, der in diesen Wochen mit jungen Leuten über die damaligen Ereignisse diskutiert, sieht das noch drastischer:
"Dass wir nicht fähig waren, die Partei aufzulösen und zu sagen, dass sie eine verbrecherische Organisation war, das demoralisiert die Gesellschaft. Denn die Menschen, die wirklich Ideale hatten und sich dafür prügeln ließen, haben 89 doch geglaubt, dass es Gerechtigkeit geben würde. Stattdessen sitzen die Kommunisten heute wieder im Parlament und feixen uns aus dem Fernseher entgegen! Die Kommunisten geben uns Ratschläge, wie wir unsere Demokratie demokratischer machen sollen. Die Kommunisten!"
Viele der einstigen Revolutionäre sehen die Situation ihres Landes heute nüchtern. Den ersten Bruch erlebten die Dissidenten, als sich Tschechien und die Slowakei 1993 trennten. Für Havel die wohl bitterste Niederlage. Der Aufstieg seines Widersachers Vaclav Klaus, des machtbewussten, EU-kritischen Ökonomen, hatte längst begonnen. Klaus sah die EU-Mitgliedschaft seines Landes von Beginn an kritisch. Immer wieder versucht der heutige Präsident, sein Land auf einen isolationistischen Kurs zu zwingen – weg von Europa und seinem Wertegefüge. Das "saubere Gesicht der Revolution" hat Flecken bekommen. Die politische Kultur ihres Landes, sagen einige, sei heute von Eitelkeit und Provinzialismus geprägt. Tatsächlich hat Tschechien ein dramatisches Jahr hinter sich: Die EU-Ratspräsidentschaft endete im Chaos, denn auf halber Strecke wurde die Regierung gestürzt, der mit populistischen Mitteln geführte Streit um den Lissabonvertrag lähmte die Politik über Monate. - Der Prager Politologe Jiri Pehe meint deshalb, für die junge Demokratie bleibe noch viel zu tun:
"Wir waren sehr schnell fähig, die demokratischen Institutionen aufzubauen. Aber die demokratische Kultur – die Toleranz, der Dialog, die Kompromissbereitschaft – die entwickelt sich viel langsamer. Heute, 20 Jahre nach dem Fall des Kommunismus, haben wir eine Situation, die ich eine 'Demokratie ohne Demokraten' nennen würde."
Eines aber würde bei allen Schwierigkeiten niemand bestreiten: Die fundamentalen Errungenschaften der Revolution bleiben. Und so blickt auch Tschechiens früherer Präsident, der Dichter und Dissident Vaclav Havel 20 Jahre nach der Samtenen Revolution versöhnt zurück:
"Das Grundsätzliche, was wir für unsere Gesellschaft wollten, waren Demokratie und Rechtsstaat, Freiheit und Marktwirtschaft. Und das alles ist tatsächlich wahr geworden, wenn auch mit großen Komplikationen."
Der kleine Hörsaal platzt aus allen Nähten. Rund 100 Studenten der Prager Filmakademie haben sich in die engen Bankreihen gequetscht, um mit Martin Mejstrik ins Gespräch zu kommen. Im November 1989 war er selbst noch Student und einer der führenden Köpfe der Protestbewegung.
Martin Mejstrik hat einen Dokumentarfilm mitgebracht. Bilder vom 17. November 1989: Vor 20 Jahren demonstrierten Zehntausende Studenten friedlich im Zentrum von Prag für gerechtere Studienbedingungen und gegen die politische Zensur an ihren Hochschulen. Sie wurden von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Das war der Beginn der Revolution.
Ob das Vorgehen der Polizisten je untersucht worden sei, möchte eine Studentin anschließend wissen.
"Ich habe keine genauen Zahlen zur Polizei, insgesamt wurden im Zusammenhang mit der kommunistischen Diktatur 122 Leute angeklagt. Acht von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, die jedoch nicht mehr als drei Jahre betrugen. Die meisten wurden vorzeitig entlassen."
Die Diskussion dauert einige Stunden, erst am späten Abend lassen die Studenten ihren Gast sichtlich beeindruckt ziehen:
Student Marek: "Einerseits läuft einem da ein kalter Schauer über den Rücken, und man sagt sich: Gott sei Dank leben wir nicht mehr in einer solch barbarischen Zeit! Anderseits finde ich, dass man damals etwas hatte, wofür es sich lohnte zu kämpfen. Dieses Treffen war für uns eine große Inspiration."
Studentin Alena: "Unsere kommunistische Vergangenheit wird bei uns meist nicht mit besonders viel Tiefgang diskutiert. Die Leute vergessen schnell, und das ist das größte Problem. Wenn wir vergessen, wer die Kommunisten waren, dann wird es wirklich schlimm."
Student Tomáš: "Der größte Fehler war, dass wir damals nicht mit den Kommunisten und ihren Funktionären abgerechnet haben. Sie machen bis heute weiter Politik. Ich hoffe, dass wir irgendwann die Kraft haben, das zu ändern. Und überhaupt wäre es gut, wenn wir mehr junge Leute in der Politik hätten, dann würde einiges anders laufen."
Martin Mejstrik ist mit dem Abend zufrieden. Das Erbe der Samtenen Revolution darf nicht in Vergessenheit geraten – das ist seine Mission. Auch für ihn selbst ist der Jahrestag ein Anlass, sich zu erinnern. Zum ersten Mal nach 20 Jahren besucht Mejstrik den Ort, wo seine Geschichte als Studentenführer angefangen hat: Er macht sich auf den Weg in die Theaterakademie in der Prager Altstadt. Ein wenig befremdet steht er vor dem frisch renovierten Barockgebäude in der schmalen Retezova-Gasse und findet den Eingang nicht. Wenigstens einer weiß hier noch Bescheid, schmunzelt er: der Pförtner:
Mejstrik zu Pförtner: "Guten Tag, wo finden wir denn den Raum, wo damals das Streikkomitee saß? Er war irgendwo im zweiten Stock."
Pförtner: "Geradeaus, dann links durch die blaue Glastür und die Treppe rauf, dann werden Sie ihn schon finden."
Mejstrik: "Hier dieser lang gezogene Saal – das ist er. Und dann hatten wir noch einen größeren Seminarraum, wo wir tagsüber saßen und gearbeitet haben, hier waren die Telefone und so weiter. Und überall lagen Schlafsäcke herum, wir haben hier ja auch geschlafen, immer höchsten zwei bis drei Stunden am Tag - und das zwei Monate lang. Ich verstehe überhaupt nicht, wie wir das ausgehalten haben."
Nach den Übergriffen der Polizei am 17.11. standen die Studenten unter Schock. Schon tags darauf besetzten sie die Universitätsgebäude und forderten Aufklärung.
"Schon am Samstag, also am 18. November, haben wir unsere erste Erklärung geschrieben, dass wir keinen Dialog mit der Macht mehr wollen. Unsere erste Forderung war, das Massaker auf der Narodní Trída, der Nationalstraße zu untersuchen. Und im Laufe des Sonntags haben wir weitere Forderungen formuliert, und zwar politische: den Rücktritt des Politbüros, die Auflösung der Kommunistischen Partei und freie Wahlen."
Den Dissidenten um Vaclav Havel, die seit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 gegen das Regime aufbegehrten, schlossen sich Zehntausende Studenten und Künstler an. Das war der Wendepunkt, sagt Simon Panek, der jüngste unter den damaligen Studentenführern:
"Die Kommunisten hatten schon bei vielen anderen Demonstrationen Gewalt eingesetzt. Der Unterschied war, dass der 17. November eine so große Studentendemonstration war. Die kommunistische Propaganda konnte diesmal einfach nicht mehr behaupten, das seien alles Westagenten, die unser schönes Leben hier stören sollten. Denn es waren 30.000 Studenten."
Am 19. November wurde unter Vaclav Havels Leitung das Bürgerforum gegründet. Und die Studenten um Panek und Mejstrik improvisierten eine abenteuerliche Kampagne, um die Arbeiter in den Fabriken und die Menschen in der Provinz zu mobilisieren:
"Unser erster Plan war, die Menschen außerhalb Prags zu erreichen. Deshalb haben wir jeden Tag Dutzende oder sogar Hunderte von Autos in die Provinz geschickt – mit Studenten, Schauspielern und Künstlern, die sich den Streiks angeschlossen hatten. Alle sollten erfahren, was am 17.11. in Prag geschehen war."
Die Ereignisse überschlugen sich: Am 25. November strömten 750.000 Menschen bei klirrender Kälte auf den Prager Letna-Hügel, um die Forderungen des Bürgerforums und seiner slowakischen Schwesterorganisation "Öffentlichkeit gegen Gewalt" zu unterstützen.
Die Kommunisten ergriffen regelrecht die Flucht. Am 10. Dezember zogen die Dissidenten in die neu gebildete Regierung unter dem Kommunisten Marian Calfa ein. Der leistete bei den Verhandlungen mit Havels Team keinen Widerstand mehr, erinnert sich Simon Panek.
"Das Überraschendste für mich war zu sehen, wie leicht es ist. Wir hatten die Bildung einer neuen Regierung gefordert, den Rücktritt von Präsident Husak, den Einzug von Kandidaten des Bürgerforums ins Parlament und die Wahl Havels zum Präsidenten. Und auf diese vier Hauptpunkte hat man sich praktisch innerhalb einer Stunde geeinigt. Calfa saß da nur und sagte, jaja, das machen wir so. 100 Abgeordnete austauschen – na klar. Es war unglaublich."
Innerhalb eines Monats hatte die Opposition den kommunistischen Machtapparat der CSSR demontiert. Am 29.12. wurde Vaclav Havel von der Bundesversammlung einstimmig zum Präsidenten gewählt. Der glanzvolle Schlusspunkt der Samtenen Revolution.
Wie die beiden einstigen Studentenführer Martin Mejstrik und Simon Panek, haben auch die übrigen Alt-89er in diesen Wochen einen vollen Terminplan. Plötzlich sind sie wieder gefragt. Die wenigsten von ihnen sind noch in der Politik aktiv. Da sind die Idealisten – wie auch andernorts in Europa - längst den Profis, den Experten der Macht, gewichen. Doch fast alle spielen bis heute eine herausragende Rolle in der tschechischen Gesellschaft – nicht anders als ihr einstiger Spiritus Rector Vaclav Havel. Martin Mejstrik hat sich zehn Jahre lang als parteiloser Abgeordneter im Senat für die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit eingesetzt, blieb aber ein argwöhnisch beäugter Einzelkämpfer; Simon Panek ist heute Chef der größten tschechischen Hilfsorganisation "Mensch in Not", die sich weltweit in humanitären Projekten engagiert, Vaclav Maly ist heute der Prager Weihbischof, Alexander Vondra war bis vor Kurzem noch Tschechiens Europaminister. Und dann ist da noch Michael Kocab: Der Rocksänger und Ex-Dissident ist dieses Jahr wieder in die Politik zurückgekehrt – als Minister für Minderheiten.
Wer den Mann bei seinen Rockkonzerten auf der Bühne herumspringen sieht, kann sich kaum vorstellen, dass er sich am Kabinettstisch besonders staatstragend benimmt. Da wird der Geist von 1989 wieder lebendig: Als Vaclav Havel und seine Mitstreiter – eine bunte Truppe von Schauspielern, Schriftstellern und Musikern - in die Prager Burg einzogen, war es eine Art Landung auf dem Mond. Die kalte Machtzentrale der Kommunisten füllte sich mit Leben. Um sich in dem Labyrinth der Flure und Säle zurechtzufinden, waren die Dissidenten mit Wollfäden unterwegs, die ihnen immer wieder den Weg zurück wiesen.
Michael Kocab gehörte 1989 zum engsten Kreis um Havel. 1991 verhandelte er mit den sowjetischen Generälen über den Abzug der russischen Soldaten. Ein junger Typ in Jeans und T-Shirt und die versteinert wirkenden Sowjets: Dieses Bild hat sich ins Gedächtnis der Tschechen eingebrannt.
"Ich war der Vorsitzende der Kommission, die den Abzug der russischen Truppen kontrollieren sollte, und das war das größte Abenteuer meines Lebens. Aus historischer Sicht meine größte Aufgabe. Wenn eine Besatzungsarmee abziehen muss, die einem 20 Jahre lang das Leben schwer gemacht hat, und man selbst steht an der Spitze dieses Prozesses - das ist nicht zu übertreffen. Damals hat sich Politik gut angefühlt, egal wohin ich kam, überall gab es große Unterstützung. Davon kann ich heute nur träumen."
Für Michael Kocab ist der Prager Letna-Hügel über den Ufern der Moldau der wichtigste Ort der Erinnerung. "Erst als die Proteste hier oben angekommen waren", sagt er, "waren die Kommunisten faktisch entmachtet." Jetzt entsteht hier ein gigantischer Autotunnel. Die größte Baustelle Tschechiens – das passt, meint der Minister:
"Unsere Demokratie ist eine Dauerbaustelle. Und der riesige Tunnel hier wird schneller fertig sein, als wir eine wahrhaftige Demokratie bekommen und uns von Klientelismus und Korruption befreien. Die 20-jährige Entwicklung zeigt, dass das Erbe von Sozialismus und Totalitarismus tiefer in uns steckt, als wir erwartet haben."
Michael Kocab hat auch heute kein Problem damit, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Er ist ein bunter Vogel im Prager Politikbetrieb, das findet auch er selbst.
"Ich kombiniere Politik und Musik - wir spielen weiter, ich hüpfe weiter auf der Bühne herum, und es ist mir völlig egal, ob irgendwer das komisch findet. Wenn ich auftrete, werde ich als Musiker wahrgenommen. Und im Konzert interessiert es niemanden, ob ich Minister bin oder nicht. Jetzt kümmere ich mich als Minister für Menschenrechte um die Relikte aus dem Jahr 1989 –, Menschenrechte und Minderheiten, das sind zwei wichtige Themen. Ich verstehe das als Dienst am Volk, ich brauche weder Geld noch Ruhm. Berühmter werde ich ohnehin nicht mehr."
Tschechiens originellster Minister hat nicht resigniert. Er verficht die Ideale von damals und sieht die Probleme von heute.
"Wir müssen zur Botschaft von Václav Havel zurückkehren. Havel wusste, dass mit dem Umbruch vom totalitären Sozialismus zur Demokratie auch eine Wiederkehr geistiger Werte kommen muss. Diesen Prozess hat unser jetziger Präsident Václav Klaus mit seinem Ausspruch 'das Geld steht an erster Stelle' vernichtet - ein mörderischer Satz."
Dem Prager Bischof Vaclav Maly spricht der Minister aus der Seele. Die beiden waren 1989 enge Weggefährten. Auch Maly, damals ein junger Priester, gehörte zum harten Kern der Dissidenten. Er moderierte im November 1989 die großen öffentlichen Versammlungen auf dem Wenzelsplatz und ist für viele Tschechen bis heute die Stimme der Revolution geblieben:
Tschechien ist das atheistischste Land Europas. Doch wenn Vaclav Maly predigt, ist die Kirche voll. Heute hält er die Messe in einer nüchternen Betonkirche in einer Prager Plattenbausiedlung. Er spricht von Toleranz, Freiheit und Verantwortung und beklagt die wachsende soziale Kluft im Land – das alles klingt noch ein bisschen wie damals.
Den Rebellen sieht man dem Bischof nicht mehr an, doch wenn er über die aktuelle tschechische Politik spricht, nimmt er kein Blatt vor den Mund. Ein entscheidendes Thema für ihn – und für alle anderen früheren Dissidenten - ist ihr ewiger Gegenspieler Vaclav Klaus mit seiner umstrittenen Europapolitik:
"Ich kritisiere Vaclav Klaus, ich verstehe das nicht, er ist ein gebildeter Mann, aber er ist ein Demagoge. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist eine Chance für uns, ein bisschen mit zu entscheiden und sich nicht auszuschließen aus diesem Bund. Ich muss sagen, wesentlich bin ich nicht mit Präsident Vaclav Klaus einverstanden."
Dabei sind der Präsident und der Bischof Nachbarn. Das erzbischöfliche Palais, in dem Maly sein Büro hat, befindet sich direkt am Prager Burgplatz, neben dem Amtssitz von Vaclav Klaus. Nicht unbedingt die beste Nachbarschaft, lächelt Maly.
"Wirklich, das ist peinlich. Er ist Präsident und er muss das Interesse des ganzen Staates und der ganzen Gesellschaft verteidigen. Nicht nur seine Privatanschauungen."
Dem würden wohl alle früheren Dissidenten zustimmen – nicht nur der musikalische Minister Michel Kocab:
"Václav Klaus erschreckt die Leute immer wieder damit, dass wir durch die EU angeblich unsere Freiheit verlieren. Natürlich erfordert jeder Bund auch den Verzicht auf ein Stück Freiheit – zugunsten höherer Werte. So ist es ja auch in der Ehe: Sie können sich nicht mehr so frei auf Partys bewegen und die Sau rauslassen wie früher. Dafür haben sie Familie und Kinder, und das Leben zeigt Ihnen wichtigere Werte. Ähnlich ist es mit der Europäischen Union: Wir verzichten auf etwas – zum Beispiel inkompetente Entscheidungen zu den Menschenrechten und der Sozialpolitik zu treffen – dafür bekommen wir Know-How und Impulse für unsere weitere Entwicklung."
Und in einem weiteren Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Man hat 1989 auch Fehler gemacht. Der Entscheidende war, mit den Kommunisten nicht härter ins Gericht zu gehen, sagt der frühere Studentenführer Simon Panek:
"Das entsprach nun mal der Stimmung in der Gesellschaft damals: Lasst sie laufen. Aber das war ein entscheidender Fehler. Nicht weil die Kommunisten nicht bestraft worden sind, und auch nicht, weil sie bei uns immer noch im Parlament sitzen. Der entscheidende Aspekt ist, dass der Gerechtigkeitssinn der Bürger dadurch gelitten hat - durch diese große Geste des Verzeihens. Und das war ein Fehler."
Martin Mejstrik, der in diesen Wochen mit jungen Leuten über die damaligen Ereignisse diskutiert, sieht das noch drastischer:
"Dass wir nicht fähig waren, die Partei aufzulösen und zu sagen, dass sie eine verbrecherische Organisation war, das demoralisiert die Gesellschaft. Denn die Menschen, die wirklich Ideale hatten und sich dafür prügeln ließen, haben 89 doch geglaubt, dass es Gerechtigkeit geben würde. Stattdessen sitzen die Kommunisten heute wieder im Parlament und feixen uns aus dem Fernseher entgegen! Die Kommunisten geben uns Ratschläge, wie wir unsere Demokratie demokratischer machen sollen. Die Kommunisten!"
Viele der einstigen Revolutionäre sehen die Situation ihres Landes heute nüchtern. Den ersten Bruch erlebten die Dissidenten, als sich Tschechien und die Slowakei 1993 trennten. Für Havel die wohl bitterste Niederlage. Der Aufstieg seines Widersachers Vaclav Klaus, des machtbewussten, EU-kritischen Ökonomen, hatte längst begonnen. Klaus sah die EU-Mitgliedschaft seines Landes von Beginn an kritisch. Immer wieder versucht der heutige Präsident, sein Land auf einen isolationistischen Kurs zu zwingen – weg von Europa und seinem Wertegefüge. Das "saubere Gesicht der Revolution" hat Flecken bekommen. Die politische Kultur ihres Landes, sagen einige, sei heute von Eitelkeit und Provinzialismus geprägt. Tatsächlich hat Tschechien ein dramatisches Jahr hinter sich: Die EU-Ratspräsidentschaft endete im Chaos, denn auf halber Strecke wurde die Regierung gestürzt, der mit populistischen Mitteln geführte Streit um den Lissabonvertrag lähmte die Politik über Monate. - Der Prager Politologe Jiri Pehe meint deshalb, für die junge Demokratie bleibe noch viel zu tun:
"Wir waren sehr schnell fähig, die demokratischen Institutionen aufzubauen. Aber die demokratische Kultur – die Toleranz, der Dialog, die Kompromissbereitschaft – die entwickelt sich viel langsamer. Heute, 20 Jahre nach dem Fall des Kommunismus, haben wir eine Situation, die ich eine 'Demokratie ohne Demokraten' nennen würde."
Eines aber würde bei allen Schwierigkeiten niemand bestreiten: Die fundamentalen Errungenschaften der Revolution bleiben. Und so blickt auch Tschechiens früherer Präsident, der Dichter und Dissident Vaclav Havel 20 Jahre nach der Samtenen Revolution versöhnt zurück:
"Das Grundsätzliche, was wir für unsere Gesellschaft wollten, waren Demokratie und Rechtsstaat, Freiheit und Marktwirtschaft. Und das alles ist tatsächlich wahr geworden, wenn auch mit großen Komplikationen."